Bibelverse auf mein Leben „anzuwenden“ kann gefährlich sein

Artikel von Ty Kieser
17. November 2023 — 9 Min Lesedauer

Vor einigen Jahren arbeitete ich für einen Hauskreis eine Bibelarbeit zu Lukas 14,26 aus. Ich ging dabei nach den Schritten vor, die von meiner Gemeinde empfohlen wurden. Wie es in heutigen Anleitungen zum Bibelstudium üblich ist, endete das Ganze mit der „Anwendung“ (d.h. der Frage: „Wie kannst du dies auf dein Leben anwenden?“). Ich hatte jedoch Schwierigkeiten zu verstehen, wie ich die Aufforderung Jesu „hasst … dazu auch [euer] eigenes Leben …“ auf „mein Leben anwenden“ sollte.

Mir wurden die Grenzen dieser direkten „Anwendung“ (zumindest so, wie es mir nahegelegt worden war) bewusst, als ich mit diesem Text rang. In der gesamten Schrift ruft uns der Herr zu mehr auf, als bloß kleine Anpassungen und Feinoptimierungen an unserem ohnehin schon stabilen Leben vorzunehmen. Im Gegenteil, Jesu Aufforderung in Lukas 14 (und in der gesamten Schrift) geht tiefer und weiter und ist viel praktischer, als es das Wort „anwenden“ überhaupt greifen kann.

Drei häufige und falsche Annahmen

Es geht mir nicht darum, die Bedeutsamkeit des „Auslebens der christlichen Lehre“ infrage zu stellen. Tatsächlich verändert das Evangelium Jesu Christi jeden Teil unseres Leben durch die Kraft des Heiligen Geistes, und die Bibel hilft uns zu sehen, wie sich das praktisch in unserem Leben niederschlagen kann.

Meine große Sorge ist, dass das Wort „anwenden“ falsche – und auch gefährliche – Annahmen in sich bergen kann, wie man an die Bibel herangeht. Auf drei davon möchte ich kurz eingehen.

Annahme #1: Ich beginne bei mir und meinen Fragen

Eine Sache anzuwenden impliziert, dass man ein Objekt benutzt, um eine Person und ihre Absichten zu unterstützen (z.B. beim Anwenden einer Sonnenschutzcreme oder einer Technik zur Produktivitätssteigerung). „Die Schrift anzuwenden“ kann daher zur Folge haben, dass ich meine eigene Person und mein Leben als Startpunkt nehme – von dem aus ich dann das äußere Objekt der biblischen Wahrheit für mich benutzen kann. Wir beginnen oftmals mit unserer eigenen Wahrnehmung der Welt und lesen dann die Bibel, um herauszufinden, „was es für mich bedeutet“, wie es unser Leben anspricht, unsere Fragen und unsere Probleme.

Die Gefahr bei dieser Annahme liegt darin, dass ich mich selbst zum Zentrum des interpretatorischen Sonnensystems mache, da sich alles um mich und mein Leben dreht. Je mehr sich eine Wahrheit auf mein Leben „anwenden“ lässt, umso mehr Schwerkraft hat sie. Alles andere jedoch, was scheinbar nicht angewandt werden kann, wird abgelehnt und zum „Weltraumschrott“ degradiert.

Alternative #1: Beginne bei Gott

Anstatt unsere Fragen und Annahmen das erste Wort haben zu lassen und damit die biblische Erzählung in den Schatten zu stellen, können wir mit Gottes Geschichte und der Realität einer Welt beginnen, die er gegründet hat. Wir beginnen, die Schriften zu lesen und darin Gott als grundlegende Realität zu sehen, ebenso wie die Bibel ihre eigene Erzählung beginnt: „Im Anfang schuf Gott …“ (1Mose 1,1).

„Anstatt unsere Fragen und Annahmen das erste Wort haben zu lassen und damit die biblische Erzählung in den Schatten zu stellen, können wir mit Gottes Geschichte und der Realität einer Welt beginnen.“
 

Das bedeutet keineswegs, dass wir unsere Fragen und Probleme nicht vor Gott ausbreiten dürfen, wenn wir die Schrift lesen (und uns z.B. bestimmten Psalmen zuwenden in Momenten des Schmerzes, der Angst oder Trauer oder bei der Familienandacht die Sprüche lesen, um Weisheit zur Gewohnheit werden zu lassen). Es bedeutet allerdings, dass wir „zuerst nach dem Reich Gottes trachten“ (Mt 6,33) und unsere Fragen und Probleme an dieser Orientierung ausrichten. Wir sollten die, wie Dietrich Bonhoeffer es formulierte, „unbiblische“ Suche nach einer Lösung vom „menschlichen Blickpunkt“ aus vermeiden.[1]

Wenn wir uns innerhalb der Geschichte Gottes – der wahren Geschichte – bewegen, werden unsere Fragen mit hoher Wahrscheinlichkeit angesprochen werden. Es ist aber ebenso möglich, dass die Antwort des Herrn an uns – wie auch seine Antworten an Hiob und Petrus (vgl. Hiob 38–41; Joh 21–22) – keine direkte Antwort auf unsere Fragen oder gar eine unmittelbare Lösung auf unsere Probleme sein wird, sondern eine noch viel größere Lösung: seine Gegenwart.

Annahme #2: Die Bibel ist (hauptsächlich) eine Sammlung von Prinzipien

Eine oberflächliche Herangehensweise beim Anwenden des Bibeltextes führt dazu, dass wir bestimmte Vorannahmen über das Objekt unserer Suche machen. Wir gebrauchen die Bibel als eine Art Schlüssel zur Lösung unserer Frage, als eine Sammlung von Prinzipien oder „ewigen Wahrheiten“, die nur darauf warten, von uns „entdeckt“ und „angewandt“ zu werden. Wir lesen biblische Geschichten, Lyrik, Prophetien, Briefe und Endzeitliteratur und fragen dann: „Welche Perle kann ich daraus für mich mitnehmen?“ Manchmal scheint es fast so, dass die Schrift besser zu uns passte, wenn sie in Form einer Excel-Tabelle daherkäme – mit Listen voll von Anweisungen, Regeln, Lebensprinzipien und Fakten über die Welt. Über die Tastenkombination Strg+F könnten wir so für jede Situation schnell etwas in der Datei finden.

Der reiche Jüngling kam zu Jesus, um eine neue Einsicht für sein sowieso schon respektables Leben zu bekommen (vgl. Mk 10,17–22) – genauso schauen wir in der Schrift nach einem Prinzip, das wir auf unser Leben, unsere Arbeit oder als Aufkleber auf unsere Heckscheibe übertragen können. Wenn wir so vorgehen, verpassen wir aber womöglich auch die Einladung Gottes in der Schrift, die unser ganzes Leben umfasst.

Alternative #2: Die Schrift ist die (grundlegende) Erzählung von Gott und seinem Werk

Versuche ich, die Schrift hauptsächlich als eine Sammlung von Prinzipien zu sehen, beraube ich sie ihrer lebendigen und wirksamen Kraft (vgl. Hebr 4,12). Gibt es denn Prinzipien in der Schrift? Gewiss – hauptsächlich jedoch berichtet sie darüber, wer Gott ist und was er getan hat, um die Schöpfung von den zerstörerischen Auswirkungen der Sünde zu erlösen.

„Gibt es denn Prinzipien in der Schrift? Gewiss – hauptsächlich jedoch berichtet sie darüber, wer Gott ist und was er getan hat, um die Schöpfung von den zerstörerischen Auswirkungen der Sünde zu erlösen.“
 

Die Schrift ist, wie es heute oft gesagt wird, die „Geschichte“ bzw. das „Drama“ Gottes. Wir sollten nicht bloß die Prinzipien aus der Geschichte herauspicken (so als wäre das Prinzip der Kern und die Geschichte nur eine wertlose Hülle), sondern uns von dem Wesen der Geschichte einnehmen lassen (mit unserem ganzen Selbst) und ihrem Autor begegnen.

Annahme #3: Das Ziel des Bibellesens ist es, mein Leben zu optimieren

Wenn ich mit dieser Vorstellung an die Bibel herangehe, gleicht das Anwenden des Bibeltextes eher einem göttlichen Stempel, der mir meine eigenen Ziele für meinen eigenen Vorteil absegnet. Das führt dazu, dass es unzählige (gute und schlechte) Bücher und Predigten gibt, die mir den „biblischen Weg“ zu allen möglichen Themen erklären (zu Geld, Wahlen, Mode, Kindererziehung, Arbeit, Ernährung usw.). Wenn ich mich erstmal an diese Art der Anwendung gewöhnt habe, öffne ich meine Bibel und schaue sofort nach meinem persönlichen Nutzen aus den Worten der Schrift – wie z.B. drei Dinge zum Verinnerlichen oder eine kleine Verhaltensänderung, die ich unmittelbar vornehmen sollte.

So ist es wenig überraschend, dass wir es schwierig finden, die Aspekte und Stellen der Schrift wertzuschätzen, bei denen sich uns eine Anwendung nicht direkt erschließt: die eigenartigen Geschichten des Alten Testaments, die zeremoniellen Gewohnheiten Israels oder die endzeitlichen Erwartungen der Urgemeinde. Die Gemeinden sollten solche Texte aber nicht meiden, nur weil sie kaum auf unsere Situation anwendbar erscheinen. Ganz im Gegenteil – diese Bibelstellen sollten als Bestandteil der Geschichte Gottes und seines Wirkens wertgeschätzt werden – der Geschichte Gottes zur Erlösung der Schöpfung.

Stell dir vor, du fragst eine Freundin, wie ihr Tag war, und nach zwei Minuten ihrer Zusammenfassung unterbrichst du sie und sagst: „Warte mal, wie kann ich das denn auf mein Leben anwenden?“ Im menschlichen Zusammenleben tun wir so etwas nicht, aber Gott gegenüber scheint es okay zu sein. Wir tauschen das Festmahl der Beziehung und Intimität und der ganzheitlichen (Charakter-)Bildung, wozu Gott uns einlädt, gegen das trockene Brot der bloßen Verhaltensänderung und eines optimierten Lebens ein.

Alternative #3: Das Ziel des Bibellesens ist Gemeinschaft mit Gott

Wenn wir nach Prinzipien suchen, wie wir unser Leben verbessern können, weil wir bei unseren Problemen und unserer Perspektive beginnen, verpassen wir in der Schrift oft Gottes Einladung, ihn zu kennen und mit ihm Gemeinschaft zu haben. Gott offenbart sich uns in der Schrift, nicht um in erster Linie einige Aspekte unseres Leben nach unseren Vorstellungen besser werden zu lassen, sondern um uns zu ihm selbst zu führen; um uns seine Liebe zu zeigen und seine Sehnsucht danach, mit uns zusammen zu sein.

„Gott offenbart sich uns in der Schrift, nicht um in erster Linie einige Aspekte unseres Leben nach unseren Vorstellungen besser werden zu lassen, sondern um uns zu ihm selbst zu führen.“
 

Hier finden wir wahren „Fortschritt“, das überfließende Leben in Jesus (vgl. Joh 10,10). Wir gelangen jedoch nicht zu diesem überfließenden Leben durch schrittweises Einhalten von Lebenstipps, um unseren eigenen Zielen nach unseren eigenen Vorstellungen näher zu kommen. Wir sterben uns selbst und finden unser Leben in Christus (vgl. Gal 2,20); wir fokussieren alle Aspekte unseres Seins auf Gott und die Gemeinschaft mit ihm.

Unser Lesen neu ausrichten

Ich habe die Schrift (und den Gott der Schrift) mehr lieben gelernt, nachdem ich die drei oben genannten falschen Annahmen auf den Kopf gestellt habe. Wenn wir unser Bibellesen neu ausrichten, gestaltet es sich mehr wie das Lesen einer guten Autobiographie als einer Bedienungsanleitung. Das Lesen der Schrift sollte nicht nur einen Aspekt unseres Charakters verändern oder dazu führen, dass wir ein bisschen Zeit opfern. Es sollte uns daran erinnern, dass Jesus uns beruft, alles aufzugeben (vgl. Phil 3,8–10), sogar unser Leben (vgl. Lk 14,26), sodass er alles an uns verändern kann (vgl. 1Thess 5,23).

Dorothy L. Sayers schrieb dazu: „Es ist mit Sicherheit nicht die Aufgabe der Kirche, Christus den Menschen anzupassen, sondern die Menschen an Christus.“[2] Wenn wir also wählen müssen zwischen „die Bibel auf unser Leben anwenden“ und „unser Leben auf Gottes Geschichte anwenden“, lädt Sayers uns ein, das Letztere zu erwägen – uns nach Gott auszurichten, nach seiner wahren Geschichte mit der ganzen Welt und nach der Gemeinschaft mit ihm.


1Dietrich Bonhoeffer, Ethics: Vol. 6, Fortress Press, 2008.

2Dorothy Sayers, Letters to a Diminished Church: Passionate Arguments for the Relevance of Christian Doctrine, Thomas Nelson Publishing, 2004.