Gehorsam in jedem Fall?
Gottgegebene Autorität
Wie weit geht unsere moralische Verpflichtung zur Unterordnung, wenn jemand zweifelsohne eine legitime Autorität über uns hat, wie beispielsweise Eltern über ein Kind? Sicherlich gibt es Grenzen, denn keine menschliche Autorität ist absolut. Legitime Autorität bezieht sich immer auf einen bestimmten Verantwortungsbereich, der vom Geber der Autorität festgelegt wird.
Wenn Paulus sagt, „es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre“ und „wer sich also gegen die Obrigkeit auflehnt, der widersetzt sich der Ordnung Gottes“ (Röm 13,1–2), meint er damit nicht, dass die menschliche Autorität keine Grenzen hat. Denn das würde bedeuten, dass jede Handlung jeder Autorität moralisch gerechtfertigt ist und es keinen moralisch vertretbaren Widerstand gibt. Dem ist aber nicht so. Vielmehr beschreibt er die Aufgaben der Regierung und stellt einige grundlegende Prinzipien vor: Menschliche Autorität kommt von Gott; wir können nicht willkürlich Autorität übereinander ausüben, und wir sollten uns grundsätzlich unterordnen. Das bedeutet aber nicht, dass man sich allem, was eine menschliche Autorität sagt oder tut, ausnahmslos fügen muss.
„Jede von Gott eingesetzte Autorität hat Grenzen und die Tatsache, dass die Autorität Grenzen hat, zeigt, dass auch das Gebot, uns zu unterordnen, Grenzen hat.“
Jede von Gott eingesetzte Autorität hat Grenzen und die Tatsache, dass die Autorität Grenzen hat, zeigt, dass auch das Gebot zur Unterordnung Grenzen hat.
Die Grenzen der Autorität und die der Unterordnung bedingen sich gegenseitig. So können wir manchmal legitim „Nein“ zu einer Autoritätsperson sagen, wie die Heilige Schrift uns an anderen Stellen lehrt.
Im Folgenden werden drei Grenzen aufgezeigt für die Aufforderung, uns gottgegebenen Autoritätspersonen zu unterordnen:
Grenze #1: Wenn eine Autorität dich zur Sünde auffordert
Die offensichtlichste Grenze: Wir müssen uns nicht unterordnen, wenn eine Autoritätsperson von uns verlangt zu sündigen.
Gott lobte die hebräischen Hebammen dafür, dass sie dem Befehl des Pharaos, die neugeborenen Jungen zu töten, nicht gehorchten (vgl. 2Mose 1,15–22). Er rettete Sadrach, Mesach und Abednego, als sie sich weigerten, Nebukadnezars Standbild anzubeten (vgl. Dan 3). Und als der Hohe Rat den Aposteln Petrus und Johannes befahl, nicht mehr von Jesus Christus zu predigen, sagten diese: „Entscheidet ihr selbst, ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als Gott!“ (Apg 4,19). Die Antwort auf ihre rhetorische Frage lautet: Nein.
Dass wir nicht gehorsam sein sollten, wenn wir aufgefordert werden zu sündigen, ist unter Christen ein recht unumstrittener Punkt und wird häufig in Gesprächen über zivilen Ungehorsam gegenüber der Regierung angeführt.
Grenze #2: Wenn eine Autorität die ihr zugewiesenen Grenzen überschreitet
Der zweite Grund mag etwas umstrittener sein, doch ich behaupte, dass wir uns nicht unterordnen müssen, wenn eine Autoritätsperson uns auffordert, etwas zu tun, was Gott dieser Person nicht zugestanden hat zu verlangen. Man könnte sagen, dass sie ihre zugewiesene Grenze überschreitet, bzw. außerhalb des ihr zugewiesenen Zuständigkeitsbereichs handelt.
Kirchen sollten das Schwert nicht schwingen. Regierungen sollten nicht darüber entscheiden, wer getauft wird. Politiker sollten Pastoren grundsätzlich nicht vorschreiben, welche Lehre sie zu vertreten haben. Eltern sollten ihren Kindern nicht grundsätzlich verbieten, eine moralisch vertretbare und medizinisch notwendige Behandlung in Anspruch zu nehmen. Schulen sollten im Allgemeinen nicht die Autorität der Eltern dahingehend untergraben, zu entscheiden, was sie ihren Kindern beibringen. „Grundsätzlich“ ist dabei ein entscheidendes Wort, denn in fast jedem Fall kann man gewisse Ausnahmen finden.
Um den Ungehorsam gegenüber einer Autorität innerhalb dieser zweiten Grenze zu rechtfertigen, habe ich keinen eindeutigen biblischen Beweistext. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass diese Art von Fall in einer Reihe von biblischen Texten auftaucht. Beispielsweise wurde Jonathan nicht bestraft, nachdem er Honig gegessen hatte, obwohl sein törichter Vater Saul jedem, der dies tun würde, göttliches Gericht versprochen hatte (vgl. 1Sam 14,44–45). Ein weiteres Beispiel ist Esther, die, obwohl es gesetzlich verboten war, vor den König trat, um für ihr Volk einzustehen (vgl. Est 4,11). Dadurch konnte sie ihr Volk retten. Vielleicht können wir sogar die Situation heranziehen, in der Jesus den Jüngern erlaubte, von den Ähren des Feldes zu essen, obwohl die Pharisäer es am Sabbat für gesetzeswidrig erklärt hatten (vgl. Mk 2,23–28).
In jedem dieser drei Beispiele brach jemand ein menschliches Gesetz. Das Gesetz kennt für diejenigen, die unter dem Gesetz lebten, keinen Befehl zur Sünde. So ist es beispielsweise keine Sünde, Ähren zu essen, wenn man durch ein Feld geht. Aber da die Pharisäer von Gott nicht die Autorität bekommen hatten zu verbieten, was sie verboten, stand es den Jüngern frei, nicht auf sie zu hören.
Die Geschichte von Rehabeam kann diese zweite Grenze weiter verdeutlichen (vgl. 1Kön 12). Einerseits war das Volk seinem König rechtmäßig untertan und musste sich ihm unterordnen. Da Rehabeam seine königliche Verantwortung, für das Volk zu sorgen und es zu vereinen, jedoch eindeutig ablehnte und stattdessen sogar darauf bestand, es zu seinen Sklaven zu machen, ließ Israel ihn im Stich und wurde von Gott nicht dafür verurteilt.[1]
Ob diese biblischen Fallbeispiele nun perfekt passen oder nicht, so räume ich doch ein, dass die Argumentation hier eher theologisch als streng exegetisch ist. Sie baut auf Schlussfolgerungen auf. Das theologische Argument ist, dass Gott keinem Menschen die unbegrenzte Autorität verleiht zu befehlen, was er will. Eltern können von ihren Kindern nicht verlangen, was sie wollen. Ebenso wenig können Pastoren, Politiker oder Polizisten es in ihrem jeweiligen Bereich. Gott gibt Menschen nur klar definierte Vollmachten für bestimmte Zwecke. Damit sind, streng genommen, alle Befehle außerhalb der von Gott gegebenen Grenzen unbefugt. Wenn ich behaupte, dass ich von dir etwas verlangen kann, obwohl Gott mich dazu nicht ermächtigt hat, missbrauche ich meine Autorität, da ich mich damit selbst „bevollmächtige“.
Diese grundlegende Rechtfertigung für Ungehorsam wird scheinbar auch im Glaubensbekenntnis der Southern Baptist Convention angedeutet. Dort heißt es in Artikel XVII: „Gott allein ist Herr über das Gewissen und er befreit es von Lehren und Geboten, die seinem Wort widersprechen oder nicht darin enthalten sind“ (Baptist Faith and Message, 2000). Das bedeutet, dass unser Gewissen frei ist von moralischen Bürden durch Gebote, die im Gegensatz zu Gottes Wort stehen (Grenze #1, s.o.). Es bedeutet auch, dass unser Gewissen frei ist von Geboten, die nicht in seinem Wort enthalten sind. Das schließt, meiner Meinung nach, auch Gebote ein, die außerhalb der Zuständigkeiten von Autoritäten aufgestellt worden sind (Grenze 2).
Es ist nicht immer klar zu erkennen, ob etwas in den Zuständigkeitsbereich einer Autorität fällt oder nicht. Hat die Regierung das Recht, von ihrem Bürger bestimmte Kleiderordnungen zu verlangen? Wenn dieser Bürger ein Soldat ist, kann sie es. Aber haben die Taliban das Recht zu verlangen, dass Frauen Burkas tragen? Ein christlicher Freund von mir sagt Ja. Ich sage Nein. Wenn ich ein Missionar in Afghanistan wäre und meine Tochter mich fragen würde, ob sie die Burka für eine geheime christliche Hochzeitszeremonie ablegen könnte und ich sicher wäre, dass sie dabei nicht erwischt wird, würde ich sagen: „Natürlich.“ Was auch immer du von dem Burka-Beispiel halten magst – ich denke, dass man unschwer erkennen kann, dass es irgendwo eine Linie oder Grenze gibt, wo jede Autorität ihre Grundlage verliert.
Grenze #3: Wenn eine Autorität uns unrechtmäßig schadet
Der dritte Fall für legitimen Ungehorsam ähnelt dem zweiten: Wir sind nicht verpflichtet, uns einer Autorität unterzuordnen, die uns zu Unrecht schadet.
Zugegeben, das Wort „Schaden“ bedarf einer Klärung. Warum sage ich außerdem „zu Unrecht schaden“ und nicht einfach „schaden“? Jede Disziplinierungsmaßnahme verursacht im tieferen Sinne des Wortes in einer gewissen Art und Weise einen „Schaden“. Wenn ich meiner Teenagerin Hausarrest erteile, „schade“ ich ihren Plänen für das Wochenende. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen einer gerechtfertigten und einer ungerechtfertigten Disziplinierungsmaßnahme. Es ist möglich, meine Tochter mit meiner Erziehungsmaßnahme „zum Zorn zu reizen“ oder sogar zu verletzen und das wäre Sünde (vgl. Eph 6,4). Wir brauchen an dieser Stelle nicht darüber zu diskutieren, wo genau die Grenze zwischen gerechtfertigter und nicht gerechtfertigter Disziplinierung verläuft, da diese Frage ganze Bände der Rechtsprechung füllen könnte. Fakt ist, dass uns allen klar ist, dass es eine Grenze gibt. Was ich an dieser Stelle sagen möchte, ist, dass eine Person moralisch nicht verpflichtet ist, sich einer Disziplinierungsmaßnahme zu unterwerfen, die diese Grenze überschreitet – sei sie sündhaft übertrieben oder unangemessen streng. Wenn ein Vater seine Faust gegen das ungehorsame Kind erhebt, sollte das Kind sich ducken, weglaufen und Hilfe suchen, selbst wenn es seinem Vater zuvor zu Unrecht widersprochen hat. Zweimal Unrecht ergibt nicht einmal Recht.
Zugegeben, ein Christ kann sich einem sündigen Unrecht unterwerfen –ein Beispiel ist die Entscheidung, Verfolgung um des Zeugnisses willen zu ertragen – , aber es steht ihm auch frei, dies nicht zu tun, wenn es eine Möglichkeit zum Entkommen gibt. Ein Mensch hat das Recht auf Selbstverteidigung, selbst gegenüber jemandem, der von Gott über ihn gestellt worden ist.
Ich kann mir vorstellen, dass der ein oder andere an folgenden Bibeltext aus 1. Petrus 2,18–19 denkt, der meinen Standpunkt zu untergraben scheint: „Ihr Hausknechte, ordnet euch in aller Furcht euren Herren unter, nicht nur den guten und milden, sondern auch den verkehrten! Denn das ist Gnade, wenn jemand aus Gewissenhaftigkeit gegenüber Gott Kränkungen erträgt, indem er zu Unrecht leidet.“ Sagt Petrus hier, dass wir uns trotz Schaden unterordnen sollen? Nicht, wenn wir diesem entgehen können. Petrus stellt hier eine Situation vor, in der Sklaven „feststecken“ und nicht die Wahl haben, ob sie die ungerechte Behandlung ertragen sollen, wie der Bibelwissenschaftler Thomas Schreiner mir am Telefon erklärte. Oder wie Schreiner es in seinem Kommentar ausdrückt: „Gläubige konnten sich nicht dagegen entscheiden, Herren zu gehorchen, die böse und unehrbar waren.“ „Normalerweise“, so Schreiner, sollten Sklaven, die auf diese Weise feststecken, „tun, was ihre Herren befehlen.“ Das bedeutet, dass du gute Arbeit für deinen Herrn leisten sollst, auch wenn er regelmäßig gegen dich sündigt. Das ist es, was Petrus mit „seid untertan“ meint. Petrus sagt hier nicht, dass „Herren absolute Autorität über Sklaven ausüben“ oder dass „christliche Sklaven sich an bösen Dingen beteiligen oder einem korrupten Herrn in seiner bösen Handlungsweise folgen sollen“. Vielmehr berät Petrus Menschen in „ausweglosen“ Situationen, die in der antiken Welt durchaus üblich waren, und ermutigt sie, sich am Beispiel Christi zu orientieren, der „sich dem anvertraute, der gerecht richtet“, auch wenn sie von der Welt um sie herum ungerecht behandelt werden (vgl. 1Petr 2,23).[2]
Ebenso wie Petrus Menschen berät, die in einer bestimmten Situation feststecken, sagt Paulus den Sklaven, dass sie ihre Freiheit erlangen sollen, wenn sie es können (vgl. 1Kor 7,21). Wenn ein Mensch Schaden vermeiden kann, sollte er es auf jeden Fall tun. Er muss sich nicht dem Missbrauch oder Schaden unterwerfen, wenn er es umgehen kann. Auch Mose befahl den Israeliten, einen Sklaven nicht zu seinem Herren zurückzubringen, wenn er geflohen war (vgl. 5Mose 23,15–16). David floh immer und immer wieder vor Saul. Jesus fragte einen Offizier: „Warum schlägst du mich?“ (Joh 18,23). Und Paulus wehrte sich gegen seine öffentlichen Schläge und forderte eine Entschuldigung (vgl. Apg 16,37.39). In jedem dieser Szenarien stellte jemand – einschließlich Jesus selbst – eine ansonsten „legitime“ Autorität aufgrund von Anwendung körperlicher Gewalt entweder infrage oder lehnte sie ab.
„Die Tatsache, dass es Grenzen gibt, wie weit wir uns den von Gott gegebenen Autoritäten unterordnen sollten, bedeutet, dass es keine ‚letzte‘ Autorität auf Erden gibt. Gott allein ist immer unsere endgültige Autorität.“
Wie oben bereits erwähnt, gibt es Zeiten, in denen sich Christen um des Evangeliums willen dafür entscheiden zu bleiben und Schaden oder Verfolgung zu erdulden. Cyprian floh während der Verfolgung unter Decius im Jahre 250, um sich in Sicherheit zu bringen. Während der Verfolgung im Jahre 256 unter Valerian entschied er sich jedoch zu bleiben, was ihn das Leben kostete. Ich denke, dass beides moralisch legitime Entscheidungen waren und es ihm freistand, eine von beiden zu treffen. Auch in anderen Fällen lieferten sich Menschen bereitwillig einem Schaden aus, um etwas zu erreichen. Ein Beispiel dafür sind die Bürgerrechtler, die sich am „Bloody Sunday“ im März 1965 auf der Edmund-Pettus-Brücke in Selma, Alabama, den Schlagstöcken der Polizei unterwarfen. Trotzdem ist dies etwas anderes als zu sagen, dass Menschen, die unter verschiedenen Arten von formell legitimen Autoritäten stehen, sich dem Schaden dieser Autoritäten unterwerfen müssten. Ich glaube nicht, dass die Bibel das lehrt.
Die Tatsache, dass es Grenzen gibt, wie weit wir uns den von Gott gegebenen Autoritäten unterordnen sollten, bedeutet, dass es keine „letzte“ Autorität auf Erden gibt. Gott allein ist immer unsere endgültige Autorität.
1Herzlichen Dank an dieser Stelle an Samuel James für dieses Beispiel.
2Thomas R. Schreiner, 1-2 Peter and Jude, Christian Standard Commentary, Nashville: Holman, 2020, S. 151.