„Aber seid getrost …!“

Der Vers, den man „mit goldenen Buchstaben ins Herz schreiben müsste“

Artikel von Tanja Bittner
1. Januar 2024 — 12 Min Lesedauer

Ein neues Jahr liegt vor uns – was es wohl bringen mag? Man kann diese Frage auf unterschiedliche Weise stellen. Vielleicht klingt sie bei dir erwartungsvoll: In deinem Kalender sind bereits einige Highlights vermerkt und du freust dich schon darauf, einen Tag nach dem anderen wie ein Geschenk auszupacken.

Die Frage kann aber auch einen beklommenen Unterton haben: Wie wird es auf den derzeitigen Kriegsschauplätzen weitergehen? Wie mit der angespannten Situation in unserem Land? Was heißt das alles für mich persönlich, was für die junge Generation? Wird es dieses Jahr – wieder einmal – Veränderungen geben, an die man zu Beginn des Jahres niemals gedacht hätte? Und wenn nicht auf den „großen Schauplätzen“ dieser Welt, dann vielleicht in meinem persönlichen kleinen Leben? Welche gesellschaftlichen Trends und Entwicklungen werden uns im neuen Jahr begegnen und uns als Christen vor neue Herausforderungen stellen?

Es gibt viele Gründe, sich Sorgen zu machen – reale Gründe. Das bestätigt auch Jesus seinen Jüngern: „In der Welt habt ihr Bedrängnis“ (Joh 16,33). Trotzdem ermutigt er sie im gleichen Atemzug: „Aber seid getrost …!“ Wie ist das möglich? Und kann uns das auch im Jahr 2024 helfen? Bei diesem bemerkenswerten Vers, den Luther als „Wort, das man mit goldenen Buchstaben ins Herz schreiben müßte“[1], bezeichnete, lohnt es sich zweifellos, genauer hinzusehen.

Bedrängnis

Unser deutscher Begriff vermittelt anschaulich, worum es geht: Wer sich bedrängt fühlt, empfindet Enge. Etwas oder jemand setzt ihm zu, rückt ihm auf die Pelle, nimmt ihm die Luft zum Atmen. Ein vergleichbares Gefühl drückt auch der griechische Begriff (thlipsis) aus.

In der Situation von Johannes 16,33 hatten die Jünger zweifellos das Empfinden, dass sich langsam eine Schlinge um ihren Hals zuzieht – dass ihre schlimmsten Albträume wahr werden. Wieder einmal waren sie mit Jesus zum Passafest nach Jerusalem gereist. Doch diesmal lag etwas Bedrohliches in der Luft. Jesus hatte in letzter Zeit mehrmals angekündigt, dass man ihn dort gefangen nehmen, foltern und töten wird (vgl. Lk 9,22.44; 18,31–33). Die Jünger verstanden seine Ankündigungen zwar nicht so ganz, waren sich aber über die Gefährlichkeit dieser Reise im Klaren (vgl. Joh 11,16). Auch Jesus schien diesmal vorsichtiger zu agieren als früher (vgl. 11,54). Trotzdem verhielt er sich seltsam provokativ (vgl. 12,12–19). Und dann kam dieser Abend. Im vertrauten Jüngerkreis erklärte Jesus, dass er sie nun verlassen wird (vgl. 13,33.36) – oder eigentlich umgekehrt: Sie werden ihn verlassen und zerstreut werden (vgl. 16,32). Eine verblendete Welt wird sie hassen, aus der Synagoge ausstoßen, verfolgen und töten (vgl. 15,18–16,3). Sie werden trauern, die Welt dagegen wird sich freuen (vgl. 16,20). Wir benötigen nicht viel Phantasie, um nachzuempfinden, wie bei diesen Worten der Kloß im Hals der Jünger beständig wuchs.

Nun war das damals zweifellos eine außergewöhnliche Situation. Lässt sich die „Bedrängnis“, von der Jesus hier redet, einfach so auf unsere heutigen Ängste und Nöte beziehen? Eine berechtigte Frage. Der Grund für die angekündigte Bedrängnis der Jünger ist offensichtlich die Tatsache, dass sie Nachfolger Jesu sind. Nur deshalb wird ihnen das Herz angesichts des Abschieds schwer, und nur deshalb hasst sie die Welt (vgl. 15,19). Auch sonst wird im Neuen Testament mit diesem Wort immer wieder die Bedrängnis charakterisiert, die Jesu Nachfolger eben deshalb erfahren, weil sie Nachfolger Jesu sind (z.B. Apg 14,22; 2Kor 1,4.8; Hebr 10,33).

Allerdings geht es auch anders. Wenige Verse zuvor verweist Jesus auf die thlipsis (in deutschen Bibeln oft „Angst“) einer Gebärenden, die vergessen ist, sobald das Kind geboren wurde (vgl. Joh 16,21). Stephanus charakterisiert die Auswirkungen einer Hungersnot als große thlipsis (vgl. Apg 7,11). Jakobus fordert dazu auf, Waisen und Witwen in ihrer thlipsis zu besuchen (vgl. Jak 1,27). Insbesondere in der Septuaginta (der griechischen Übersetzung des Alten Testaments) erscheint thlipsis als Begriff für Bedrängnisse und Nöte aller Art (z.B. Ri 10,14; Spr 21,23; Jona 2,3).

Die tiefste Ursache dieser wie jener Bedrängnisse ist, dass wir in einer gefallenen Welt leben. Seit 1. Mose 3 befindet sich unsere Welt im Aufstand gegen ihren Schöpfer – und muss die Konsequenzen tragen. Disteln und Dornen wachsen auf unserem Acker, wir fürchten Schmerzen und Tod (vgl. 1Mose 3,16–19). In 1. Mose 4 sehen wir anschaulich, wie schnell die Sünde das menschliche Zusammenleben vergiftet. Eine gottfeindlich eingestellte Welt hasst und verfolgt jene, die nicht mehr zu ihr, sondern zu Gott gehören.

„In der Welt“ – in dieser gefallenen Welt – „habt ihr Bedrängnis“. Wir alle wissen, dass dieser Satz wahr ist, und zwar in Bezug auf alle Arten von Bedrängnis. In gewissem Sinne kann man sogar die Furcht vor Bedrängnissen dazuzählen, denn schon dann fühlen wir uns nicht mehr unbeschwert. Diese Welt ist ein unsicherer Ort, und daran wird sich auch 2024 nichts ändern.

Der Überwinder

Jesus fährt mit einer Aussage fort, die eigentlich nur größenwahnsinnig sein kann – falls sie nicht wahr ist: „… aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (Joh 16,33). Machen wir uns klar: Das Problem des Bösen betrifft ausdrücklich „die ganze Welt“ (1Joh 5,19). Es kann daher nicht innerweltlich gelöst werden. Wenn ein Starker besiegt werden soll, muss jemand kommen, der noch „stärker ist als er“ (Lk 11,22; vgl. Joh 16,11). Genau das behauptet Jesus hier von sich. Im griechischen Text wird „ich“ sogar hervorgehoben: „ICH habe die Welt überwunden.“ In diesen Worten liegt jene göttliche Majestät, deren Wucht wenig später auch hartgesottene Soldaten zu Boden warf (vgl. 18,6).

„Das Problem des Bösen betrifft ‚die ganze Welt‘. Es kann daher nicht innerweltlich gelöst werden.“
 

Mit der „Welt“ ist wie zuvor die gottfeindliche, von der Sünde verdorbene Welt gemeint. Jesus verkündet, ebendiese Welt besiegt (νικάω, nikaō) zu haben! Das, was uns tagtäglich zu schaffen macht und was uns nachts nicht schlafen lässt – siehe oben –, wird nicht das letzte Wort haben, denn Jesus hat es besiegt.

Schon früher in seinem Dienst hatte Jesus die positive Seite seines Sieges aufgezeigt: Er wird es sein, der „das Recht zum Sieg hinausführt“ (Mt 12,20; vgl. Jes 42,3–4). Bei diesem „Recht“ handelt es sich um Gottes Recht, um das, was von Gott her richtig und gut ist, weil es seinem gerechten Wesen entspricht. Der Sieg von Gottes Recht bedeutet, dass alles Böse seine gerechte Strafe erhalten wird. Wir oder unsere Lieben mögen Opfer von Lüge, Mobbing, Betrug oder Übergriffen sein, und die Verursacher schaffen es vielleicht geschickt, in diesem Leben ungeschoren davonzukommen. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Das letzte Wort liegt bei Gott. Mehr noch: Das Böse wird entmachtet (vgl. Joh 12,31), und das heißt, dass die Rebellion gegen Gott ein Ende nehmen wird. Gottes gerechte Ordnung wird wieder aufgerichtet (vgl. 2Petr 3,13). Selbst der Tod, unser größter Angstgegner, ist überwunden (vgl. 1Kor 15,54–55; Hebr 2,15). Leid und Tränen, Schmerz und Klage werden der Vergangenheit angehören (vgl. Offb 21,4) – das übersteigt unser Vorstellungsvermögen.

Die Sache scheint allerdings einen Haken zu haben: Offensichtlich ist es noch nicht so weit. Wir sehen das Unrecht vielfach triumphieren. Wir kämpfen gegen die Disteln und Dornen unseres Alltags. Widergöttliche Strömungen programmieren das Denken der jungen (und vielleicht auch nicht mehr so jungen) Leute. Dennoch sagt Jesus: „Ich habe die Welt überwunden!“ – in der vollendeten Gegenwartsform, und das sogar schon am Vorabend seiner Kreuzigung. Damit verdeutlicht er die Tatsache, dass nichts und niemand diesen Sieg aufhalten wird. Er ist so gut wie geschehen.

„Das, was uns tagtäglich zu schaffen macht und was uns nachts nicht schlafen lässt, wird nicht das letzte Wort haben, denn Jesus hat es besiegt.“
 

Am Vorabend der Kreuzigung fehlten den Jüngern tatsächlich noch greifbare Fakten, an denen sie diesen (so gut wie) geschehenen Sieg festmachen konnten. Doch das hat sich geändert. Wir wissen inzwischen, dass Jesus einige Stunden später am Kreuz rief: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). Er hatte sich nicht zwölf Legionen Engel schicken lassen, um dem Kreuz zu entgehen (vgl. Mt 26,53), sondern den Kelch getrunken, den ihm der Vater gab (vgl. Joh 18,11). Wir wissen inzwischen auch, dass Gott diesen vollbrachten Sieg durch Jesu Auferweckung besiegelte (vgl. Apg 2,24). Paulus verwies seinerzeit auf eine beachtliche Anzahl von Zeugen, die bestätigen konnten, den Auferstandenen gesehen zu haben (vgl. 1Kor 15,3–8). Der Sieg ist errungen. Wenn Gott ihn noch nicht für alle sichtbar aufgerichtet hat, dann hat das auch damit zu tun, dass er den Menschen noch Zeit zur Umkehr gibt (vgl. 2Petr 3,9).

Jesus erwartete übrigens auch keine sofortige sichtbare Aufrichtung seines Sieges. Das zeigt der Rest des Verses.

Frieden

Im griechischen Text von Johannes 16,33 sticht die parallele Formulierung in der ersten Vershälfte ins Auge. Wörtlich wiedergegeben sieht dieser Abschnitt so aus:

in mir Frieden ihr habt
in der Welt Bedrängnis ihr habt

So real in dieser Welt die Bedrängnis ist, Jesus beschreibt seinen Frieden als eine Realität, die gleichzeitig da sein kann. Ja, wir sind in der Welt (vgl. Joh 17,11), und dazu gehört unvermeidlich auch Bedrängnis. Gleichzeitig können wir in Christus Frieden haben, im Hier und Jetzt.

„Ja, wir sind in der Welt, und dazu gehört unvermeidlich auch Bedrängnis. Gleichzeitig können wir in Christus Frieden haben, im Hier und Jetzt.“
 

Schon etwas früher in dieser Abschiedsrede hatte Jesus den Jüngern seinen Frieden angekündigt (vgl. 14,27). Dieser Friede wird anders sein als das, was die Welt zu geben vermag. Der Friede, den die Welt gibt, kann nur einer sein, der durch die Abwesenheit von Unannehmlichkeiten zustande kommt. Er ist damit bestenfalls eine kurzlebige Sache. Wir kennen das. Oft verbirgt sich unsere Hoffnung auf Frieden hinter „Wenn erst“-Formulierungen: Wenn erst diese Prüfung geschafft ist; wenn erst mein finanzielles Polster dick genug ist; usw. Schon Salomo hatte die verschiedensten Spielarten dieser Jagd nach innerer Zu-friedenheit ausprobiert und kam zu dem Ergebnis: All das ist „ein Haschen nach Wind“ (Pred 1,14 u.ö.). Jesus dagegen verheißt seinen Nachfolgern „meinen Frieden“ (Joh 14,27; Hervorh.d.Verf.), der selbst dort wohnen kann, wo dies aus menschlicher Perspektive völlig unverständlich erscheint (vgl. Phil 4,7).

Das liegt daran, dass dieser Friede in Christus verankert ist, nicht in uns oder unseren Umständen. Christus ist der im Alten Testament angekündigte Friedefürst (vgl. Jes 9,5). Wir waren Gottes Feinde und mit dem Rest der Welt im Aufruhr gegen Gott (vgl. Eph 2,1–3). Doch durch Christus sind wir nun mit Gott versöhnt, haben Frieden mit Gott (vgl. Kol 1,20–21; Röm 5,1). Unsere persönliche Rebellion ist beendet, die Strafe für sie bezahlt. Zwischen Gott und mir ist alles in Ordnung gebracht. Ich mag einen guten oder einen schlechten Tag haben, diese Tatsachen stehen unverrückbar fest. Mein Friede mit Gott beruht auf dem Werk Christi, nicht auf meinen eigenen Werken.

Konkret heißt das, dass wir nun Bürger zweier Welten sind. Natürlich ist da noch die gefallene Welt mit ihren Nöten und Anfeindungen, doch wir stehen schon mit einem Bein in einer anderen, versöhnten Welt. Genau genommen sind wir in der gefallenen Welt nur noch „Gäste und Fremdlinge“ (1Petr 2,11), unser eigentliches „Bürgerrecht“ ist im Himmel (Phil 3,20). Im Rahmen innerweltlicher Angelegenheiten ist uns klar, wie wichtig es sein kann, die richtige Staatsbürgerschaft zu haben – und wer Christ ist, hat die alles entscheidende! Wir dürfen mit der Gelassenheit leben, dass die wirklich wichtigen Dinge für uns geklärt sind. Wir dürfen in der Gewissheit und Zuversicht ruhen, mit dem souveränen Herrscher des Universums im Frieden zu sein, mehr noch: Er hat uns in seine Familie adoptiert und wir dürfen ihn Vater nennen (vgl. Gal 4,6). Nichts und niemand kann uns wirklich schaden (vgl. Röm 8,31–39). Um uns daran zu erinnern und als Anzahlung für das, was noch kommen wird, haben wir Gottes Heiligen Geist bekommen (vgl. Joh 14,26; Eph 1,13–14), der wiederum als Frucht Frieden hervorbringt (vgl. Gal 5,22).

Tatsächlich schenkt uns dieses Bewusstsein die Kraft, auch selbst zu solchen zu werden, die die Welt überwinden (vgl. Röm 8,37; 1Joh 5,4–5). Unser Friede beruht jedoch immer darauf, dass Christus die Welt überwunden hat, nicht wir.

Seid getrost

Für die Jünger mag es in den Folgetagen zunächst so ausgesehen haben, als würden die Ereignisse aus dem Ruder laufen. Vielleicht wird es auch für uns an manchen Tagen dieses Jahres so aussehen. Aber das ist nicht wahr. Eben deshalb erklärt Jesus seinen Jüngern, was auf sie zukommt (vgl. Joh 14,29). Und seine abschließende Aufforderung (der einzige Imperativ am Ende dieser Rede) lautet: „Seid getrost …!“ (16,33).

Wir dürfen getrost – mutig – weitergehen, auch in dieses Jahr mit seinen Unwägbarkeiten. Jesus hat die Welt überwunden und deshalb können wir in ihm Frieden haben, trotz der Bedrängnisse dieser Welt. Der, der in uns ist, ist „größer … als der, welcher in der Welt ist“ (1Joh 4,4). Wir dürfen unsere Sorgen getrost auf ihn werfen (vgl. 1Petr 5,7). Befreit von dieser Last können wir unsere Kraft umso mehr dafür einsetzen, den Trost und Frieden weiterzugeben: Menschen zu diesem Herrn einzuladen und einander auf unserem Weg mit ihm zu ermutigen.

„Dies habe ich zu euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (Joh 16,33)

1Erwin Mülhaupt (Hrsg.), D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Vierter Teil: Das Johannes-Evangelium mit Ausnahme der Passionstexte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1954, S. 541.