Rechtfertigung und die protestantische Reformation
Luther und die Rechtfertigung in der Reformation
Die grundlegenden Elemente und Anliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre wurden von Martin Luther (1482–1546) formuliert und entsprangen einerseits seinem Ringen mit der Frage, wie er, ein Sünder, vor einem heiligen Gott bestehen kann, andererseits aber auch seiner akademischen Beschäftigung mit dem Römerbrief und den Psalmen sowie seiner pastoralen Sorge über die scheinbare Loslösung der Gnade Gottes von jeglicher Art innerer Buße, wie das der Ablasshandel von Johann Tetzel (ca. 1465–1519) nahelegte. Das Zusammenspiel dieser drei Einflüsse brachte Luther in den Jahren von 1515 bis 1520 dazu, seine Lehre von der Rechtfertigung zu entwickeln, die das Herzstück seines theologischen Projekts ausmacht.
Auch wenn uns der populäre Luther-Mythos – angetrieben von Luthers eigenen späteren (und falschen) autobiographischen Aussagen – glauben machen will, dass er beim Studium von Römer 1,17 einen plötzlichen Durchbruch erlebte, entwickelte sich seine Position in Wahrheit über einen längeren Zeitraum hinweg und war das Resultat einer Reihe von untergeordneten Veränderungen in einigen Bereichen seines Denkens. Er stand vor allem in der theologischen Tradition der mittelalterlichen via moderna, für die der Übergang in den Zustand der Gnade das Ergebnis einer Erklärung Gottes war, nicht eine Folge der intrinsischen Gerechtigkeit des Individuums. Allerdings wies Luther die Vorstellung der via moderna zurück, dass gefallene Menschen sich ausreichend anstrengen könnten, um diese Erklärung zu erwirken: Seine Paulusstudien führten ihn zu der Überzeugung, dass die Taufe Tod und Auferstehung symbolisierte und gefallene Menschen somit moralisch tot und völlig unfähig sind, irgendeine Hinwendung auf Gott hin zu bewirken. Diese Position entwickelte er mit großer polemischer Schärfe in Vom unfreien Willen, seiner Replik auf Erasmus (1466–1536) aus dem Jahre 1525.
Für Luther zeigt sich diese Unfähigkeit in seiner berühmten Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium, ein Thema, das in seiner Heidelberger Disputation von 1518 am spektakulärsten zum Ausdruck kommt und sein weiteres Denken prägt. Die Aufgabe des Gesetzes besteht hier lediglich darin, den Menschen auf seine Pflicht vor Gott und seinen Mitmenschen hinzuweisen, ohne die Kraft zur Erfüllung dieser Pflicht bereitzustellen. Seine einzige Funktion besteht daher darin, ihn vor Gott zu verdammen. Im Gegensatz dazu ist das Evangelium ein Heilsversprechen, das einfach nur geglaubt werden muss. Das schließt dann an Luthers Verständnis des Werkes Christi an: Christus hat das Gesetz erfüllt und die Strafe auf sich genommen; denjenigen, die an ihn glauben, wird dieser stellvertretende – oder, um Luthers Begriff zu verwenden: fremde – Gehorsam angerechnet. Somit stehen sie völlig gerecht vor Gott, allerdings auf der Grundlage der extrinsischen Gerechtigkeit Christi. Dass die Welt sie nicht als solche erkennt, ist nur zu erwarten, da die Gerechtigkeit Christi am Kreuz verborgen war – für die Juden ein Anstoß und eine Torheit für die Griechen.
Auch wenn die Kirche zur Zeit Luthers keine formale Definition von Rechtfertigung hatte und Luthers Position darum nicht als häretisch eingestuft werden konnte, war es dennoch so, dass dieses Rechtfertigungsverständnis einen tödlichen Angriff auf die Autorität der Kirche darstellte, weil es die Autorität des Priesters unterminierte, indem es anstelle der Sakramente den Glauben zum Instrument der Errettung machte. Außerdem ging damit eine liturgische Neuorientierung einher, die die volkssprachliche Schriftlesung und die Predigt, nicht die Messe, ins Zentrum des Gottesdienstes rückte.
Obwohl die reformatorische Rechtfertigungslehre wegen ihres deklaratorischen Charakters und der Rolle, die sie der rechtlichen Verurteilung zuweist, oft als forensisch charakterisiert wird, hat Luther selbst seine Position in ehelichen Begriffen formuliert: Christi Gerechtigkeit und die Sünden des Gläubigen werden durch die Vereinigung im Glauben freudig ausgetauscht, so wie der Besitz eines Bräutigams und der Braut mit dem Bund der Ehe in den Besitz des jeweils anderen übergehen. Es war Philipp Melanchthon (1497–1560), Luthers jüngerer Kollege, der die spezifischere forensische Sprache entwickelte, wobei klar ist, dass Luther keine Spannung zwischen seinem Ansatz und dem seines Freundes sah – sowohl eheliche als auch forensische Analogien waren legitime Ausdrucksweisen derselben biblischen Wahrheit.
Auch wenn Luthers Rechtfertigungsverständnis kein wichtiger Faktor in der reformierten Theologie der frühen Züricher Reformation unter Ulrich Zwingli (1484–1531) gewesen zu sein scheint, wurde die Rechtfertigungslehre bald schon zu einem normativen Bestandteil reformierter Theologie, wie in den Werken von Martin Bucer (1491–1551), Heinrich Bullinger (1504–1575), Johannes Calvin (1509–1564) und anderen zu sehen ist. Sie war auch Gegenstand ständiger Kontroversen zwischen den Reformatoren und der römisch-katholischen Kirche; nicht einfach nur aufgrund ihrer Implikationen für die Autorität der Kirche, sondern auch wegen ihrer vermeintlichen biblischen und praktisch-seelsorgerlichen Schwächen.
„Luthers Rechtfertigungsverständnis stellte einen tödlichen Angriff auf die Autorität der Kirche dar, weil es die Autorität des Priesters unterminierte, indem es anstelle der Sakramente den Glauben zum Instrument der Errettung machte.“
Aus biblischer Sicht schien Luthers Ansatz den Lehren des Jakobusbriefs zu widersprechen. Luther selbst begegnete dieser Schwierigkeit mit einer typischen dramatischen Fanfare: Er verlieh dem Buch einfach einen deutero-kanonischen Status. Andere Protestanten, darunter Melanchthon, waren nicht bereit, die Angelegenheit auf solch drastische Weise zu lösen. Stattdessen interpretierten sie Jakobus auf eine Art und Weise, die seine Lehre mit der von Paulus harmonisierte, indem sie die Untrennbarkeit der Rechtfertigung durch den Glauben und Werke als ein äußeres Zeichen wahren Glaubens betonten.
Das hing auch mit der scheinbaren praktisch-seelsorgerlichen Schwäche der Position zusammen: So sehr sie sich auch bemühten, fanden sich Protestanten dem römisch-katholischen Vorwurf ausgesetzt, dass ihr Verständnis von Rechtfertigung unweigerlich die Notwendigkeit guter Werke untergrabe und unaufhaltsam auf einen Antinomismus zusteuere. Der Luther der frühen 1520er Jahre hatte argumentiert, dass gute Werke die natürliche Folge der Dankbarkeit gegenüber Gott für das Werk Christi seien, aber mit den Jahren wurde klar, dass die Realität komplexer war. Die Lutheraner wurden bereits in den späten 1520er Jahren mit ihrer eigenen antinomischen Krise konfrontiert. Das Resultat war Luthers Abfassung des Kleinen Katechismus (1529), in dem er den Gegensatz von Gesetz und Evangelium in typisch gegensätzlichen Begriffen darstellte, aber genau darlegte, welche Pflichten das Gesetz verlangte. Damit verwies er implizit auf die dem Gesetz zugrundeliegenden Prinzipien als Leitfaden für das öffentliche Leben.
Die reformierte Theologie wurde während des gesamten 16. und 17. Jahrhunderts von diesem Problem verfolgt, wie zum Beispiel die Kontroverse über die posthume Veröffentlichung der Werke von Tobias Crisp (1600–1643), die Auseinandersetzung zwischen Richard Baxter (1615–1691) und John Owen (1616–1683) sowie die Debatten über die Imputation bzw. Zurechnung auf der Westminstersynode zeigten. Das ist auch der Grund, warum die Debatten über das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung innerhalb der Grenzen des orthodoxen Protestantismus bis zum heutigen Tag andauern.
Regensburg, Trient und der spätere reformierte Protestantismus
Delegierte von allen Seiten unternahmen 1541 mit dem Regensburger Religionsgespräch den Versuch, das katholische und protestantische Rechtfertigungsverständnis miteinander zu versöhnen und eine Einigung zu erzielen. Der päpstliche Legat war Kardinal Gasparo Contarini (1483–1542) und sowohl Bucer als auch Calvin waren als protestantische Vertreter anwesend. In Regensburg selbst wurde zwar eine gewisse Einigung erzielt, Luther jedoch (der nicht anwesend war) war von dem Ergebnis nicht überzeugt. Als der Papst dann die Ergebnisse entschieden zurückwies, war jede Hoffnung auf eine Wiedervereinigung endgültig dahin.
Die offizielle römisch-katholische Antwort auf Luthers Lehre erfolgte in der sechsten Sitzung des Konzils von Trient (1545–1563), in der das Konzil festhielt, dass die Rechtfertigung das Ergebnis der Kooperation zwischen Gott und den Menschen sei (und damit die radikale anti-pelagianische Grundlage der protestantischen Soteriologie zurückwies) und durch Anteilgabe, nicht Zurechnung, der Gerechtigkeit Christi erfolge, in der die Sakramente eine zentrale instrumentelle Rolle spielen. Darüber hinaus lehnte das Konzil auch das protestantische Konzept einer persönlichen Gewissheit ab, die die moralischen Imperative des christlichen Lebens untergrabe.
Der post-trientinische orthodoxe Protestantismus des 16. Jahrhunderts verblieb innerhalb des von Luther gesetzten Grundrahmens, ohne dass es an diesem Punkt zu größeren Unterschieden zwischen der lutherischen und der reformierten Tradition kam. Tatsächlich behauptete der reformierte Theologe Zacharias Ursinus (1534–1583) in seinem Vorwort zu seinem Kommentar zum Heidelberger Katechismus, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium grundlegend für eine korrekte Exegese und Theologie ist. Unterschiede gab es in der Frage des Status und des Wesens der Heiligung und damit der Rolle des Gesetzes im Leben der Kirche. Auch wenn beide Traditionen (zumindest das Luthertum nach Luther) dem Gesetz drei Rollen zuwiesen (pädagogisch, zivil und moralisch), wurde die dritte Verwendung – die Verwendung des Gesetzes als moralische Richtschnur zur Regelung des Verhaltens des Gläubigen – in der reformierten Theologie positiver bewertet als im Luthertum. Das liegt vor allem an der zentralen Rolle, die die Dialektik von Gesetz und Evangelium und die Rechtfertigungslehre in der lutherischen Dogmatik einnehmen und auch (wie so oft im Luthertum) an der dominierenden Rolle, die das Leben und die Lehre Luthers selbst bei der Gestaltung der Lehre und der Prioritäten der Tradition gespielt haben. Das Problem der Heiligung blieb jedoch ein Thema für Protestanten und beherrschte (wie oben erwähnt) weiterhin die innerprotestantischen Diskussionen und die römisch-katholische Polemik.
Bedeutung
Auch wenn viele Protestanten wie John Owen bereit waren und und noch bereit sind, anzuerkennen, dass einige römische Katholiken auf der von ihnen geleugneten Grundlage gerettet wurden und werden (die durch den Glauben empfangene Rechtfertigung durch Christi Gerechtigkeit), bleibt die Rechtfertigung ein zentraler Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten, der sich auf alle Bereiche – von der kirchlichen Autorität über die Sakramente und die Liturgie bis hin zu den guten Werken – auswirkt.
„Die Rechtfertigung als Kernstück des Bruchs in der westlichen Kirche im 16. Jahrhundert muss für alle heutigen Diskussionen über die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten zentral bleiben.“
Auch wenn die Luther zugeschriebene Behauptung, dass die Rechtfertigung der Artikel des Glaubens ist, mit dem die Kirche steht und fällt, übertrieben ist (es gibt zahlreiche Artikel, wie z.B. die Dreieinigkeit, die ebenfalls wesentlich sind), ist doch klar, dass die Rechtfertigung als Kernstück des Bruchs in der westlichen Kirche im 16. Jahrhundert für alle heutigen Diskussionen über die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten zentral bleiben muss.
Literaturhinweise
- Matthew Barrett, The Doctrine on which the Church Stands or Falls (Crossway)
- Michael Horton, Justification, 2 Bände (Zondervan)
- Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen
- Dekret über die Rechtfertigung auf dem Konzil von Trient (1547)