Eine anglikanische Gemeindegründung in Deutschland?

Artikel von Klaus Hickel
20. Februar 2024 — 10 Min Lesedauer

„Ein guter Theologe will eine Gegenposition mindestens so gut verstehen wie der, der sie hält!“ Seit meinem Theologiestudium am Moore Theological College in Sydney begleitet mich dieser bekannte Ausspruch, der entscheidende Auswirkungen für die Einheit unter Christen hat. Erst wenn eine Gegenposition durch verantwortliche Exegese eindeutig aus Gottes Wort widerlegt worden ist, darf unsere Einheit darüber aufgekündigt werden.[1] Dieses Verständnis von christlicher Einheit liegt letztlich auch unserer Einheit innerhalb von Evangelium21 zugrunde:

„Evangelium21 ist ein Netzwerk von Christen, die ihren Glauben fest auf Jesus Christus gründen. Obwohl wir verschiedenen Kirchen und Gemeinden angehören, verbindet uns das uneingeschränkte Vertrauen in die Heilige Schrift sowie eine reformatorisch ausgerichtete Theologie.“[2]

Kostbare Einheit

Zwar ist Evangelium21 nicht zuletzt das Ergebnis der unübersehbaren (und tragischen) Auflösungserscheinungen bestehender protestantischer Kirchen und Gemeindeverbände, die immer weniger theologische Strahlkraft besitzen. In der neuen Besinnung auf das, was uns über die bestehenden Strukturen hinweg verbindet, liegt jedoch auch beträchtliches Potential für eine tiefergehende Einheit, das es zu heben gilt. Diese anzustrebende Einheit fußt auf einer klar „reformatorisch ausgerichteten Theologie“, lässt aber über die eigene Position hinaus auch andere zu, sofern diese exegetisch verantwortlich hergeleitet sind. Diese Einheit anzustreben, schulden wir unserem Herrn, der intensiv für sie betete (Joh 17,20–21):

„Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins werden, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins werden, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“

Christliche Einheit ist in Christus begründet (vgl. Eph 2,13ff). Christus hat diese Einheit teuer mit seinem Blut erkauft, daran allein erweist sich schon ihr unermesslicher Wert. Sie ist jedoch kein Selbstzweck. In ihr liegt auch beträchtliche missionarische Wirkkraft. Angesichts der nochmaligen Wiederholung in Johannes 17,23 wird klar, welch hohe Bedeutung der Herr Jesus dem missionarischen Aspekt beimisst – für bestehende Gemeinden, aber auch für angehende Gemeindegründungen.

Zweitrangige Fragen

Sicherlich gibt es unterschiedliche Weisen, wie dieses Streben nach Einheit umgesetzt werden kann. In meinem nunmehr über zehnjährigen Pastorendienst in der anglikanischen Leipzig English Church (LEC) habe ich aus nächster Nähe eine bemerkenswerte christliche Einheit miterleben dürfen: Das Pastorenteam besteht aus zwei Anglikanern und einem Baptisten. Drei unserer sieben Ältesten teilen eine credobaptistische, vier eine pädobaptistische Überzeugung. Ähnlich verhält es sich in der gesamten Gemeinde. Dabei ist diese Einheit weder billig noch selbstverständlich. Sie gründet nicht auf theologischer Beliebigkeit und stellt auch keinen Ausverkauf eigener Überzeugungen dar. Manchmal führen diese Differenzen zu Diskussionen, die anschließend gegenseitige Vergebung und Versöhnung benötigen. Auf beiden Seiten rätselt man gelegentlich über die vermeintliche „Uneinsichtigkeit des anderen“. Was LEC aber als Ortsgemeinde über alle zweitrangigen Differenzen hinweg verbindet, ist „das uneingeschränkte Vertrauen in die Heilige Schrift sowie eine reformatorisch ausgerichtete Theologie.“

„In einem weitgehend entchristianisierten ostdeutschen Umfeld können wir es uns schlicht und einfach nicht leisten, eine ohnehin verschwindend geringe Anzahl von Christen über zweitrangige Fragen mit mehreren gut vertretbaren Positionen zu fragmentieren.“
 

Diese Einheit ist nicht umsonst, und das gilt in besonderem Maße innerhalb derselben Gemeinde. Auch hier sind wir nicht weniger aufgerufen, die kostbare Einheit des Leibes Christi durch respektvollen Umgang mit biblisch vertretbaren Gegenpositionen zu schützen. Das ist auch eines unserer Ziele für die anstehende Gemeindegründung der LEC im Herbst 2024. Als Pastor habe ich das Privileg, das Gründungsteam der Christusgemeinde in Markkleeberg zu leiten.[3] Schnell wurde uns klar, dass die bemerkenswerte Einheit in der LEC ein kostbares Gut darstellt, das wir auch in der Christusgemeinde anstreben und bewahren wollen. Auch der missionarische Blickpunkt spielt dabei eine Rolle: In einem weitgehend entchristianisierten ostdeutschen Umfeld können wir es uns schlicht und einfach nicht leisten, eine ohnehin verschwindend geringe Anzahl von Christen über zweitrangige Fragen mit mehreren gut vertretbaren Positionen zu fragmentieren. Dies gilt nicht nur für das Gründungsteam, sondern auch für schon vor Ort lebende Christen, die einen Beitritt zur Gemeinde erwägen. Gleichsam gilt es aber auch für frisch bekehrte Christen im Zuge der Gemeindegründung. Gerade bei ihnen kann die anfangs erwähnte Maxime einen maßgeblichen Beitrag zur christlichen Reife leisten. Gleichzeitig wird sie vermutlich zu unterschiedlichen theologischen Folgerungen führen, die wir respektieren wollen.

Stabilität und Unabhängigkeit

Wenn in der Gemeindegründung also eine gewisse Heterogenität innerhalb legitimer reformatorischer Überzeugungen zu erwarten ist, wie kann ihre Stabilität gewährleistet werden? Nach meiner Einschätzung hat die LEC in dieser Hinsicht sehr von ihrer anglikanischen Prägung profitiert. Aus theologischer Sicht sind die 39 Glaubensartikel unverkennbar reformatorisch geprägt.[4] Historisch betrachtet ist die Church of England jedoch von Beginn an stark durchmischt gewesen. In der Anfangszeit durchlief sie sowohl Phasen mit starkem reformatorischem Schwerpunkt als auch eine stürmische Gegenreformation in vollem Umfang. Auch wenn sich letztlich die reformatorische Theologie der 39 Glaubensartikel sowie des Book of Common Prayer durchsetzten, forcierten teils gewaltsame und blutige Auseinandersetzungen eine vergleichsweise große theologische Großzügigkeit. Negativ betrachtet entstand daraus in Teilen der Kirche die heute unübersehbare Beliebigkeit im Umgang mit der Schrift, die zur Entstehung anglikanischer Parallelstrukturen unter anderem im Vereinigten Königreich und in Europa führten. Das positivere Ergebnis ist, wie zuvor im Fall der LEC beschrieben, eine „großzügige Orthodoxie“, die sich innerhalb der Grenzen der starken reformatorischen Ausrichtung bewegt. Historisch betrachtet ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in einer anglikanischen Gemeinde pädo- und credobaptistische Pastoren gemeinsam im Reich Gottes dienen.[5]

„Der Einblick in Gottes souveränes Wirken auf allen Erdteilen ist eine große Ermutigung für unser kleines Senfkorn namens Christusgemeinde.“
 

Angesichts dessen wird es kaum überraschen, dass die Gemeindegründung der neu ins Leben gerufenen Anglican Convocation in Europe (ACE) angehören wird.[6] Ein weiterer Grund für diese Entscheidung ist das gesunde Verhältnis zwischen Ortsgemeinde und weltweiter Kirche, das in der anglikanischen Ekklesiologie zum Ausdruck kommt. Innerhalb von ACE sind Ortsgemeinden weitestgehend unabhängig. Sie entscheiden eigenständig über ihren jeweiligen finanziellen Beitrag zur Gemeinschaft[7] und entsenden eigene Vertreter in die regionalen Entscheidungsgremien. Notfalls kann eine Gemeinde jederzeit aus dem Verbund austreten. Überdies kann die Christusgemeinde als Teil von ACE selbstständig ihre Gemeindestruktur wählen. In unserem Fall besteht sie aus einer Ältestenschaft, regelmäßigen Gemeindeversammlungen, Bereichsleitern sowie einer nach anglikanischem Verständnis angepassten Gemeindemitgliedschaft. Positive Elemente aus freikirchlichen Kirchenordnungen können einfließen. Diese weitgehende Autonomie schützt Ortsgemeinden vor übergriffigen Institutionen und Verbänden, die leider auch im christlichen Bereich vorzufinden sind.

Überregionale Verbundenheit

Gleichzeitig kommt durch die Zugehörigkeit zu ACE die Überzeugung zum Ausdruck, dass keine Gemeinde im Vakuum existiert. Ortsgemeinden stehen immer in Beziehung zueinander und zur globalen christlichen Gemeinschaft. Entscheidungen vor Ort wirken auf andere christliche Gemeinschaften und umgekehrt. Die Einbindung in ACE als reformatorisch geprägtem Verbund geben den daraus entstehenden Beziehungen Struktur und Form, was beiden Seiten dient. Durch ACE ist die Christusgemeinde Teil eines deutschsprachigen und eines europäischen Gemeindenetzwerks. Wöchentliche Gebetszeiten mit anderen Leitern und Pastoren schaffen nicht nur Einheit; sie vertiefen auch Beziehungen, in denen Rechenschaft möglich wird. Nicht zuletzt ist die Christusgemeinde durch ACE in das globale Gafcon-Netzwerk eingebunden, das mit über 70 Millionen Mitgliedern die große und bekenntnistreue Mehrheit der anglikanischen Gemeinschaft weltweit abbildet. Der Einblick in Gottes souveränes Wirken auf allen Erdteilen ist eine große Ermutigung für unser kleines Senfkorn namens Christusgemeinde.

„Der Herr Jesus hat uns das Streben nach Einheit selbst auferlegt: durch sein hohepriesterliches Gebet, aber mehr noch, durch sein Kreuz.“
 

Auch soll nicht verschwiegen werden, dass unser Bischof ein wichtiges Bindeglied in diesen regionalen und überregionalen Beziehungen darstellt. Nicht wenige Leser werden negative Assoziationen mit diesem kirchlichen Amt verbinden, und das leider nicht ohne Grund. Ein guter Bischof jedoch, der sich selbst der Schrift unterordnet und für reformatorische Überzeugungen eintritt, gewährleistet die „vertikale“ Einheit zwischen globaler Gemeinschaft und Ortsgemeinde. Durch die Einsetzung geprüfter Pastoren stellt der Bischof sicher, dass in Ortsgemeinden schriftgemäß und der reformatorischen Lehre entsprechend gelehrt wird, wie in allen Gemeinden an allen Orten. So schützt er Gemeinden vor Irrlehrern und übergriffigen Leitern. Dabei unterscheidet sich das „relationale Episkopat“ sehr von einem rein institutionell vorgegebenen, monarchischen Machtgefälle. Der Bischof gilt als „Erster unter Gleichen“, jedoch unter Vorbehalt seines „uneingeschränkten Vertrauens in die Heilige Schrift sowie einer reformatorisch ausgerichteten Theologie“. Durch diese gemeinsame Basis wird gegenseitige Unterstützung und Ermutigung, Aufsicht und Rechenschaftspflicht in einer vertrauensvollen Beziehung zwischen weltweiter Kirche und Ortsgemeinde ermöglicht.[8]

Der Herr Jesus hat uns das Streben nach Einheit selbst auferlegt: durch sein hohepriesterliches Gebet, aber mehr noch, durch sein Kreuz. Das grundsätzliche Streben nach dieser Einheit ist nicht verhandelbar (vgl. 1Kor 1,13). Sicherlich gibt es unterschiedliche Weisen, wie wir Christen vor Ort und in unseren Gemeinden schriftgemäße Einheit zum Ausdruck bringen, ohne dabei den Eindruck von Beliebigkeit zu vermitteln. In der LEC hat der Herr diese – manchmal hart umkämpfte – Einheit mittlerweile über ein Vierteljahrhundert geschenkt. Die Konsequenz daraus ist nun eine weitere anglikanische Gemeindegründung in Ostdeutschland – dieses Mal in deutscher Sprache! Uns ist dabei völlig klar, dass das hohe Ziel dieser Einheit kein Menschenwerk sein kann. Allein der Herr in seiner Weisheit, Macht und Gnade kann sie durch den Heiligen Geist bewirken. Ich bin dir deshalb überaus dankbar, wenn du zum Abschluss einen Moment im Gebet vor dem Herrn der Herren verbringst, in dem wir alle eins sind. Bete, dass er diesen Wunsch nach biblischer Einheit inmitten der Christusgemeinde erfüllt – „damit sie vollkommen eins werden und die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast“. Soli Deo Gloria!


1Und auch dann nicht ohne Berücksichtigung einer „theologischen Triage“.

2Vgl. https://www.evangelium21.net/ueber-uns.

3Die Webseite befindet sich im Aufbau und kann demnächst unter https://cg-im.de gefunden werden.

4Tatsächlich ist die Bezeichnung der Theologie der Church of England als „anglikanisch“ potentiell irreführend, weil ihre Entwicklung keine englische Eigenschöpfung des Reformators Thomas Cranmer und seiner Mitstreiter darstellt. Sie wurde von Kontinentalreformern wie Martin Luther und Johannes Calvin maßgeblich mitgeprägt, wie auch von renommierten internationalen Theologen wie dem Italiener Peter Martyr Vermigli oder dem Straßburger Reformator Martin Bucer.

5Der Transparenz halber sollte ich jedoch ergänzen, dass Ordination auch die Zustimmung zum (reformierten) Verständnis der Kindestaufe voraussetzt.

6Ein anglikanischer Verbund außerhalb der Church of England, der vom bekenntnistreuen globalen Netzwerk Gafcon ins Leben gerufen wurde.

7Auf Vorschlag der Diözese.

8Für eine leicht verständliche Begründung des Bischofsamts eignet sich als kurze Einführung Evangelicals and their Bishops von Dr. Lee Gatiss. Auch das kurze Buch Biblical Bishops von Peter Blair ist hilfreich. Ein umfassendes Verständnis wird von Martin Davie hier vermittelt.