Ein Plädoyer für das gemeinsame Gebet

Artikel von Zach Schlegel
31. Januar 2024 — 7 Min Lesedauer

Das Gebet ist etwas Persönliches. Jesus fordert uns auf, „die Tür zu schließen und zu unserem Vater zu beten, der im Verborgenen ist“ (Mt 6,6). Doch das Gebet ist auch etwas Gemeinschaftliches. So sind die Psalmen beispielsweise ein Gesangbuch und eine Gebetsordnung für das versammelte Volk Gottes. Was sollten wir also vom gemeinsamen Gebet halten, und warum ist es wichtig?

Kürzlich sprach ich mit einem Freund, der nicht mehr in die Gemeinde kam, weil sie nicht länger seinen Erwartungen entsprach. „Sie bringt mir nichts. Warum sollte ich also weiterhin kommen?“ Er zeigte nach draußen auf die Natur und sagte: „Das ist meine Gemeinde!“

Mein Freund würde sagen, dass es nach seinem Verständnis beim Christsein ausschließlich um ihn und Jesus geht. Aber wenn das der Fall ist, lebt man bestenfalls ein dürftiges Christensein. Und schlimmstenfalls muss man sich die Frage stellen, ob überhaupt noch von Christsein die Rede sein kann.

Die Tendenz des Westens, die Individualität zu vergöttern, veranlasste den Theologen David Wells zu folgender Feststellung:

„Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass unsere oberste Priorität darin besteht, unsere eigene Authentizität wichtiger als alles andere anzusehen … Wo diese Annahme in die Gemeinde eingedrungen ist, wird das geistliche Leben als etwas Privates, höchst Individualistisches, Unverbindliches und ethisch Neutrales angesehen. Weil das so ist, verlieren wir unseren Hunger nach Gott, unseren Geschmack für sein Wort und unser Bewusstsein der Abhängigkeit von Christus. Unser Gott ist zu klein geworden und geht nun oft inmitten unserer nach innen gerichteten Überlegungen verloren.“[1]

Wenn wir uns den großen Problemen des Lebens stellen wollen, brauchen wir einen großen Gott. Wie können wir uns also erneut auf seine Herrlichkeit ausrichten? Wir können damit beginnen, uns daran zu erinnern, dass wir als Christen alle Teil einer Familie sind – Glieder an einem Leib: „Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus“ (1Kor 12,12).

Es stimmt, wir sind Individuen; aber in Christus sind wir mehr als das: Wir sind eins.

Jeder Teil der Gemeinde ist aktiv

Um einen Baseball zu fangen, trägt jeder Teil deines Körpers seinen Teil dazu bei. Wenn dein Arm nicht funktioniert, riskierst du ein blaues Auge.

„Gemeinsames Gebet bedeutet nicht, dass 300 Menschen ihre persönliche ‚Stille Zeit‘ haben, sondern dass 300 Menschen gemeinsam beten.“
 

In gleicher Weise muss jeder Teil der Gemeinde aktiv sein, wenn sie als Leib funktionieren soll (vgl. Eph 4,16). Wenn die Gemeinde einer Predigt zuhört, wird sie nicht unterhalten, sondern ausgerüstet (vgl. Eph 4,12; 1Thess 5,21, Apg 17,11). Wenn die Gemeinde singt, ist das nicht nur individueller Lobpreis, sondern sie singt füreinander (vgl. Eph 5,19). Wenn das Opferkörbchen weitergereicht wird, wird nicht einfach nur Geld gegeben, sondern die Gemeinde unterstützt den Dienst am Evangelium. Die Kollekte dient der Gemeinde vor Ort wie auch anderen Gemeinden (vgl. 1Kor 9,14; 16,1–2; 2Kor 9,7). Was wir als Gemeinde tun, das tun wir gemeinsam.

Genauso ist es auch beim Gebet. Die Gemeinde betet gemeinsam. Wenn jemand die Gemeinde zum Gebet einlädt, schauen wir nicht nur zu, sondern beten mit. Gemeinsames Gebet bedeutet nicht, dass 300 Menschen ihre persönliche „Stille Zeit“ haben, sondern dass 300 Menschen gemeinsam beten.

„Wir“ und „Amen“

Hier zwei konkrete Vorschläge für die Praxis:

Erstens: Ermutigt den einzelnen Beter, das Pronomen „wir“ anstelle von „ich“ zu verwenden. Es geht im Gebet nicht um geistliche Selbstdarstellung, sondern um das Gebet im Namen der Gemeinde. Der Beter wendet sich an Gott, um Bitten vorzubringen, Sünden zu bekennen oder zu danken, und zwar im Namen der ganzen Familie.

Zweitens: Ermutigt die Gemeinde, am Ende des Gebetes „Amen“ zu sagen. In Paulus’ Anweisungen für den gemeinsamen Gottesdienst sagt er: „[W]ie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst?“ (1Kor 14,16b). „Amen“ zu sagen ist mehr als reine Formsache. Es bedeutet vielmehr: „Ich stimme dem zu, was gerade gebetet wurde – das ist auch mein Gebet.“ Und wenn du nicht einverstanden bist, sag kein „Amen“.

Als Vorbilder vorangehen

John Stott schrieb einst:

„Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren inkognito eine Gemeinde besuchte. Ich saß in der hinteren Reihe … Das Gebet wurde von einem Mitglied der Gemeinde geleitet, weil der Pastor im Urlaub war. Er betete, dass der Pastor einen schönen Urlaub haben möge. Das ist in Ordnung. Pastoren sollten einen schönen Urlaub haben. Zweitens betete er für eine Frau aus der Gemeinde, die in Kürze ein Kind zur Welt bringen sollte. Er betete, dass die Entbindung gut verlaufen möge. Das ist in Ordnung. Drittens betete er für eine weitere Dame, die krank war. Und dann war das Gebet vorbei. Das war’s. Es dauerte 20 Sekunden. Ich sagte mir: Das ist eine Dorfkirche mit einem Dorfgott. Sie haben kein Interesse an der Außenwelt. Man dachte weder an die Armen, die Unterdrückten, die Flüchtlinge, die Schauplätze der Gewalt noch an die weltweite Evangelisation.“[2]

Diejenigen, die die Gemeinde im Gebet anleiten, beten zu Gott und lehren gleichzeitig die Gemeinde, wie man betet – ob in Zeiten, in denen alles gut läuft oder in schwierigen Zeiten.

Lieber Pastor, was lehren deine Gebete deine Gemeinde über Gott? Ist er nur ein Dorfgott? Oder ist er der Gott der Schrift, der uns in Ehrfurcht versetzt und zugleich ermutigt? Diejenigen, die das Gebet anleiten, sollten sorgfältig über ihre Art, ihre Themen und ihren Inhalt nachdenken.

„Wenn wir uns von der Heiligen Schrift leiten lassen, dann verlassen wir unseren üblichen Gebetstrott.“
 

Spiegelst du in deiner Ausdrucksweise eine angemessene Ehrfurcht vor Gott wider, während du gleichzeitig in festem Vertrauen auf ihn ruhst? Kommen deine Gebete von Herzen und enthalten sie eine gewisse Wärme? Oder sind sie kalt und künstlich? Sind sie blumig und formvollendet oder verwendest du die einfache Sprache eines persönlichen Gebetes? Das Beten erlernen wir am besten, indem wir mit anderen beten.

Was ist mit den Themen, für die du betest? Mit anderen Worten: Woher weißt du, für welche Themen du beten solltest? Die Gebete in der Bibel helfen uns hier weiter. Betrachten wir die Themen des Vaterunsers, das uns als Beispiel dient: Wenn wir beten, sollten wir darum bitten, dass Gottes Name geehrt wird („geheiligt werde dein Name“), dass Gott in unserem Leben und in unserer Umgebung herrscht („dein Reich komme“), dass wir Gott vertrauen („dein Wille geschehe“), dass unsere Bedürfnisse gestillt werden („unser tägliches Brot gib uns heute“) und dass unsere Sünden vergeben werden („vergib uns unsere Schuld“). Zwei großartige Bücher über das Beten der Themen der Heiligen Schrift sind D.A. Carsons Lernen, zu beten oder Matthew Henrys A Method for Prayer. Wenn wir uns von der Heiligen Schrift leiten lassen, dann verlassen wir unseren üblichen Gebetstrott. Wenn wir einen großen Gott haben, sollten wir auch große Gebete sprechen.

Und schließlich noch etwas zum Inhalt unserer Gebete. Die Heilige Schrift sollte nicht nur die Liste der Themen vorgeben, für die wir beten (z.B. die Regierung, vgl. 1Tim 2,2), sondern sie sollte auch das prägen, wofür wir konkret in Bezug auf diese Themenfelder beten (z.B. um Weisheit, Gerechtigkeit, Demut; vgl. Jak 1,5; Ps 72,2; Mk 10,45). Wenn du für eine Ungerechtigkeit betest, die die Mitglieder deiner Gemeinde betrifft, sollte dein öffentliches Gebet ein Vorbild dafür bieten, wie man für diese Ungerechtigkeit betet. Ob es nun einen Grund zum Feiern oder zum Trauern gibt, sollten deine Gebete deine Gemeinde lehren, entsprechend der Heiligen Schrift zu beten.

Wir müssen uns gegen die zerstörerischen Auswirkungen eines individualisierten und privaten Christseins wehren, weil wir um die Bedeutung des gemeinsamen Gebets als Gemeinde wissen. Wir begegnen dadurch einem Gott, den wir nicht zu zähmen versuchen, sondern der uns in Ehrfurcht erzittern und umso mehr beten lässt, weil er uns einerseits das Beten befiehlt und andererseits in seiner Güte bereit ist, uns zu erhören.


1David Wells, „On My Mind: The Skinny God“, Modern Reformation, 7/8 1997, online unter: https://thebattlecry49.com/2010/05/15/on-my-mind-the-skinny-god-by-david-wells/ (Stand: 21.12.23).

2Bill Turpie (Hrsg.), Ten Great Preachers, Baker Books, 2000, S. 117.