Ethik im Neuen Testament
Etwa 40 Jahre nach der Erstauflage von Wolfgang Schrages Ethik des Neuen Testaments hat sich Matthias Konradt, Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg, der herausfordernden Aufgabe gestellt, eine neue Überblicksdarstellung zur neutestamentlichen Ethik in der Reihe Grundrisse zum Neuen Testament (GNT) unter Berücksichtigung der neueren Forschung vorzulegen. Konradt ist in den letzten Jahren u.a. als Autor einer international viel beachteten Neukommentierung des Matthäusevangeliums in der Kommentarreihe Neues Testament Deutsch in Erscheinung getreten. Gesamtdarstellungen zur neutestamentlichen Ethik sind rar gesät, was bei der Weite und Divergenz des ethischen Fachdiskurses auch nicht verwundert. Erfreulicherweise liegt nun auch auf Deutsch eine aktuelle Darstellung vor, die aufgrund der zahlreichenden weiterführenden Kapitelbibliographien Studenten und auch Pastoren einen übersichtlichen und gut gegliederten Einstieg zum Studium bietet. Die Kapitel sind alle so strukturiert, dass die Hauptargumentation größer gedruckt ist und weiterführende Absätze mit Detaildiskussionen klein gedruckt werden. So können die Kapitel sowohl im Überblick gelesen als auch intensiv studiert werden. Ziel des Buches ist es, bei aller historischen Detailarbeit nicht nur „das historische Wissensarchiv zu bestücken“, sondern auch „im Blick auf heutige Fragen christlicher Lebenswirklichkeit“ sich mit „ethische[n] Fragen im NT … zu befassen und auch die hermeneutischen Mühen der Übersetzungsarbeit auf sich zu nehmen“ (S. 502).
Polyphonie im Neuen Testament
Damit ist auch die Frage aufgeworfen, unter welchen hermeneutischen Vorzeichen sich der Verfasser dieser Aufgabe stellt. Konradt legt seine Methodik gleich zu Beginn offen. So spricht er bewusst nicht von einer in sich geschlossenen einheitlichen Ethik des Neuen Testaments (NT), sondern von Ethik im NT, um damit die „Polyphonie“ der unterschiedlichen neutestamentlichen Stimmen zum Ausdruck zu bringen. Jeder neutestamentliche Autor bringt sein eigenes Profil mit. Die Bibel ist aus seiner Sicht „primärer Intertext“ der theologischen Ethik, der zum „offenen Dialog“ einlädt, aber keinen direkt autoritativen Anspruch für die Gegenwart erhebt (S. 5). Der biblische Text ist in diesem hermeneutischen Aneignungsprozess zunächst im Kontext seiner Zeit zu lesen. Konradt verfällt dabei jedoch nicht der Versuchung der Parallelomanie, sondern kommt zu dem zusammenfassenden Urteil, dass die „ethischen Aussagen“ des NT „weder als originärer Ausdruck frühchristlicher Wirklichkeitsdeutung durchgängig spezifisch christlich noch einfach mitgeschlepptes antikes Gut [sind]“ (S. 6). Überschneidungen und Unterschiede zu anderen frühjüdischen oder griechisch-römischen Texten werden durchweg differenziert diskutiert. Dabei wird man den Befund sicherlich nicht immer so einschätzen wie Konradt, vielmehr lädt das Werk zur kritischen Lektüre und eigenen Positionierung ein. Die gründliche Dokumentation der Paralleltexte ermöglicht gemeinsam mit den kapitelweisen Bibliographien die eigene Meinungsbildung im vertiefenden Weiterstudium.
Was die Einordnung und Zuordnung neutestamentlicher Texte betrifft, folgt Konradt kritischen Standardpositionen. So werden die Pastoralbriefe nicht Paulus zugeschrieben, auch der Epheser- und Kolosserbrief werden als Deuteropaulinen eingeordnet. Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Darstellung der Einheit paulinischer Ethik. So unumstritten es für Konradt ist, dass die frühchristliche Ethik wesentliche Impulse aus der Verkündigung Jesu erhalten hat, so skeptisch bleibt er dabei gegenüber Versuchen, die Verkündigung des „historischen Jesus“ aus den Evangelien herauszulesen. Hier wird man aus konservativer Sicht gut begründet zu anderen Ergebnissen kommen und den neutestamentlichen Evangelien mehr Vertrauen in historischer Hinsicht entgegenbringen.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Konradts Ergebnisse im Detail zu besprechen. Ein paar grundsätzliche Eindrücke sollen genügen. Sehr materialreich werden sozialethische und ehespezifische Fragestellungen erörtert. So gelingt es Konradt gut, die Mär von der Ehe- bzw. Lustfeindlichkeit bei Paulus zu entkräften und die diesbezüglich unter Verdacht stehenden Passagen des 1. Korintherbriefs unter Berücksichtigung des allgemeinen antiken Diskurses über Ehe und Ehelosigkeit zu erklären. Die Fragestellung von Scheidung und Wiederheirat wird ebenfalls gründlich behandelt. Die Besonderheiten der sogenannten „Haustafelethik“ werden weitgehend eindrücklich skizziert und dabei auch Unterschiede zur heutigen Gesellschaft herausgearbeitet. Sehr differenziert und kontextsensibel gerät auch die Besprechung der soteriologischen und sozialethischen Implikationen von Galater 3,28 (S. 75).
Ein großes Augenmerk richtet Konradt auch auf das Gesetzesverständnis der neutestamentlichen Autoren. Konradt greift hier unter anderem auch Erträge der Neuen Paulusperspektive auf. Aus seiner Sicht bildet die Rechtfertigungslehre nicht das Zentrum paulinischer Theologie, sondern sie ist „ein … Modus der lehrhaften Explikation des Evangeliums“ (S. 86). „Den Rechtfertigungsaussagen“ komme „die Funktion zu, die Integration von Nichtjuden ohne Übernahme der Tora zu begründen, wobei die Abwehr der Verpflichtung auf Beschneidung und Speisegebote den konkreten Bezugspunkt bildet“ (ebd.). Im Weiteren ist Konradt aber darum bemüht, die Bedeutung der Tora innerhalb der paulinischen Theologie nicht auf den Umgang mit diesen boundary markers zu reduzieren.
Auch das Gesetzesverständnis der Evangelien wird ausführlich thematisiert. Während für die drei Synoptiker eine sehr ausführliche Analyse erfolgt, gerät die lediglich einen Absatz umfassende Darstellung des Gesetzesverständnisses der johanneischen Schriften aus Sicht des Rezensenten etwas zu kurz (vgl. S. 400). Hier wünscht man sich als Leser zumindest noch die Thematisierung der unter Auslegern umstrittenen Stelle Johannes 1,17, die mit darüber entscheidet, ob man die johanneische Ethik eher in Kontinuität oder in Diskontinuität zum alttestamentlichen Gesetz deutet.
In der exegetischen Diskussion zur Homosexualität in Römer 1 erkennt Konradt zwar an, dass die Antike entgegen so manch anderslautender Aussage in älterer Fachliteratur auch Homosexualität als Veranlagung kannte, unterstellt Paulus aber im gleichen Zug die Unkenntnis dieser Belege und urteilt, dass „in Paulus Weltbild … Homosexualität im Sinne einer Veranlagung faktisch nicht [vorkommt]“ (S. 155). Eigenartig sicher ist sich Konradt jedoch dann im gleichen Zug, dass in Römer 1 Menschen mit heterosexueller Veranlagung im Blick sind. Hier greift er eine Argumentation von Johanna Körner auf, die in sich inkonsequent erscheint, weil sie die sexuelle Orientierung, die Paulus als Kategorie angeblich fremd sein soll, zum Interpretationsmaßstab macht. Andere revisionistische Ansätze wie die Behauptung, dass Paulus in Römer 1 lediglich Päderastie im Blick habe, lehnt Konradt hingegen gut begründet ab. Sachkritisch hinterfragt er schlussendlich die schöpfungstheologische Begründung der paulinischen Aussagen und fragt, „wie überhaupt Schöpfungstheologie auf der Basis einer die Texte historisch einordnenden kritischen Exegese und im Dialog mit den Naturwissenschaften zu betreiben ist“ (S. 155). Konradt tendiert dazu, im NT anzutreffende schöpfungstheologische Begründungszusammenhänge den historischen Anlässen argumentativ nachzuordnen. Nun steht die schöpfungstheologische Begründung in den entsprechenden Texten aber argumentativ nicht auf der untergeordneten situativen Ebene, sondern hat für die antiken Leser den argumentativen Stellenwert einer bleibenden überzeitlichen Schöpfungsordnung. Man wird der biblischen Argumentationsstruktur an dieser Stelle nicht gerecht, wenn die Argumentation von den Füßen auf den Kopf gestellt wird, wenn – um das von Konradt verwendete Bild der Polyphonie einmal weiterzudenken – der die Melodie tragende Orgelpunkt einfach weggelassen oder in den Diskant gesetzt wird. Aus systematisch-theologischer Perspektive ist zu bemerken, dass Konradt mit der darin anklingenden Skepsis gegenüber einer Theologie der Schöpfungsordnungen auch ein Kind der heutigen Zeit ist.
Sachkritische Züge trägt auch Konradts Analyse des Hebräerbriefs, insbesondere seiner herausfordernden Aussagen zur Möglichkeit der Abkehr vom Glauben und der Unmöglichkeit einer zweiten Buße. Er hält die Aussagen des Hebräerbriefs auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit rhetorischer Scharfzeichnung für problematisch, hier käme man „um Sachkritik nicht umhin“ (S. 417). Unbestritten handelt es sich um exegetisch herausfordernde Texte. Ob bei aller Ehrlichkeit, dass er sich mit diesen Texten schwertut, allerdings Sachkritik des Rätsels Lösung ist, erscheint dem Rezensenten fragwürdig.
Zusammenfassung
Es lassen sich darum durchaus kritische Anfragen an Konradts Gebrauch der Metapher von der Polyphonie neutestamentlicher Texte stellen. Wer von der Polyphonie neutestamentlicher Texte überzeugt ist, dem muss auch klar sein, dass diese Polyphonie nur im gemeinsamen Zusammenklang aller Stimmen zu Gehör kommt. Polyphonie bedeutet nicht nur, Einzelstimmen für sich zu analysieren, sondern sie stets gemeinsam mit anderen Stimmen zu hören. Es ist darum fatal, sich unbequem erscheinender Stimmen sachkritisch zu entledigen. Geschieht Letzteres, wird man der Schönheit der Komposition nicht mehr gerecht. Ebenso fragwürdig wäre es aber auch, unterschiedliche Stimmen gar nicht erst zulassen zu wollen und die Melodie ohne Kontrapunkt homophon aufzuführen, also harmonische Spannungen erst gar nicht zuzulassen. Die Schönheit und Wahrheit neutestamentlicher Ethik kommt letztlich nur da zum Tragen, wo man bemüht ist, das Werk als Ganzes zum Klingen zu bringen. Obwohl alles Bemühen um eine historisch-informierte „Aufführungspraxis“ letztlich natürlich berücksichtigen muss, dass die Klangräume der Gegenwart sich vielfältig von der antiken Kultur unterscheiden, berechtigt diese grundlegende Einsicht nicht zum Verdrängen unbequemer Noten und Töne.
Insgesamt legt Konradt dennoch einen lesenswerten, nicht zu Radikalpositionen neigenden und enorm kenntnisreichen Gesamtentwurf vor, dessen kritische Lektüre jedem Studenten und theologisch Kundigen empfohlen sei, der sich intensiver mit ethischen Fragen anhand des Neuen Testaments auseinandersetzen und dabei auch über den konservativ-evangelikalen Tellerrand hinausschauen möchte. Das Werk ist aufgrund der ausführlichen Stellen- und Sachregister auch hervorragend zum Nachschlagen geeignet. Gerade dort, wo man ihm nicht folgen mag, wird man herausgefordert, die eigene Position gut zu begründen und herauszuarbeiten. Wer sich mit den Erkenntnissen gegenwärtiger Forschung in der neutestamentlichen Ethik im Überblick vertraut machen möchte, wird in Zukunft wohl kaum an Konradts Werk vorbeigehen können.
Buch
Matthias Konradt, Ethik im Neuen Testament, GNT 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022. 540 Seiten, 85 €.