The Theology of Heinrich Bullinger
Kein Reformator ist im 20. Jahrhundert so vernachlässigt worden wie Heinrich Bullinger (1504–1575). Dabei war er zu Lebzeiten international so bekannt wie Martin Luther und weitaus gefragter als Johannes Calvin. Bullinger schrieb mehr Werke als Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin zusammen. Er verfasste über 12.000 Briefe. Das von ihm angefertigte Zweite Helvetische Bekenntnis genoss einen herausragenden Ruf weit über Zürich hinaus. Bisweilen wurde er treffend als „Vater der Reformation“ bezeichnet.
Seit der Jahrhundertwende wächst das Interesse an Bullinger. Sicher spielt dabei eine Rolle, dass 2004 sein 500. Jahrestag gefeiert wurde. Das Institut für schweizerische Reformationsgeschichte in Zürich hat sich hier besonders hervorgetan, nicht nur durch die Organisation eines großen internationalen Kongresses, sondern vor allem mit einer Reihe maßgebender Publikationen. Die Bullinger-Forschung verdankt Fritz Büsser, Peter Opitz, Emidio Campi und anderen sehr viel.[1]
Im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Kirchengeschichtler Dr. William Peter Stephens (Universität von Aberdeen, Schottland) mit Untersuchungen zur Schweizer Reformation ausgezeichnet. Seine Abhandlung über die Theologie von Huldrych Zwingli gilt als Standardwerk.[2] Emidio Campi zählt Stephens zu den besten Kennern der Schweizer Reformation (vgl. S. 15).
Der Theologische Verlag Zürich hat 2019 Stephens Studie zu Bullingers Theologie vorgelegt. Der Autor ist dabei methodisch ähnlich vorgegangen wie in seinem Zwingli-Buch. Er greift reichlich auf die ursprünglichen Schriften Bullingers zurück, von denen viele bisher gar nicht in die englische Sprache übersetzt sind, und verarbeitet reichlich Sekundärliteratur, die er bestens beherrscht. Die jeweiligen Themen werden so dargestellt, dass der Leser eventuelle Entwicklungen bei Bullinger chronologisch nachvollziehen kann.
Leider konnte W.P. Stephens seine Untersuchung nicht mehr finalisieren. Er verstarb am 1. April 2019 überraschend. Joe Mock und Jim West, die bereits bei der Erstellung des Manuskripts helfend zur Seite standen, brachten deshalb das Buch in die Endform. Die Kapitel liegen in der Anordnung vor, wie Stephens sie konzipierte. Da kein Manuskript zur Abendmahlsfrage vorlag, wurde ein Aufsatz eingearbeitet, den Stephens 2006 beim Journal Zwingliana zur Eucharistie publizierte. Alle sonstigen Beiträge lagen im Erstentwurf vor.
The Theology of Heinrich Bullinger enthält 17 Kapitel. Bevor ich einige Punkte herausgreife, seien die Oberthemen kurz erwähnt. Im ersten Kapitel beschreibt der Autor das Leben des Reformators (S. 19–30). Dann werden die Heilige Schrift, Gotteslehre, Christologie, Vorherbestimmung, der Bund, Sünde und Fall, das Gesetz, die Glaubensrechtfertigung und guten Werke, die Kirche, der Dienst, das Wort und die Sakramente, die Taufe, das Abendmahl, die Obrigkeit sowie die letzten Dinge abgehandelt.
„Da der Heilige Geist letzter Autor der Schrift ist, ist er auch ihr fähigster Ausleger. Für die Praxis der Schriftauslegung heißt das: Vor und während der Bibellese soll um die Leitung durch den Geist gebetet werden.“
Bullingers Schriftverständnis beleuchtet Stephens ausführlich (S. 31–92). Die hermeneutische Grundüberzeugung des Reformators war es, dass die Schrift sich selbst auslegt. Ohne gute Kenntnisse der Sprachen und ein Verständnis für die Grundregeln der Rhetorik kann es keine gebührliche Bibelinterpretation geben. Der Bund wird von Bullinger als wichtiger Schlüssel für ein stimmiges Bibelverständnis aufgefasst. Das Alte und Neue Testament bilden eine Einheit. Die Regel des Glaubens und der Liebe kommen – wie schon für Augustinus und andere – direkt aus der Schrift selbst. Da der Heilige Geist letzter Autor der Schrift ist, ist er auch ihr fähigster Ausleger. Für die Praxis der Schriftauslegung heißt das: Vor und während der Bibellese soll um die Leitung durch den Geist gebetet werden. Die Kirchenväter, die ja den siebzehnjährigen Bullinger in Köln zur Heiligen Schrift hinführten, spielen in Bullingers Bibelauslegung eine wichtige Rolle. Obwohl er sie nie über die Schrift stellt, konsultierte er immer wieder ihre Kommentare zur Schrift. Bullinger stand besonders unter dem Einfluss von Augustinus, Luther, Melanchthon und Erasmus, emanzipierte sich jedoch auch immer wieder von ihnen.
In der Gotteslehre sieht sich Bullinger als Lehrer, der gewissenhaft in der Tradition der Apostel und Kirche steht. So verteidigt er nicht nur die Dreieinigkeit oder die Allwissenheit und Allmacht Gottes, sondern auch eine hohe Sicht der göttlichen Vorsehung. Bullinger glaubt, dass durch die Vorsehung des weisen, ewigen und allmächtigen Gottes „alles im Himmel und auf Erden und bei allen Geschöpfen erhalten und geleitet werde“ (Zweites Helvetisches Bekenntnis, VI). Bullinger war jedoch ein vorbildlicher Pastoraltheologe und wusste, dass man dies auch falsch verstehen kann. Daher betont er, dass Gottes Vorsehung unsere menschlichen Bestrebungen und Anstrengungen nicht vergeblich macht. Immer wieder schützt Bullinger Gott gegenüber dem Vorwurf, er sei Autor der Sünde. Stephens referiert ausführlich Bullingers Entgegnungen an den englischen Reformer Bartholomew Traheron. Bullinger identifiziert sich mit Melanchthons früherer Auffassung über den freien Willen des Menschen und distanziert sich vom späten Melanchthon. Zugleich setzt er sich von Calvin ab. Calvin warf er einmal vor, man könne ihn so verstehen, als ob Gott das Böse wirke.[3] Wenn Gott alles wirke, bliebe aber nichts, was wir tun könnten und unsere Bemühungen wären hinfällig. Wenn Gott alles in uns bewirkt, dann führt er „auch unsere Sünden in Gedanken, Worten und Taten“ herbei und ist „damit Ursache und Autor des Bösen“ (S. 120). Da Gott aber gut und die Quelle alles Guten ist, ordnet er das Böse nicht an und bewirkt es auch nicht (vgl. S. 121). Bullinger versöhnt diese Sichtweise mit der göttlichen Vorsehung, indem er auf die Kategorie der permissio zurückgreift. Gott wirkt keine Sünden, lässt sie aber zu. Diese Zulassung gehört freilich zur göttlichen Vorsehung.
„Immer wieder schützt Bullinger Gott gegenüber dem Vorwurf, er sei Autor der Sünde.“
Ausführlich durchleuchtet Stephens verschiedene Lesarten der Bundestheologie (S. 193–224). Es gibt vor allem in zwei Sachverhalten substantiell abweichende Deutungen. Einmal geht es darum, ob die Föderaltheologie bei Bullinger eine essentielle Stellung einnimmt (vgl. S. 215–219). Viele Sachkundige meinen, Bullinger habe den Bundesgedanken von Zwingli übernommen und dann in eine ordentliche Bundestheologie überführt. Der Bund müsse von daher als Leitmotiv seiner Theologie verstanden werden (etwa Staedtke, Koch, Baker oder Locher). Andere bestreiten die Zentralität des Bundes bei Bullinger (so Richard Muller, Edward Dowey oder Fritz Büsser). Stephens selbst ist der Auffassung, ohne weitere umfassende Forschungsarbeiten könne dieser Streit nicht entschieden werden (S. 219).
Die zweite große Kontroverse betrifft die Frage, ob der Bund Gottes mit den Menschen einseitig oder zweiseitig ist. J. Wayne Baker behauptet, bei Bullinger sei, anders als bei Luther, Zwingli und Calvin, der Bund bilateral. Er geht sogar so weit, dass er Bullinger den Standpunkt zuschreibt, die Erwählung eines Menschen sei davon abhängig, ob dieser die Bedingungen des Bundes erfülle: „Gottes Erwählung wird in der Geschichte nur dann bindend, wenn Einzelne jeweils die Bedingungen des Bundes einhalten“ (S. 221). Nach Stephens beschreibt Baker damit Bullingers Position nicht akkurat. Denn die Erwählung ist bei Bullinger unstreitig allein von Gott abhängig. Zur Antwort auf die Erwählung zählen freilich Glaube und Liebe. Mit Verweis auf Cornelius Venema bzw. Calvin meint Stephens, dass Gott von seinen Kindern Treue und Gehorsam erwartet, diese Glaubensfrüchte aber gnädiges Wirken des Heiligen Geistes sind (vgl. S. 223–224).
William Peter Stephens liebt die Quellentexte. Das spüren die Leser seiner Bücher, die zudem von seinen langjährigen Erfahrungen in der Reformationsforschung profitieren. Stephens hat mit The Theology of Heinrich Bullinger ein brillantes letztes Werk hinterlassen. Es ergänzt die Dekadenstudie von Peter Opitz hervorragend und wird für jene, die die Theologie des Schweizer Reformators lieben und erkunden, ein wichtiges Referenzwerk sein.
Buch
William Peter Stephens, The Theology of Heinrich Bullinger, Hrsg. von Jim West u. Joe Mock. Reformed Historical Theology, Bd 59. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 140,00 Euro.
1 Siehe z.B.: Fritz Büsser, Heinrich Bullinger: Leben, Werk und Wirkung, 2 Bde., Zürich: TVZ, 2004; Emidio Campi u. Peter Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger – Life, Thought, Influence, 2 Bde., Zürich: TVZ, 2007. Peter Opitz, Heinrich Bullinger als Theologe: Eine Studie zu den „Dekaden“, Zürich: TVZ, 2004. Außerdem verantwortet das Institut für schweizerische Reformationsgeschichte zusammen mit dem Zwingliverein die Ausgabe der Werke Heinrich Bullingers, die beim Theologischen Verlag Zürich erscheinen. Der Verlag hat zudem eine Auswahl lateinischer und frühneuhochdeutscher Schriften in 7 Bänden, vor allem theologischer Werke, in einer deutschen Übersetzung vorgelegt.
2 William Peter Stephens, The Theology of Huldrych Zwingli, Oxford; New York: Clarendon Press; Oxford University Press, 1986.
3 Bullinger schrieb im Rahmen der Bolsec-Kontroverse in einem Brief an Calvin: „Glaube mir, dass manche durch deine Sätze über die Erwählung in der Institutio Verdruss empfinden und aus ihnen den gleichen Schluss ziehen wie Hieronymus [gemeint ist Hieronymus Bolsec, Anm. R.K.] aus Zwinglis Buch Die Vorsehung, nämlich dass Gott Urheber der Sünde sei“(CO XIV Nr. 1565, S. 214–215). Calvin schrieb empört zurück: „Ich war ganz versteinert, als ich in deinem Briefe las, meine Lehrauffassung missfalle manchen guten Männern gerade so, wie Bolsec an der Zwinglis Anstoß nehme. Ich bitte dich, was ist da für eine Übereinstimmung? Zwinglis Buch ist doch, um mich diskret auszudrücken, so voller Widersprüche, dass es sich von dem Maß, das ich behalte, sehr weit entfernt“ (CO XIV Nr. 1590, S. 252–253).