Auch Christen brauchen das Evangelium

Artikel von Derek Thomas
9. Januar 2024 — 5 Min Lesedauer

Vor etwa zwanzig Jahren waren Jerry Bridges und ich Redner auf einer Konferenz in Iowa. Bei einem seiner Vorträge saß ich hinten und hörte zu, als er erklärte, warum auch Christen das Evangelium brauchen. Er gab zu, dass er das erst kurz zuvor erkannt habe. In den darauffolgenden Ausgaben seines Buches Disciplines of Grace fügte er diese Erkenntnis hinzu. Ich muss zugeben, dass ich seitdem sehr häufig darüber nachgedacht habe.

Auf einer Ebene ist diese Aussage offensichtlich. Natürlich brauchen Christen das Evangelium jeden Tag. Wie könnte es auch anders sein? Paulus schreibt der Gemeinde in Rom und beginnt mit den Worten: „darum bin ich bereit, … auch euch in Rom das Evangelium zu verkündigen“ (Röm 1,15). Der Brief ist an bekennende Christen in Rom gerichtet, die Paulus’ Überlegungen zufolge das Evangelium wieder hören mussten. Er beendet den Brief mit folgenden Worten: „Dem aber, der euch zu festigen vermag laut meinem Evangelium und der Verkündigung von Jesus Christus“ (Röm 16,25). Das Evangelium festigt Christen. In ähnlicher Weise schreibt er an die Gemeinde in Korinth, in der es drunter und drüber ging: „Ich erinnere euch aber, ihr Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht“ (1Kor 15,1). Die Christen in Korinth mussten an das Evangelium erinnert werden. In ähnlicher Weise meint Paulus, dass die Galater in der Gefahr standen, sich „[abzuwenden] zu einem anderen Evangelium“ (das nicht das Evangelium war) und dabei das Evangelium zu verzerren (vgl. Gal 1,6–7). Offensichtlich brauchten die Galater mehr als nur eine einfache Erinnerung an den Inhalt des wahren Evangeliums. Sie hatten aktiv begonnen, das Evangelium zu etwas anderem mutieren zu lassen.

„Das Evangelium ist eine Erinnerung daran, warum wir gerettet werden müssen: wegen unserer Sünden der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.“
 

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum Christen das Evangelium brauchen. Wir werden hier vier dieser Gründe streifen:

1. Christen brauchen das Evangelium, um ihr Gewissen zu heilen, das sie verurteilt

Manchmal kann ein schlechtes Gewissen aus einem übertrieben sensiblen Geist resultieren. Schon die kleinste Übertretung kann manche an einen Ort der Finsternis und Verzweiflung treiben. Der Apostel Johannes spricht diese Angelegenheit in seinem ersten Brief an: „Und daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und damit werden wir unsere Herzen vor Ihm stillen, dass, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles weiß.“ (1Joh 3,1920). Allzu leicht ist es möglich, dass sich unser Gewissen Gottes Zusicherung in den Weg stellt. Unser Herz verdammt uns dort, wo das Evangelium uns vergibt. Johannes zeigt den Ausweg: Eine Anwendung der Medizin des Evangeliums ist größer als unser Herz. Ein Gewissen, das uns verurteilt (ob vor oder nach unserer geistlichen Wiedergeburt), sollte auf Christus blicken und seine Vergebung empfangen. In den Worten von Joseph Hart: „Lass dich nicht von deinem Gewissen treiben“ (aus dem alten Kirchenlied „Come Ye Sinners, Poor and Needy“).

2. Christen brauchen das Evangelium, um die allgegenwärtig drohende Gesetzlichkeit zu vermeiden

Kurz gesagt zeigt sich Gesetzlichkeit in drei Formen:

  • Wenn wir aus Gewissensgründen Geboten gehorchen, die nicht explizit in der Schrift enthalten sind.
  • Wenn wir aus Gewissensgründen Geboten gehorchen, die zum alten, aber nicht zum neuen Bund gehören.
  • Wenn der Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz als ein Mittel zu unserer Rechtfertigung gesehen wird.

Als zum Beispiel die Heidenchristen in Galatien durch die Behauptung getäuscht wurden, die Beschneidung sei notwendig, kam Paulus sehr schnell zur Sache und rief aus:

„O ihr unverständigen Galater, wer hat euch verzaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht, euch, denen Jesus Christus als unter euch gekreuzigt vor die Augen gemalt worden ist? Das allein will ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist durch Werke des Gesetzes empfangen oder durch die Verkündigung vom Glauben? Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen und wollt es nun im Fleisch vollenden? So viel habt ihr umsonst erlitten? Wenn es wirklich umsonst ist!“ (Gal 3,1–4)

Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz ist notwendig als Weg zur Heiligkeit. Aber wenn dieser Gehorsam durch irgendetwas anderes angetrieben wird als durch die Dankbarkeit für unsere Rettung, dann ist es der Geist der Gesetzlichkeit. Ein solcher Geist sagt, dass wir durch Jesus Christus und den Beweis für unsere Heiligkeit gerettet werden.

3. Christen brauchen das Evangelium, um der Geißel des Stolzes den Stachel zu ziehen

Augustinus wies darauf hin, dass Stolz im Kern das Wesen der Sünde ist. J.I. Packer schrieb dazu:

„Demut ist das Produkt beständiger Buße – das heißt, sich gegen Hochmut in allen seinen Formen zu entscheiden, davon abzuwenden und ihn durch Wachsamkeit und Gebet zu meiden. Und da der Kampf gegen den Hochmut im Herzen ein Leben lang andauert, sollte Demut zu einer immer tiefer sitzenden Lebenshaltung werden, Gott und anderen zur Verfügung zu stehen. Dies ist eine Haltung, die alte Christen immer mehr an den Tag legen sollten. Echtes geistliches Wachstum ist sozusagen stetiges Tiefenwachstum zu einer tieferen Demut hin, die in einer gesunden Seele mit zunehmendem Alter immer deutlicher zutage tritt.“[1]

Das Evangelium ist eine Erinnerung daran, warum wir gerettet werden müssen: wegen unserer Sünden der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wenn man Christen daran erinnert, dass sie (wie Martin Luther es ausdrückte) simul justus et peccator (gerechtfertigt und doch noch Sünder) sind, dann wird das Evangelium im Alltag dadurch umso süßer.

4. Christen brauchen das Evangelium, weil es ein Leben voller Freude ermöglicht

Paulus gebot den Philippern: „Freut euch im Herrn allezeit; abermals sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4). Freude ist eine Frucht des Geistes (vgl. Gal 5,22) und scheint im Philipperbrief eine zentrale Idee zu sein. Der Apostel Paulus, der den Brief aus einer Gefängniszelle schrieb, erlaubte den Umständen nicht, die Richtung seiner Seele vorzugeben. Der Engel erklärte den Hirten die Bedeutung der Fleischwerdung Jesu: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die für das ganze Volk sein wird“ (Lk 2,10). Das Evangelium bringt tägliche Freude, wie es sonst nichts anderes tun kann.


1 J.I. Packer, Bis zum Schluss: Mit Ausdauer und Freude den vor uns liegenden Wettlauf beenden, Waldems: 3L-Verlag, 2020.