Christentum und funktionaler Liberalismus

Artikel von Doug Ponder  und Bryan Laughlin
16. Februar 2024 — 24 Min Lesedauer

Im Sommer 2023 stellte eine Gruppe von Kardinälen aus allen Kontinenten dem obersten Pontifex der katholischen Kirche eine Reihe von dubia (der lateinische Begriff für „Zweifel“ meint hier Fragen, die aus bestimmten Sorgen bzw. Vorbehalten entstehen). Die dubia betrafen eine Reihe drängender zeitgenössischer Fragen – von der Möglichkeit der Frauenordination bis hin zur Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Wie ein Kommentator es ausdrückte, wollten die Kardinäle letztlich wissen: „Wird die römisch-katholische Kirche denselben Weg einschlagen wie der liberale Protestantismus – die Heilige Schrift an die zeitgenössische Kultur anpassen, Frauen ordinieren und die Legitimität gleichgeschlechtlicher Partnerschaften akzeptieren?“ Die ausweichende Antwort des Papstes veranlasste die Kardinäle, die dubia so umzuformulieren, dass sie mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels stand eine Reaktion noch aus.

Anfang des Jahres 2023 stimmte die Church of England dafür, die Segnung von gleichgeschlechtlichen „Ehen“ und zivilen Partnerschaften zu erlauben.[1] Dieser Schritt löste eine scharfe Reaktion der Global South Fellowship of Anglican Churches (GSFA) aus, die diese Entwicklung als eine schismatische Entscheidung verurteilte, „wodurch die Gemeinschaft mit den Provinzen gebrochen wird, die dem historischen biblischen Glauben treu bleiben.“ Darüber hinaus distanzierten sich die Bischöfe der GSFA vom Erzbischof von Canterbury und erkannten ihn nicht mehr als „Erster unter Gleichen“ an. Außerdem riefen sie öffentlich dazu auf, ihn in Liebe zu ermahnen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks veranstaltete derweilen Andy Stanley, der de facto-Bischof der evangelikalen Megakirche, im September 2023 die Embracing the Journey’s Unconditional Conference. Die Veranstaltung wurde als „für Eltern von LGBTQ+-Kindern und für Gemeindeleiter, die Wege zur Unterstützung von Eltern und LGBTQ+-Kindern in ihren Gemeinden suchen“ beworben. Auf der Konferenz traten Redner auf, die entweder selbst in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben oder andere in solchen Beziehungen unterstützen. Während Stanley sich zur biblischen Lehre über Homosexualität bekannte – „Es war damals eine Sünde, es ist heute eine Sünde“ –, untergrub er diese Position gleichzeitig, indem er Justin Lee und Brian Nietzel, „zwei verheiratete schwule Männer“, in ihrem Lebenswandel bestätigte, indem er sie als treue Nachfolger Christi bezeichnete. Offenbar glaubt Stanley, dass treue Nachfolger Christi – entgegen den zahlreichen ernsten Warnungen der Schrift (vgl. z.B. Röm 1,26–27.32; 1Kor 6,9–10) – unbußfertig in offenkundigen Schändlichkeiten vor dem Herrn verharren können (vgl. 3Mose 18,22; 20,13).

Was sollen wir von diesem rasanten, konfessionsübergreifenden Abfall halten?[2] Die Tatsache dieses Phänomens ist ein deutliches Beispiel für die jüngste Warnung der Kulturreporterin Megan Basham: „Sie haben dieses Thema vielleicht vermeiden wollen, aber Sie können ihm nicht länger aus dem Weg gehen. [Die LGBT-Ideologie] hält Einzug in deine Kirche – ganz gleich, für wie gefestigt du sie hältst.“[3] Wer das nicht erkennt, ignoriert die Entwicklungen unserer Zeit. Die Ursache für dieses Phänomen ist jedoch alles andere als neu. In der Tat ist der „Weg“, der in diese Sackgasse führt, so ausgetreten, dass man ihn vom Weltraum aus sehen kann.

Kein neues Phänomen: Christentum und Liberalismus

J. Gresham Machen schrieb seinen Klassiker Christentum und Liberalismus[4] genau ein Jahrhundert bevor Katholiken, Anglikaner und Evangelikale darin versagten, ein biblisches Verständnis von Sexualität aufrechtzuerhalten.[5] Dort heißt es: „[Der] moderne Hauptgegner des Christentums ist der ‚Liberalismus‘. Eine Untersuchung seiner Lehren wird aufzeigen, dass sie denen des Christentums in jedem nur denkbaren Punkt widersprechen.“[6]

Machen sagt nicht, dass das liberale Christentum eine schreckliche Perversion des Glaubens ist; er sagt, dass der Liberalismus ein ganz anderer Glaube ist. Das liberale „Christentum“, um eine Analogie zu bemühen, ist eher ein Virus als eine kranke oder verwundete Form des Leibes Christi. Denn ein Leib bleibt ein Leib, auch wenn er krank ist oder (selbstverschuldet) verletzt wurde. Ein Virus hingegen ist eine fremde Entität, die den Leib lediglich zur eigenen Selbsterhaltung benutzt. Wenn eine christliche Gemeinde ein Leib ist, dann ist der Liberalismus also ein Virus.

Diese Unterscheidung wird besonders deutlich, wenn Machen „die Trennung zwischen der Kirche von Rom [zu seiner Zeit] und dem evangelischen Protestantismus“ anspricht. Protestanten und Katholiken haben erhebliche Meinungsverschiedenheiten und betrachten die jeweils andere Gruppe von Gläubigen als signifikant krank oder beeinträchtigt. Dennoch schreibt Machen: „Und doch ist das gemeinsame Erbe der römisch-katholischen Kirche und der gläubigen Protestanten groß, wenn man etwa an die Aufrechterhaltung der Autorität der Heiligen Schrift oder die Akzeptanz der alten Bekenntnisse denkt. Wir möchten auf keinen Fall die Unterschiede verdecken, die uns von Rom trennen, die Kluft ist tatsächlich groß. Aber so groß sie auch sein mag, scheint sie doch fast winzig im Vergleich zu dem unendlichen Abgrund, der uns von manchen Pfarrern unserer eigenen Kirche trennt. Die Kirche von Rom repräsentiert zwar eine pervertierte Form des Christentums, der naturalistische Liberalismus aber hat mit dem Christentum überhaupt nichts mehr zu tun.“[7]

Das Christentum beruht auf der Bibel. Es gründet sein Denken und sein Leben auf die Schrift. Der Liberalismus hingegen beruht auf wechselhaften Emotionen sündiger Menschen.
 

Machen hebt viele Gründe hervor, warum „sich der Liberalismus so vom Christentum unterscheidet“[8], aber der zentrale Grund ist eine Frage der Autorität: „Das Christentum beruht auf der Bibel. Es gründet sein Denken und sein Leben auf die Schrift. Der Liberalismus hingegen beruht auf wechselhaften Emotionen sündiger Menschen.“[9] Mit „wechselhaften Emotionen“ meint Machen die subjektiven Einschätzungen der Menschen, die vom Zeitgeist hin und her geworfen werden (vgl. Eph 4,14). Für Liberale gilt also: „Nicht Jesus ist hier die wahre Autorität, sondern der moderne Prozess, durch den die Selektion der Worte Jesu vonstattengegangen ist. Bestimmte Teile der Bergpredigt werden nicht deshalb isoliert und akzeptiert, weil sie Lehre Jesu sind, sondern weil sie mit modernen Ideen übereinstimmen.“[10]

Machen kommt zu dem Schluss: „Die wahre Autorität liegt für den Liberalismus nur im ‚christlichen Bewusstsein‘ oder in ‚christlicher Erfahrung‘.“[11] Das wirft die Frage auf, wie ein christlicher Konsens dann jemals hergestellt werden konnte. Die Liberalen berufen sich nur ungern auf die Kirchengeschichte, da das ein entschieden unmodernes Urteil untermauern und ihre radikale Auffassung von Gewissensfreiheit übertrumpfen würde. Machen schreibt also: „Die einzige Autorität kann somit nur das individuelle Erlebnis sein. Wahrheit kann nur das sein, was dem Einzelnen ‚hilft‘. Solch eine Autorität ist offensichtlich überhaupt keine, denn individuelle Erlebnisse sind mannigfaltig. Wenn Wahrheit nur als etwas angesehen wird, was zu einer bestimmten Zeit gerade funktioniert, hört sie auf, Wahrheit zu sein. … Der Christ dagegen findet in der Bibel das wahrhaftige Wort Gottes.“[12]

Christentum und funktionaler Liberalismus

Während Machen über das Christentum und den Liberalismus schrieb, schreiben wir, dazu ergänzend, eine Art Anhang über das Christentum und den funktionalen Liberalismus.[13] Wir nennen ihn „funktionalen Liberalismus“ (und nicht Liberalismus simpliciter), weil diese Sorte des Virus im Gegensatz zur Bedrohung zu Machens Zeiten nicht die gleichen Symptome aufweist (auch wenn er eine ähnliche Ursache hat). Machens Liberale waren Modernisten, die offen die Zuverlässigkeit der Bibel, die Realität des Übernatürlichen, die Notwendigkeit des Sühneopfers und die physische Auferstehung Jesu Christi von den Toten leugneten. Wie die berühmte Karikatur von E.J. Pace aus dem Jahr 1922 illustriert, vollzog sich die Abkehr der Liberalen vom Glauben oft in Etappen, wobei die Wahrhaftigkeit der Bibel als Erstes infrage gestellt wurde. Es gibt noch einige wenige Liberale dieser Art. Aber diejenigen, die an dem Glauben festhalten, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist (vgl. Jud 3), sind – zum großen Teil dank Machen und seinen Erben – nicht versucht, sie als Teil des Leibes Christi anzuerkennen (vgl. 1Joh 2,19).

Das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist von einer etwas anderen Art. Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt – sei es, indem er ihre Bedeutung herunterspielt, sie uminterpretiert oder ihre logischen Implikationen ablehnt. Wir sind nicht die Ersten, die diese Beobachtung machen. Irgendwo in den Annalen von D.A. Carsons gewaltigem Werk[14] findet sich ein Vortrag, in dem er eine eindringliche Warnung ausspricht: „Die Zukunft des Liberalismus in den amerikanischen Gemeinden wird nicht so aussehen wie vor einem Jahrhundert. In konservativen Seminaren und Gemeinden wird es keine schamlose Verleugnung zentraler Lehrsätze geben, um die in der Vergangenheit Schlachten ausgetragen wurden. Stattdessen werden dort Leute auftreten, die behaupten, die Lehren zu bekräftigen, während sie sie durch subtile, aber substanzielle Neuinterpretationen untergraben.“[15]

„Während der Liberalismus eine offene Verleugnung zentraler christlicher Lehren beinhaltete, besteht das Wesen des funktionalen Liberalismus darin, dass er den Lehrbekenntnissen auf dem Papier zustimmt, sie aber in der Praxis untergräbt.“
 

Die alten Liberalen hatten wenigstens den Mut zu sagen: „Die Bibel ist falsch, die Dreifaltigkeit ist Unsinn, Jesus ist nicht göttlich, am Kreuz wurde nicht stellvertretend gesühnt und die Auferstehung hat nicht stattgefunden.“ Die neuen Liberalen – d.h. die funktionalen Liberalen – sind in diesem wesentlichen Punkt noch schlimmer: Sie behaupten, mit dem Glauben übereinzustimmen, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist, während sie gleichzeitig seine Lehren zu bedeutungslosen Aussagen umdeuten oder sie ignorieren, während sie mit ihrer Agenda weitermachen.

Ein Paradebeispiel: Der Fall von Andy Stanley

Das Glaubensbekenntnis von Andy Stanleys Northpoint Community Church ist ein Beispiel für das, was wir hier beschrieben haben. Es ist alles da, was man erwartet, einschließlich einer klaren Aussage, dass die Bibel „inspiriert“ und „ohne Irrtum“ ist. Aber, wie Sam Allberry in seinem Bericht über Stanley und die Unconditional Conference hervorhebt:

„Homosexualität wird [in 1. Korinther 6,9–11] als eine der Verhaltensweisen aufgeführt, die für ein Leben charakteristisch sind, das das Reich Gottes nicht ererben wird. Und obwohl der Hinweis darauf, dass Homosexualität nicht die einzige Form derartiger Sünden ist, völlig richtig ist, so ist sie doch – eindeutig und unvermeidlich – eine von ihnen. Es handelt sich um ein Verhalten, das Buße erfordert. Die Ewigkeit steht auf dem Spiel. Zu sagen oder auch nur zu implizieren, dass es möglich ist, in dieser Sünde zu verharren, bedeutet nichts anderes, als Menschen in die Hölle zu schicken – und ist ein großes Versagen in Sachen pastoraler Verantwortung. Man kann nicht mit Paulus sagen: ‚Darum bezeuge ich euch am heutigen Tag, dass ich rein bin von aller Blut. Denn ich habe nichts verschwiegen, sondern habe euch den ganzen Ratschluss Gottes verkündigt‘ (Apg 20,26–27). Aber es gibt eine Dimension, die über pastorales Versagen hinausgeht. In seinem Brief an die Gemeinde in Thyatira tadelt Jesus nicht nur die Person, deren Lehre sein Volk in die sexuelle Sünde führt; er tadelt auch die Gemeinde, die eine solche Lehre toleriert: ‚Aber ich habe ein weniges gegen dich, dass du es zulässt, dass die Frau Isebel, die sich eine Prophetin nennt, meine Knechte lehrt und verführt, Unzucht zu treiben und Götzenopfer zu essen‘ (Offb 2,20).“[16]

Mit anderen Worten: Wie kann jemand sinnvollerweise behaupten, er glaube, dass die Bibel „wahr“ und „ohne Irrtum“ ist, während er gleichzeitig das, was die Bibel an so vielen Stellen eindeutig lehrt (und wie es die Kirche seit fast 2.000 Jahren universell bekräftigt hat), uminterpretiert oder schlichtweg ignoriert?

Genau das hat Stanley getan. Auf der Unconditional Conference sagte er: „[Schwule Christen] entscheiden sich nicht für eine gleichgeschlechtliche Ehe, weil sie davon überzeugt sind, dass sie biblisch ist. Sie lesen dieselbe Bibel wie wir. Sie haben sich aus denselben Gründen für die Ehe entschieden wie viele von uns: Liebe, Gemeinschaft und Familie. Und wie bei uns allen ist es am Ende – und das ist wichtig, bitte hört genau zu – ihre Entscheidung.“[17]

In demselben Vortrag erkennt Stanley die Unterschiede zwischen „seiner Version“ des Christentums und der von jemandem wie Al Mohler (Präsident des Southern Baptist Theological Seminary) an. In einer Antwort auf einen Artikel, den Mohler über ihn geschrieben hat, sagte Stanley: „Er beschuldigt mich tatsächlich, von seiner Version des biblischen Christentums abzuweichen. Ich möchte hier zu Protokoll geben, dass ich seine Version des biblischen Christentums nie unterschrieben habe, ich weiche also von nichts ab.“

„Deshalb wurden Justin und Brian eingeladen“, fährt Stanley fort, „die beiden verheirateten schwulen Männer, die im Mittelpunkt der ganzen Kontroverse stehen. Ich bin sicher, dass ihr alles darüber gelesen habt. Und hierum geht es in der ganzen Sache mit Brian und Justin: Ihre Geschichten und ihr Weg sind gerade für Eltern von schwulen Kindern so wichtig – wie sie in der Gemeinde aufgewachsen sind und ihren Glauben an Christus bewahrt und daran festgehalten haben, Christus während ihrer ganzen High School- und College-Zeit zu folgen, als Singles und bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verheiratet waren. Es ist eine Geschichte, die schwule Eltern und schwule Kinder hören müssen.“[18]

Das eigentliche Problem

Sam Allberry hat auf den widersprüchlichen Charakter von Stanleys Kommentaren hingewiesen, Denny Burke auf deren subversiven Charakter. Wir möchten an dieser Stelle auf die erkenntnistheoretische Fäulnis hinweisen, die diesem funktionalen Liberalismus zugrunde liegt. Das besondere Problem in westlichen Gemeinden – vor allem in weiten Teilen des amerikanischen Evangelikalismus – ist ein Problem, das mit dem Prozess der Erkenntnis und Bestätigung von Wahrheit zusammenhängt.

Traditionelle Christen – die zugestehen, dass ihre Erkenntnis Stückwerk ist (vgl. 1Kor 13,9) – bestehen darauf, dass Wahrheit real ist und erkannt werden kann (vgl. Joh 8,32; 1Tim 2,4; 4,3; Tit 1,1; 2Petr 1,12; 1Joh 2,4.21). Wir halten außerdem daran fest, dass die Bibel der ultimative Maßstab für Wahrheitserkenntnis ist, da sie vom Heiligen Geist inspiriert wurde (vgl. 2Tim 3,16), der die menschlichen Autoren beaufsichtigte, um sie vor Irrtum zu bewahren (vgl. 2Petr 1,21; Ps 119,160; Joh 17,17). Kurz gesagt, die Bibel ist die Grundlage für Erkenntnis und den Erkenntnisprozess. Sie ist der Maßstab, an dem wir alle Dinge messen, auch unsere eigenen Gedanken und Erfahrungen (vgl. 1Thess 5,21; Apg 17,11).

Das Problem des funktionalen Liberalismus liegt also genau hier: Er hält die Wahrheit der Bibel in der Theorie aufrecht und zitiert sie sogar von Zeit zu Zeit, der ultimative Schiedsrichter der Wahrheit ist jedoch nicht Gottes Wort, sondern die Erfahrung des Einzelnen – einschließlich seiner Wünsche, Vorlieben und Meinungen. Mit anderen Worten: Wenn das Christentum eine Offenbarungsreligion ist (und das ist es), dann sind das Christentum und der funktionale Liberalismus letztlich zwei verschiedene Glaubensrichtungen. (Das erkennt auch Stanley an.)

Das mag für manche schwer zu erkennen sein, da es auf dem Papier so aussehen kann, als stünden sich zwei Personen recht nahe, während ihre Flugbahnen in Wirklichkeit in entgegengesetzte Richtungen verlaufen. Stell dir ein Foto von zwei Personen vor, die auf der Straße unterwegs sind und sich zufällig zur selben Zeit am selben Ort befinden. Wenn man nur einen Schnappschuss betrachtet, könnte man meinen, dass sich die Personen sehr nahestehen. Aber das ist sozusagen nicht das ganze Bild, denn das Gehen – die Lieblingsmetapher der Bibel für das Leben im Glauben – beinhaltet auch eine Richtung und ein Ziel. Im Fall der Lehre ist es also durchaus möglich, dass zwei Menschen, auch wenn sie für kurze Zeit im Leben denselben Weg teilen, in ganz unterschiedliche Richtungen unterwegs sind – einer von ihnen hin zur Stadt Gottes, der andere in die entgegengesetzte Richtung.

Was die Wegrichtung eines Menschen offenlegt, ist die Frage, wer am Ende das letzte Wort hat: Darf die „Geschichte“ oder „der Weg“ eines Homosexuellen 3. Mose 20,13 oder 1. Korinther 6,9–11 (und viele andere Texte) übertrumpfen? Setzt das tiefe Gefühl einer Frau, zum pastoralen Dienst berufen zu sein, 1. Timotheus 2,11–15 oder 1. Korinther 14,34–35 (und viele andere Texte) außer Kraft? Stellen individuelle Erfahrungen eine unfehlbare Quelle der Autorität dar – oder hat Gott das letzte Wort?

„Stellen individuelle Erfahrungen eine unfehlbare Quelle der Autorität dar – oder hat Gott das letzte Wort?“
 

Wir kennen die Einwände, die an dieser Stelle auftauchen. In der Regel werden sie folgendermaßen formuliert: „Willst du damit sagen, dass diejenigen, die die Homo-Ehe und den Egalitarismus bejahen, keine Christen sind?“ Wir sagen weit mehr als das: Wir sagen, dass solche Fragen Teil genau des Problems sind, das wir die ganze Zeit beschreiben. Woher kommen diese Fragen? Die Bibel lehrt gewiss nicht, uns mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu begnügen, mit dem bloßen Minimum an Glauben, das ein Mensch besitzen muss, um gerade noch ins Reich Gottes zu gelangen (vgl. 1Kor 3,11–15; Jud 23). Stattdessen ruft uns Christus auf, unser Leben auf sein Wort zu bauen (vgl. Mt 7,24–27) – alles zu glauben und zu befolgen, was er befohlen hat (vgl. Mt 28,20) – und das kann nicht sinnvoll geschehen, wenn wir das, was der Herr uns sagt, auf Schritt und Tritt absichtlich untergraben oder ignorieren (vgl. Lk 6,46), unabhängig davon, was unsere lehrmäßigen Bekenntnisse auf dem Papier sagen.

Den Virus in unserer Mitte identifizieren

Als Pastoren, die an einem Seminar für evangelikale Pastoren unterrichten, möchten wir mit einem praktischen Wort schließen, um unseren Lesern dabei zu helfen, die häufigsten Ausprägungen des funktionalen Liberalismus „in Fleisch und Blut“ zu erkennen. Denn was nützt eine theoretische Diagnose, wenn man die Symptome nicht erkennen kann?

Weil der funktionale Liberalismus auf Erfahrung und nicht auf göttlicher Offenbarung beruht, kleidet er alle seine lehrmäßigen Behauptungen und moralischen Urteile in eine subjektive Terminologie, wie z.B. „Für mich…“ oder „Ich habe das Gefühl, dass…“ oder „Nun, ich habe gerade…“, aber niemals „Gott sagt…“ oder „Die Bibel lehrt…“ oder „Der Herr gebietet…“. Die gleiche Art von Problem findet man in einem pietistischen Mystizismus, der in manchen Kreisen grassiert. Viele behaupten dort routinemäßig: „Der Herr hat mir gesagt…“, kurz bevor sie dann etwas sagen, das dem widerspricht, was der Herr tatsächlich in der Bibel sagt. Solche Menschen haben ihr Leben nicht auf dem Felsen des Wortes Gottes gebaut, sondern auf dem Fließband der modernen Welt. Daher spielt es kaum eine Rolle, welche Überzeugungen sie im Moment auf dem Papier haben, denn sie befinden sich auf einem Weg, der sie dazu bringen wird, ihre Überzeugungen in einem Jahrzehnt zu ändern oder ganz zu leugnen. Wahrscheinlich sogar in noch kürzerer Zeit.

Funktionaler Liberalismus zeigt sich in der Veranlagung eines Menschen, lange bevor er sich in der Leugnung der Lehre äußert. Bevor sich eine Person offen für etwas wie die Homo-Ehe oder den Egalitarismus einsetzt, schämt sie sich zunächst für die gegenteiligen Lehren der Bibel. Diese Verlegenheit zeigt sich in Leuten, die nie etwas Positives über eine derzeit umstrittene biblische Lehre sagen können, ohne das Bedürfnis zu haben, sie komplett zu relativieren oder durch den Tonfall auf jede erdenkliche Weise abzuschwächen. Dieselbe Verlegenheit führt dazu, dass solche Leute aufhören, über die biblischen Wahrheiten zu sprechen, die ihnen nicht gefallen (und von denen sie sich wünschen, dass sie verschwinden). Plötzlich ist ein Thema, das die Kirche seit Tausenden von Jahren für selbstverständlich hielt, „ziemlich komplex“. Oft werden die Schriften gegeneinander ausgespielt („Paulus ist nicht Jesus“, wird uns immer wieder gesagt), aber das ist nur ein Zwischenstopp, eine Zwischenstation vor dem endgültigen Ziel. Denn schließlich kommt die Litanei der „Geschichten“ und „persönlichen Wege“ von Menschen, die ihre individuellen Erfahrungen über die Bibel stellen. Und genau so – vom Schweigen über die Komplexifizierung bis hin zur Kapitulation – endet der funktionale Liberale im Widerspruch zu Jesus, seinen Aposteln und allen Propheten.

Der funktionale Liberalismus verachtet aufgrund seiner „Objektivitätsallergie“ auch alles, was nach Endgültigkeit riecht. Der bereits verstorbene J.C. Ryle drückte es so aus:

„Ich halte den gefährlichsten Verfechter der sadduzäischen Schule nicht für den Mann, der dir gegenüber offen fordert, dass du irgendeinen Teil der Wahrheit aufgibst. … Es ist der Mann, der daran zweifelt, dass man klar sagen sollte: ‚Dies ist die Wahrheit, und das ist die Lüge‘, der daran zweifelt, ob wir Menschen für falsch halten sollten, die in religiösen Fragen anders denken als wir, denn sie könnten ja genauso recht haben wie wir. Es ist der Mann, der uns sagt, dass wir die Ansichten von niemandem verurteilen sollten, damit wir uns nicht eines Mangels an Liebe schuldig machen. Es ist der Mann, der anfängt, vage davon zu sprechen, dass Gott ein Gott der Liebe ist, und andeutet, dass wir vielleicht glauben sollten, dass alle Menschen, egal zu welcher Lehre sie sich bekennen, gerettet werden. … Es ist der Mann, der diese Art von Reden mit ein paar ruhigen Spötteleien gegen das krönt, was er gerne als ‚altmodische Ansichten‘ und ‚engstirnige Theologie‘ und ‚Bigotterie‘ und ‚den Mangel an Liberalität und Liebe‘ in der heutigen Zeit bezeichnet.“[19]

Da der funktionale Liberalismus ebenfalls Autoritätsansprüche verabscheut, die die Letztgültigkeit des Individuums nicht unangetastet lassen, verwandelt er eine evangeliumszentrierte Theologie in eine „Theologie des reinen Evangeliums“. Der Fachausdruck dafür ist Antinomismus. In gewisser Weise hat es eine Form des Antinomismus von Anfang an gegeben (vgl. Röm 6,1ff.). Heutzutage jedoch begegnen wir vielen Christen, die die bloße Aufforderung zum Gehorsam für Gesetzlichkeit oder Moralismus halten. Sie vergessen, dass Sünde Gesetzlosigkeit ist (vgl. 1Joh 3,4) und dass Christus gekommen ist, um uns von der Gesetzlosigkeit zu erlösen (vgl. Tit 2,14) und für den Gehorsam des Glaubens zu befreien (vgl. Röm 1,5; Gal 6,2). Deshalb sagt Christus: „Liebt ihr mich, so haltet meine Gebote“ (Joh 14,15). Die Attraktivität des Antinomismus für funktionale Liberale liegt auf der Hand: Wenn das Christentum nur das Evangelium ist, ohne auch das moralische Gesetz „nach dem Evangelium“ einzuschließen (vgl. 1Tim 1,8–11), dann kann ein funktionaler Liberaler die lästigen Texte verwerfen, die unser Verhalten regeln. Die Gebote in Bezug auf Geschlechtlichkeit und Sexualität fallen also weg und an ihrer Stelle finden wir nur die gute Nachricht, dass Gott uns liebt und sich keinen Deut darum schert, was wir tun.

Vielleicht ist die Bezeichnung „funktionaler Liberalismus“ am Ende nicht klar genug. Wir haben ihn benutzt, um einen modernen Fehler mit einem alten Problem zu verbinden.[20] In Wahrheit ist der funktionale Liberalismus jedoch einfach ein evangelikaler Progressivismus, der noch nicht erkannt hat, was er ist oder wohin er geht. Denn jeder Versuch, „die Lehre weiterzuentwickeln“ – wie es der Papst und der Erzbischof und die vielen Andy Stanleys dieser Welt derzeit tun –, ist in Wirklichkeit ein Versuch, „weiterzugehen“ oder „über das hinauszugehen“, was die Bibel sagt, in ein (hoffentlich) ephemeres Land souveräner Individuen, die in urteilsfreier Glückseligkeit zusammenleben. Ob Evangelikale dies unbewusst tun, weil sie sich für Ideen schämen, die heute nicht mehr in Mode sind, oder ob sie es bewusst tun, in der Hoffnung, für die Welt „gewinnender“ zu sein, das Ergebnis ist letztendlich dasselbe: „Mancher Weg erscheint dem Menschen richtig, aber zuletzt führt er ihn doch zum Tod“ (Spr 14,12), denn: „Jeder, der abweicht und nicht in der Lehre des Christus bleibt, der hat Gott nicht“ (2Joh 9).


1Genau genommen erlaubt die Church of England ihren Priestern nicht, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen. Allerdings steht ihnen nun die Möglichkeit offen, gleichgeschlechtliche Ehen und/oder eingetragene Lebenspartnerschaften zu segnen. Es handelt sich hier um die Art von Kompromiss, der sowohl Progressive als auch Konservative frustriert (wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen).

2Falls du auf eine Modifikation dieses Punktes gehofft hast, wirst du diese nicht finden. Es handelt sich hier tatsächlich um Glaubensabfall.

3Josh Daws, „LGBT Infiltration of Evangelical Churches (with Megan Basham)“, Great Awokening, 30.10.2023, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=imZMMACdD9s (Stand: 29.01.2024).

4Bedauerlicherweise ist es in einigen Kreisen in Mode gekommen, dieses Buch dafür zu kritisieren, dass es nicht auf die Rassentrennung oder die Jim-Crow-Gesetze eingeht, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1923) noch in Kraft waren. Diese Kritik missversteht jedoch einen wichtigen Punkt: Nicht jedes Buch ist ein Buch über alles (und kann es auch gar nicht sein). Eine alte Weisheit mahnt uns, einen Mann nicht für das Buch zu kritisieren, das er nicht zu schreiben beabsichtigt hat. Hätte Machen ein Buch über das Evangelium und die Rassefrage geschrieben – und wäre er dann nicht auf die Segregationsproblematik eingegangen, wäre die Kritik tatsächlich angebracht. Aber in seinem Buch ging es ebenso wenig um Ethnizität wie um Eschatologie; es ging um die zentralen Unterschiede, die das traditionelle Christentum vom liberalen „Christentum“ unterscheiden (bei dem es sich, wie Machen argumentiert, in Wirklichkeit nur um ein fälschlicherweise so bezeichnetes Christentum handelt). Wir stimmen mit denen überein, die das Buch in dieser Hinsicht als Erfolg ansehen.

5Ganz zu schweigen von dem vorherigen Zusammenbruch der meisten anglikanischen Gemeinschaften, die schon seit geraumer Zeit egalitär sind. Das Gleiche gilt für evangelikale Megakirchen, die praktisch alle egalitär oder funktional egalitär sind.

6J. Gresham Machen, Christentum und Liberalismus: Wie die liberale Theologie den Glauben zerstört, Waldems: 3L, 2013, S. 69.

7Ebd., S. 67–68, Hervorhebung hinzugefügt.

8Ebd., S. 97.

9Ebd.

10Ebd., S. 96, Hervorhebung hinzugefügt.

11Ebd.

12Ebd., S. 96–97, Hervorhebung hinzugefügt.

13Wir geben uneingeschränkt zu, dass es sich bei diesem ekklesiologischen Virus in vielerlei Hinsicht nur um eine neue Version des alten Erregers handeln mag. Dennoch ist es hilfreich, diesen besonderen Stamm zu isolieren, damit Pastoren und Laien ihn leichter erkennen (und angemessen bekämpfen) können.

14Wir berufen uns in diesem Fall auf Hebräer 2,6a.

15Wir weichen an dieser Stelle von grammatikalischen Konventionen ab, indem wir einfache Anführungszeichen verwenden, nicht um einen Dialog innerhalb eines Zitats zu kennzeichnen, sondern um anzuzeigen, dass diese Worte nicht unsere eigenen sind (es handelt sich um eine Paraphrase von D.A. Carsons zentralem Punkt).

16Sam Allberry, „Andy Stanley’s ‚Uncondtional‘ Contradiction“, Christianity Today, 04.10.2023.

17Dieses Zitat ist einem Manuskript von Stanleys Vortrag entnommen, das in Teilen verfügbar ist unter Denny Burk, „Andy Stanley’s Version of Christianity“, CBMW, 01.10.2023, online unter: https://cbmw.org/2023/10/01/andy-stanleys-version-christianity/ (Stand: 29.01.24). Hervorhebung hinzugefügt.

18Ebd., Hervorhebung hinzugefügt.

19J.C. Ryle, „Pharisees and Sadducees“, Knots Untied: Being Plain Statements on Disputed Points in Religion from the Standpoint of an Evangelical Churchman (1874), online unter: https://gracegems.org/23/Ryle_pharisees_and_sadducees.htm (Stand: 29.01.24).

20Das Problem trat natürlich auch schon vor Machens Zeit in Erscheinung. Friedrich Schleiermacher haben wir es zu verdanken, dass die Erfahrung des Menschen in den Mittelpunkt von Theologie und Epistemologie gerückt ist. Nicht umsonst wird er als „Vater des modernen Liberalismus“ bezeichnet. Doch ist dieser Irrtum – die Privilegierung der subjektiven Einschätzungen des Menschen gegenüber der objektiven Offenbarung des Herrn – nicht fast so alt wie die Welt selbst? Denn „Sollte Gott gesagt haben?“ war die Frage, die die Schlange am Anfang stellte – und mit dieser Art von Frage haben wir es immer noch zu tun.