Die Allgegenwart Gottes
Wie kann der unendliche Gott innerhalb von Raum und Zeit überall präsent sein?
Gottes Allgegenwart ist entscheidend dafür, wie wir Gott erfahren. Seine Allgegenwart, auch Omnipräsenz genannt, ist die Art und Weise, wie wir Gottes unendliches Wesen wahrnehmen. Unendlich zu sein bedeutet, unbegrenzt zu sein. Und ohne Grenzen zu sein bedeutet, unserer Wahrnehmung nach „allgegenwärtig“ zu sein. Wir Menschen sind durch Raum und Zeit begrenzt, können aber innerhalb dieser Grenzen die Gegenwart des Gottes, der mit uns ist, erfahren. Zwar ändern sich die Umstände unseres Lebens, aber wir spüren, dass er immer in unserer Nähe ist. Das ist die Lehre von Psalm 139,7–10, Jeremia 23,23–24 und Römer 8,38–39. Nichts, was im Himmel und auf Erden ist, kann uns von der Liebe Gottes trennen. Wo seine Liebe ist, da ist auch er.
Wenn wir auf unser tägliches Leben mit Gott blicken, verstehen wir, wie wichtig das ist. Seine Versprechen, uns zu retten und uns zu beschützen, würden leer erscheinen, falls Gott, wenn wir ihn brauchen, nicht gegenwärtig und erreichbar wäre. Die Beziehung zu ihm könnte nicht richtig gelingen. Wie sollten wir uns auf ihn verlassen, wenn wir nicht wüssten, wo er ist?
Wo ist Gott in Leidenszeiten?
Es stimmt zwar, dass sich manche Christen fragen, wo Gott inmitten des Leidens ist. Viele haben von der „dunklen Nacht der Seele“ gesprochen und damit das Gefühl beschrieben, dass Gott weit weg scheint und uns vergessen hat. Dies ist eine reale geistliche Erfahrung, die wir nicht abtun oder ihre Bedeutung herunterspielen dürfen.
„Er formt und lenkt uns auf Ebenen unseres Seins, die unser Verständnis übersteigen. Es kann durchaus sein, dass wir erst im Rückblick erkennen, dass er in und an uns gewirkt hat.“
Laut der Bibel liegt das Problem allerdings nicht bei ihm, sondern bei uns, wenn wir das Gefühl haben, Gott sei weit von uns entfernt. Vielleicht haben wir unseren Verstand ihm gegenüber verschlossen. Vielleicht hat er – aus Gründen, die nur er kennt – aufgehört, zu uns zu reden. Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen und es gibt Zeiten, in denen unser Glaube bis an seine Grenzen geprüft wird. Das heißt freilich keineswegs, dass Gott nicht in uns und unter uns gegenwärtig ist. Gott arbeitet vielleicht gerade dann in unserem Leben auf eine tiefgründige Art und Weise, derer wir uns gar nicht bewusst sind. Er formt und lenkt uns auf Ebenen unseres Seins, die unser Verständnis übersteigen. Es kann durchaus sein, dass wir erst im Rückblick erkennen, dass er in und an uns gewirkt hat. Selbst Jesus fühlte sich am Kreuz verlassen (vgl. Mt 27,46; Mk 15,34). Doch wir wissen, dass sein Vater bei ihm war und dass Jesus sich am Ende seines Leidens der liebevollen Fürsorge seines Vaters anvertraute (vgl. Lk 23,46). Was für die Gegenwart Gottes bei ihm galt, gilt auch für die Gegenwart Gottes bei uns, selbst wenn wir sie im Moment gar nicht wahrnehmen können.
Wie wirkt die Allgegenwart Gottes?
Wie wirkt die Allgegenwart Gottes eigentlich? Manche Menschen glauben, dass Gott in allem gegenwärtig ist und dass alles in irgendeiner Weise Teil von ihm ist. Diese Vorstellung nennen wir Pantheismus. Demnach ist alles göttlich. Etwas subtiler ist der Panentheismus, also der Glaube, dass Gott alles durchdringt, ohne dass es eine Erweiterung seines eigenen Wesens ist. Ähnlich verhält es sich mit der von manchen vertretenen Auffassung, Gott sei wie die Luft oder eine Art Gas, das die Welt durchdringt und dessen Anwesenheit spürbar ist, selbst wenn sie nicht erklärt oder mit unseren Sinnen wahrgenommen werden kann.
Das grundsätzliche Problem bei solchen Ansätzen ist, dass sie den Unterschied zwischen Gottes Wesen und dem Wesen seiner Schöpfung nicht verstehen oder berücksichtigen. Gott hat die Welt nicht als eine Erweiterung seiner Selbst geschaffen, und er durchdringt sie nicht in irgendeiner Weise. Der Schöpfer ist völlig anders als alles, was er geschaffen hat. Sein Wesen gleicht nicht dem Wesen seiner Schöpfung. Selbst die geistigen Geschöpfe (Engel und Dämonen), die Gott ähnlicher sind als das materielle Universum, sind endlich und unterscheiden sich in dieser Hinsicht von ihm. Als Menschen haben wir nicht aufgrund unserer Schöpfung Kontakt zu Gott, sondern – was uns vom Rest der Schöpfung unterscheidet – aufgrund unserer Gottesebenbildlichkeit (vgl. 1Mose 1,26–27).
„Als Menschen haben wir nicht aufgrund unserer Schöpfung Kontakt zu Gott, sondern – was uns vom Rest der Schöpfung unterscheidet – aufgrund unserer Gottebenbildlichkeit.“
Weil unser Verstand jedoch endlich ist, können wir nur endliche Begriffe verwenden, um über ihn zu sprechen. Wir wissen, dass wir dabei Analogien benutzen. Innerhalb der Grenzen unseres begrifflichen Rahmens können wir zwar sagen, dass Gott so oder so ist, aber letztlich ist er anders als alles, was wir uns vorstellen können – und unendlich viel besser als alles.
Wie kann Gott an bestimmten Orten wohnen?
Problematischer sind die zahlreichen Behauptungen in der Bibel, insbesondere im Alten Testament, die besagen, dass Gott seinen Namen an bestimmten Orten wohnen lässt, was bedeutet, dass er dort in größerem Maße präsent ist als anderswo. Wir finden diese Behauptungen nicht nur in den fünf Büchern Mose (vgl. 2Mose 20,24; 5Mose 12,5), sondern auch in den Geschichtsbüchern (vgl. 2Chr 6,6) und in den Propheten (vgl. Hab 2,20). Sehr oft beziehen sie sich auf Jerusalem, die Stadt, in der Gott seinen Namen wohnen lässt, insbesondere im Tempel. Habakuk zum Beispiel sagt ganz klar, dass der Herr in seinem heiligen Tempel gegenwärtig ist und dass die ganze Erde vor ihm schweigen muss.
Wie sollen wir das verstehen? Jesaja 66,1 erinnert uns daran, dass der Tempel Gott nicht fassen kann. Wenn wir also in diesem Sinne darüber denken, würde das dem widersprechen, was Habakuk aussagt. Die Deutung muss wohl lauten, dass Gott bestimmte Orte, insbesondere den Tempel, als Stätten bestimmt hat, an denen seine gesegnete Gegenwart in besonderer Weise wohnt, an denen er von seinem Volk angebetet werden soll und an denen er ihnen antworten wird. Dies geschah nicht, weil er nicht auch anderswo gegenwärtig war, sondern weil das Volk einen Ort brauchte, an dem es zusammenkommen und seine Anbetung bündeln konnte. Das ist auch heute noch so. Wir versammeln uns in der Kirche nicht, weil Gott dort anwesend und anderswo abwesend ist, sondern weil wir einen Ort brauchen, an dem jeder erkennt, dass er der Anbetung Gottes gewidmet ist. Wir tun dies zu unserem Vorteil und als Zeugnis für unsere Mitmenschen, nicht weil Gott an einem Ort gegenwärtig ist und an einem anderen nicht.
Die Worte, die wir verwenden, spiegeln die begrenzten begrifflichen Fähigkeiten unseres Verstandes wider, nicht die Realität von Gottes Wesen. Er erscheint uns in den Dimensionen von Zeit und Raum als allgegenwärtig, weil er in seinem ewig transzendenten Selbst unendlich ist. Seine Allgegenwart – wie wir sie wahrnehmen – ist der äußere, praktische Ausdruck seiner Unendlichkeit, der uns einen Sinn davon vermitteln soll, ohne das unbegreifliche Wesen Gottes zu schmälern.