Die Reformatoren haben nichts Neues erfunden
Martin Luther war ein Mann des Mittelalters, mit einer Zunge so scharf wie ein Ritterschwert. Am Ende seines Lebens schwang er diese Klinge, um die Anklage, die er vielleicht am meisten hasste, aus der Welt zu schaffen: Die Reformation sei eine abweichende Sekte und neuartige Häresie, ein klarer Bruch mit der Katholizität (oder Universalität) der Kirche.
Der Stachel dieser Anschuldigung, die von Herzog Heinrich von Braunschweig erhoben wurde, schmerzte, weil der Reformator seine besten Jahre damit verbracht hatte, das Gegenteil zu beweisen.
1541 reagierte er in der Schrift „Wider Hans Worst“ auf die Anschuldigung. Er bezeichnete den Herzog darin als „Hanswurst“, einen albernen Faschingskasper, der eine fette Bockwurst am Gürtel trug. Seine Begründung: Die Anklage sei ebenso lächerlich wie der Kasper selbst. Aber Luther schrieb mit dem ganzen Ernst eines Mannes, der um sein Leben gegen den Teufel kämpft. Heinrich behauptete, dass die Reformatoren „von der heiligen Kirche abgefallen und ... eine andere neue Kirche aufgerichtet [hätten].“[1] Er und die römisch-katholische Kirche seien dagegen „die Rechten, aus der alten Kirche gekommen und bis daher geblieben.“[2] Luther stellte diese Anklage auf den Kopf: „Wie aber, wenn ich beweise, daß wir bei der rechten alten Kirche geblieben, ja daß wir die rechte alte Kirche sind, ihr aber von uns, das ist von der alten Kirche, abtrünnig geworden, eine neue Kirche angerichtet habt wider die alte Kirche?“[3]
Die Glaubensbekenntnisse als Lackmustest für Katholizität
Um seine Katholizität (d.h. seine Übereinstimmung mit der universalen Kirche) zu manifestieren, führte Luther einen Beweis nach dem anderen an, der jeweils zeigte, warum die Reformation mit dem Nizänischen Glaubensbekenntnis übereinstimmte: „Wir glauben an ... die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche.“ Luther zitierte das Bekenntnis von Nicäa (und nannte das Apostolische Glaubensbekenntnis), um die Reformation in der Orthodoxie der Bekenntnistradition zu verorten. Das Prinzip von sola scriptura hinderte ihn dabei in keiner Weise. Er wies die reformatorischen Gemeinden vielmehr an, die Bekenntnisse zu glauben, zu singen und gemeinsam zu sprechen.
In einer früheren Auseinandersetzung mit den Täufern äußerte sich der junge Luther, sie hätten den Heiligen Geist mitsamt den Federn gefressen, indem sie den Geist gegen das Wort stellten. Nun sprach der ältere Luther die gleiche Warnung aus, diesmal allerdings mit Blick auf die Glaubensbekenntnisse: An Gott zu glauben, bedeutet zu glauben, dass sein Geist nicht zu Pfingsten seinen letzten Atemzug getan hat, sondern seine Kirche zu einem wahren Glaubensbekenntnis geführt hat, das der Gemeinschaft der Heiligen überliefert ist. „Damit gehören wir in die alte Kirche und sind einerlei mit ihr. Darum können wir von hier aus auch nicht von den Katholiken mit Wahrheit als Ketzer oder als neue Kirche gescholten werden. Denn wer mit der alten Kirche gleich glaubt und gleich lehrt, der gehört zur alten Kirche.“[4]
Die Reformatoren, folgerte Luther, waren nicht ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Heiligen – communio sanctorum –, der augustinischen und mittelalterlichen Bezeichnung für Gottes Erwählte. Wenn die Kirchen der Reformation „die wahre, alte Kirche, ein Leib und eine Gemeinschaft der Heiligen mit der heiligen, allgemeinen, christlichen Kirche“[3] sind, wer hat dann eigentlich etwas Neues erfunden und wer ist die Sekte, die das katholische Erbe verrät?
Katholizität versus Papsttum
Luther gab dem „Hanswurst“ eine klare Antwort, weil dieser ihn unverblümt unter Berufung auf die Autorität des Papsttums angegriffen hatte. Um seine kühne Behauptung der Katholizität zu demonstrieren, griff Luther zwölf päpstliche Lehren heraus, die im Widerspruch zur „katholischen“ Kirche stehen – vom Ablass bis zu Wallfahrten, von der Transsubstantiationslehre bis zu den Schlüsseln Petri bzw. der Bindegewalt des Papstes.
Die Gegenüberstellung von Luthers Beweisen und den Argumenten der katholischen Kirche machte den Reformatoren bewusst, dass ihr Glaube althergebracht ist und der römisch-katholische Glaube eine kirchliche Neuerung darstellte. Niemand beharrte so sehr auf der letztgültigen Autorität des Wortes Gottes wie Luther. Niemand trat so entschieden in seiner Verurteilung des Papsttums auf wie er. Luther machte nie einen Hehl daraus, dass er für einen Wandel eintrat. Und doch war Luthers Ruf nach Reformen nach seinem eigenen Verständnis kein Aufruf zu etwas Modernem. Seine Vision der Erneuerung war katholisch (im eigentlichen Sinne). Man mag über ihren Erfolg streiten, aber nicht über sein selbsterklärtes Ziel, nämlich zu beweisen, „daß wir die rechte alte Kirche sind, mit der ganzen heiligen christlichen Kirche ein Körper und eine Gemeinde der Heiligen.“[5]
Wenn Protestanten heute die Geschichte ihrer eigenen Entstehung treu wiedergeben wollen, sollten sie auf Abraham Kuyper hören, einen der Erben der Reformation: „Eine Kirche, die nicht bereit ist, katholisch zu sein, ist keine Kirche, denn Christus ist nicht der Retter einer Nation, sondern der Welt ... Wir können daher nicht den ehrenvollen Titel ‚katholisch‘ aufgeben – als wäre er ausschließlicher Besitz der Römisch-Katholischen Kirche – ohne unserem eigenen Prinzip untreu zu werden.“
Wahrer Protestantismus
Was macht echte Zugehörigkeit zum Protestantismus aus? Protestantisch zu sein bedeutet, katholisch zu sein. Aber nicht römisch-katholisch.
„Protestantisch zu sein bedeutet, katholisch zu sein. Aber nicht römisch-katholisch.“
Warum ist das wichtig? Weil die Geschichte der Reformation – wenn man die Sichtweise der Reformatoren berücksichtigt – keine Geschichte einer rebellischen Abkehr von der katholischen Kirche ist. Es ist eine Geschichte der Wiederherstellung. Die Reformation sollte nicht anhand der Aussagen ihrer Kritiker definiert werden, sondern anhand ihrer eigenen Auffassung, nach der sie sich als Teil einer (richtig verstandenen) katholischen Bewegung verstand. Die Reformatoren haben nicht die Axt an den Baum gelegt, ihn ins Feuer geworfen und einen neuen gepflanzt. Der Baum blieb derselbe – sie stutzten lediglich die wilden Zweige.
Allzu schnell geben Kirchengeschichtler den Reformatoren die Schuld an der Spaltung und an der Säkularisierung. Andere feiern die Reformation als Revolution, als ob die Reformatoren einen klaren Bruch mit der großen Tradition vor ihnen beabsichtigten und eine neue Kirche gründen wollten, die andernfalls seit der Zeit der Apostel nicht mehr existieren würde. Unglücklicherweise bestimmen diese beiden Interpretationen heutzutage die Diskussion über die Reformation.
Wenn wir die Reformatoren selbst zu Wort kommen lassen (wie ich es in The Reformation as Renewal tue), würden wir einen wiederkehrenden und harmonischen Chorus erkennen, der die Reformation als einen Versuch deutet, den christlichen Glauben wiederherzustellen, nicht zu ersetzen. Die Reformatoren sahen sich nicht nur in einer Linie mit den Kirchenvätern, sondern auch mit den wichtigsten mittelalterlichen Scholastikern. Sie waren entschlossen, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wiederherzustellen.
1 Kurt Aland (Hrsg.), Martin Luther: Der Kampf um die reine Lehre, Luther deutsch: Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 4, 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, S. 253 = WA 51, S. 476–477.
2 Ebd., S. 254 = WA 51, S. 478.
3 Ebd., S. 254 = WA 51, S. 478–479.
4 Ebd., S. 256 = WA 51, S. 482.
5 Ebd., S. 259 = WA 51, S. 487.