Haben die Fundamentalisten verloren?
Am 18. Juni 1939 besuchte Dietrich Bonhoeffer, der sich auf seiner zweiten Amerikareise befand, in New York einen Gottesdienst der Riverside Church. Der deutsche Theologe sehnte sich nach einem Wort von Gott. Zu seiner Überraschung schlug der Prediger Halford Luccock die Bibel indes gar nicht erst auf, sondern interpretierte eine Schrift des Religionsphilosophen William James. Bonhoeffer notierte schockiert in seinem Tagebuch:
„Einfach unerträglich … Mit solcher Religionsvergötzung lebt das Fleisch auf, das gewöhnt ist, mit den Worten Gottes in Zucht gehalten zu werden. Solche Predigt macht libertinistisch, egoistisch, gleichgültig. Wissen denn die Leute wirklich nicht, daß man gut und besser ohne ‚Religion‘ auskommt, – wenn nur Gott selbst und sein Wort nicht wäre? … Die Aufgaben für einen echten Theologen hier drüben sind unermeßlich. Aber diesen Schutt kann nur ein Amerikaner selbst wegräumen. Bis jetzt scheint keiner da zu sein.“[1]
Die Riverside Church war und ist der liberalen Theologie verpflichtet. Das neugotische Gebäude ließ John D. Rockefeller Jr. errichten, um dem Prediger Harry Emerson Fosdick eine neue geistliche Heimat zu verschaffen. Berühmt geworden war Fosdick im Jahr 1922 mit seiner Predigt „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?“. Der Baptist, der zu jener Zeit in einer presbyterianischen Gemeinde angestellt war, kritisierte mit Berufung auf einen Rat, den Gamaliel den Schriftgelehrten in Jerusalem gegeben hatte (vgl. Apg 5,38–39), die sogenannten „Fundamentalisten“.
Das Schlagwort geht zurück auf eine zwölfbändige Taschenbuchreihe, die in den Jahren 1910 bis 1915 mit dem Titel The Fundamentals herausgegeben wurde. Curtis Lee Laws, ein Baptistenpastor, dem die Popularisierung des Begriffs zugeschrieben wird, verstand ihn als positive Beschreibung seines christlichen Glaubens. Für ihn und die Autoren der Fundamentals sind Konzepte wie die Inspiration der Bibel, die jungfräuliche Geburt, das stellvertretende Sühneopfer oder die Wiederkunft Christi historisch und grundlegend für den christlichen Glauben. Ein Christentum, das diese Konzepte nur als kulturbedingte Hülle für dahinter verborgene ewige Wahrheiten begreift, hatte ihrer Meinung nach mit dem alten Glauben der Kirche nicht mehr viel gemein.
Genau diese antimoderne Grenzziehung war Harry Emerson Fosdick ein Dorn im Auge. Er war fest davon überzeugt, dass vor allem die intelligenten jungen Leute sich von der Kirche abwenden, wenn diese darauf besteht, Dinge wie Jungfrauengeburt, Inspiration der Bibel oder die Wiederkunft Christi zu den wesentlichen Glaubensdingen zu zählen. Er forderte eine Offenheit für die Errungenschaften der modernen Wissenschaften. Der alte Glaube der Kirche – so seine Forderung – müsse mit dem heutigen Wissensstand zusammengeführt werden. Kirchgänger, die beispielsweise meinen, dass Gottes Reich am Ende der Geschichte nicht von außen vollendet hereinbricht, sondern sich durch den menschlichen Fortschritt verwirklicht, seien „weit davon entfernt, zu glauben, dass sie irgendetwas Wesentliches in der neutestamentlichen Haltung gegenüber Jesus aufgegeben haben“. Die Christen sollten aufhören, über solche Kleinigkeiten zu streiten. Gebraucht würde eine Kirche, die für Neues offen ist und sich um das praktische Leid der Welt kümmere. Der Glaube der Zukunft sei tolerant, wissenschaftlich und mitleidend. Fosdick warb daher für eine „Gamaliel-Strategie“[2]. Die Kirchen sollten Gott einfach wirken lassen. Der Glaube, der unter Gottes Segen stehe, werde sich am Ende erfolgreich durchsetzen. Aus seiner Sicht konnte das nur ein moderner Glaube sein. Deshalb sagte er: „Ich glaube nicht einen Moment lang, dass die Fundamentalisten Erfolg haben werden. Niemand kann mit seiner Intoleranz etwas zur Lösung der beschriebenen Situation beitragen.“
„Martin Luther King Jr. bezeichnete den Botschafter eines liberalen Christentums als den größten Prediger und Propheten seiner Generation.“
Die Predigt „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?“ fand große Verbreitung,[3] löste aber auch eine gewaltige Protestflut aus. Fosdick trat schließlich von seinem Pastorenamt in der presbyterianischen Kirche zurück und baute mithilfe eines Unterstützerkreises, zu dem der schon erwähnte Rockefeller gehörte, die Riverside Church auf. Dort wollte Fosdick der christlichen Welt vor Augen führen, dass ein moderner und toleranter Glaube in die Mitte der Gesellschaft passt und die klugen Menschen dauerhaft an die Kirche bindet. Tatsächlich fand er mit seiner ökumenischen Offenheit großen Anklang und gilt als einer der bekanntesten Prediger Nordamerikas im 20. Jahrhundert. Martin Luther King Jr. bezeichnete den Botschafter eines liberalen Christentums als den größten Prediger und Propheten seiner Generation.[4]
Zu den brillantesten Kritikern der Gamaliel-Strategie gehörte der Theologieprofessor John Gresham Machen. Sein Bestseller Christentum und Liberalismus erschien weniger als ein Jahr, nachdem die Predigt „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?“ veröffentlicht wurde. Machen erkannte, dass Fosdick eine Spaltung, die bereits manifest war, auf anschauliche Weise zur Sprache brachte. Er argumentierte in seinem Buch, dass das historische Christentum und der Modernismus nicht einfach zwei Schattierungen desselben Glaubens seien, sondern vielmehr zwei völlig unterschiedliche Religionen. Im Kapitel zur Soteriologie nimmt er direkt auf Fosdicks Sühnetheologie Bezug und schreibt in scharfem Ton:
„Moderne Liberale werden niemals müde, ihrem Hass und ihrer Verachtung gegenüber der christlichen Lehre vom Kreuz freien Lauf zu lassen. Und doch führt selbst an diese(m) Punkt die Hoffnung auf Konfliktvermeidung gelegentlich zu Verschleierungen. Worte wie ‚stellvertretender Sühnetod‘ – inhaltlich natürlich mit einer Bedeutung belegt, die von der christlichen vollkommen abweicht – werden immer noch von Zeit zu Zeit gebraucht. Trotz der Verwendung solcher traditioneller Begrifflichkeiten machen es liberale Prediger ganz deutlich, was sie eigentlich denken. Mit Abscheu sprechen sie von denen, die glauben, dass ‚das Blut unseres Herrn, vergossen in einem stellvertretenden Tod, dazu dient, einen entfremdeten Gott versöhnlich zu stimmen, und es möglich macht, dass er den zurückkehrenden Sünder willkommenheißt‘. Jede verfügbare Waffe, Karikatur wie Verunglimpfung, wird gegen die Lehre vom Kreuz in Stellung gebracht. Und damit schütten sie ihren Zorn und ihre Verachtung auf etwas aus, das so heilig und wertvoll ist, dass sich in seiner Gegenwart die Herzen von Christen in einer Dankbarkeit auflösen, für die es keine Worte gibt. Es scheint modernen Liberalen nie bewusst zu werden, dass sie auf Menschenherzen herumtrampeln, wenn sie die christliche Lehre vom Kreuz verspotten.“[5]
Machens Buch Christentum und Liberalismus erschien vor 100 Jahren. Die Lektüre lohnt sich heute noch. Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass sich die Themen der Gegenwart gar nicht so sehr von denen Anfang des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Heute wie damals diskutieren wir über die Heilige Schrift, die Sühnetheologie, das Wesen der Sünde oder die Christologie.
„Eine Kirche, die sich fast nur noch um das Hier und Jetzt kümmert und nicht mehr Träger und Verkündiger des biblischen Evangeliums ist, verkommt zum entbehrlichen Dienstleister neben anderen.“
Blicken wir auf die letzten einhundert Jahre zurück, können wir sehen, dass die liberale Theologie die Säkularisierung des Westens nicht nur nicht gebremst, sondern gefördert hat. Eine Kirche, die sich fast nur noch um das Hier und Jetzt kümmert und nicht mehr Träger und Verkündiger des biblischen Evangeliums ist, verkommt zum entbehrlichen Dienstleister neben anderen. Andererseits können die Evangelikalen, die ja zumindest indirekt in der Tradition der „Fundamentalisten“ stehen, nicht gerade selbstzufrieden zurückblicken. Sie haben weder verloren noch gewonnen. Leider zogen sich viele – wie von Fosdick beobachtet – tatsächlich zurück, um in heiligen Winkeln auf die Wiederkunft ihres Herrn zu warten. Andere öffnen sich blauäugig für die Einflüsse liberaler Theologie und scheinen nicht zu bemerken, wohin das führt.
Der Artikel „100 Jahre Christentum und Liberalismus“ von Daniel Facius zeigt, wie Gresham Machen auf die damaligen Herausforderungen antwortete und wie aktuell seine Entgegnungen noch heute sind.
1Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937–1940, DBW Bd. 15, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015, S. 225.
2Siehe dazu den hilfreichen Beitrag von Peter Bruderer, „Die Gamaliel-Strategie“, 25.08.2023, URL: https://danieloption.ch/featured/die-gamaliel-strategie/ (Stand: 12.10.23).
3John D. Rockefeller Jr. gefiel sie so gut, dass er 130.000 Exemplare drucken und an alle protestantischen Pastoren des Landes verschicken ließ.
4Siehe dazu: https://kinginstitute.stanford.edu/fosdick-harry-emerson (Stand: 13.10.23).
5J.G. Machen, Christentum und Liberalismus, Waldems: 3L Verlag, 2013, S. 142.