Die universale und die lokale Gemeinde

Artikel von Jonathan Leeman
4. Oktober 2023 — 18 Min Lesedauer

Definition

Die universale Gemeinde ist die himmlische und eschatologische Versammlung aller, die – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – zum neuen Bund Christi und seinem Königreich gehören.

Die Ortsgemeinde ist die sich gegenseitig bestätigende Gruppe von Mitgliedern des Neuen Bundes und Bürgern des Königreichs, die sich dadurch kennzeichnet, dass sie sich regelmäßig in Jesu Namen versammelt, um das Evangelium zu predigen und die Gottesdienste zu feiern.

Zusammenfassung

Das neutestamentliche Wort ekklesia, im Deutschen übersetzt als „Gemeinde“, bedeutet „Versammlung“. Das Neue Testament betrachtet zwei Arten von Versammlungen: eine im Himmel und viele auf der Erde. Diese beiden Arten sind die weltweite und die lokale Gemeinde. Christ zu werden bedeutet, Mitglied der weltweiten Kirche zu werden, in der wir von Gott mit Christus auferweckt und in den Himmel aufgenommen werden. Diese Mitgliedschaft zur himmlischen Versammlung muss sich jedoch auch auf der Erde zeigen, was Christen durch die Versammlung in Jesu Namen tun, um das Evangelium zu predigen und sich gegenseitig die Zugehörigkeit durch Taufe und Abendmahl bestätigen. Mit anderen Worten bringt die himmlische, universale Gemeinde irdische Ortsgemeinden hervor, die wiederum die universale Gemeinde präsentieren. Im Laufe der Geschichte haben Christen manchmal die lokale oder die universale Gemeinde betont und die andere vernachlässigt, aber eine biblische Position legt Wert auf beide. Eine solche Position beinhaltet, dass man seine persönliche Jüngerschaft in einer Ortsgemeinde auslebt, allerdings in einer Ortsgemeinde, die mit anderen Gemeinden zusammenarbeitet.

Zwei Verwendungen des Wortes „Gemeinde“

Was genau ist die Gemeinde? Wenn ein frisch bekehrter Christ beginnt, die Bibel zu lesen, wird er wahrscheinlich verwirrt sein, wenn er versucht, diese Frage zu beantworten. Einmal redet Jesus davon, dass er seine Gemeinde bauen wird und die Pforten des Totenreichs sie nicht überwältigen werden (vgl. Mt 16,18). Der neue Christ betrachtet das Wort „Gemeinde“ und zieht die richtige Schlussfolgerung, dass Jesus die Gemeinde als etwas Umfassendes versteht, das eine ungeheuer große Anzahl von Mitgliedern aus der ganzen Welt und über Jahrhunderte hinweg einschließt. Ein paar Seiten später erfährt der junge Gläubige, dass Jesus den Jüngern sagt, sie sollten ungelöste Sünden „der Gemeinde“ sagen (Mt 18,17). Jetzt fragt er oder sie sich, ob eine Gemeinde nicht eigentlich eine bestimmte Gruppe von Menschen an einem Ort ist.

„Der junge Gläubige entdeckt also, dass die Bibel das Wort ‚Gemeinde‘ sowohl in einem umfassenden als auch in einem ortsgebundenen Sinn verwendet.“
 

In den Briefen von Paulus finden wir die gleichen unterschiedlichen Verwendungen des Wortes. Einmal redet Paulus über das Zusammenkommen in der Gemeinde wie in einer Versammlung (vgl. 1Kor 11,18). Dann wiederum schreibt er, dass „Gott … in der Gemeinde etliche eingesetzt [hat], erstens als Apostel, zweitens als Propheten, drittens als Lehrer“, als sei es etwas viel Größeres (vgl. 1Kor 12,28).

Der junge Gläubige entdeckt also, dass die Bibel das Wort „Gemeinde“ sowohl in einem umfassenden als auch in einem ortsgebundenen Sinn verwendet. Die zugrunde liegende lexikalische Bedeutung des griechischen Wortes ekklesia, das in deutschen Bibeln mit „Gemeinde“ übersetzt wird, ist „Versammlung“. Die Bibel verwendet das Wort jedoch, um zwei Arten von Versammlungen zu bezeichnen: eine himmlische und eine irdische. Christen bezeichnen diese als universale und lokale Gemeinde.

Die universale Gemeinde – eine himmlische Versammlung

Die universale Gemeinde sollte uns zuerst in den Sinn kommen, weil Menschen in die universale Gemeinde bzw. die himmlische Versammlung eintreten, wenn sie Christen werden.

Diese Errettung geschieht durch den neuen Bund. Durch den neuen Bund hat Jesus Christus nicht nur einzelne Menschen, sondern ein ganzes Volk für sich gewonnen. Dies hat er durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung erreicht. Doch indem er ein Volk mit sich vereinte, vereinte er es auch untereinander. Oder, wie es der Apostel Petrus ausdrückt:

„[E]uch, die ihr einst nicht ein Volk wart, jetzt aber Gottes Volk seid, und einst nicht begnadigt wart, jetzt aber begnadigt seid.“ (1Petr 2,10; vgl. Eph 2,1–21)

Petrus setzt die zweite Zeile über den Empfang der rettenden Barmherzigkeit Gottes mit der ersten Zeile über die Zugehörigkeit zum Volk Gottes gleich. Die beiden Dinge geschehen zusammen.

Passenderweise ist die Adoption eine wesentliche Metapher für unsere Errettung (vgl. Röm 8,15; Gal 4,5; Eph 1,5). Von einem Vater und einer Mutter adoptiert zu werden, bedeutet auch, über die gemeinsamen Eltern gleichzeitig neue Brüder und Schwestern zu bekommen. Das ist die universale Gemeinde – all die neuen Brüder und Schwestern, die wir aus allen Zeiten und aus aller Welt empfangen haben und die zu diesem neuen Bundesvolk gehören.

Warum reden wir dann davon, dass die universale Gemeinde im Himmel ist? Paulus schreibt über die Errettung aus Gnade, dass Gott „uns mitauferweckt und mitversetzt [hat] in die himmlischen Regionen in Christus Jesus“ (Eph 2,6; vgl. Kol 3,1.3).  Durch unsere Vereinigung mit Christus haben wir einen Sitz im Himmel, das heißt, wir haben einen Platz im himmlischen Thronsaal Gottes. Alle Vorrechte und der Schutz dieses Ortes gehören zu uns, weil wir Söhne und Töchter des Königs sind. Wir sind dabei. Doch Paulus fährt fort: Wir sind nicht nur vertikal versöhnt, indem wir auferweckt und an den himmlischen Ort versetzt wurden. Es folgt eine horizontale Versöhnung:

„Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst fern wart, nahe gebracht worden durch das Blut des Christus. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht und die Scheidewand des Zaunes abgebrochen hat“. (Eph 2,13–14)

Das bedeutet: Wenn du mit Christus im Himmel sitzt, sitzt du dort auch mit allen anderen, die dort sitzen. Das ist die himmlische Versammlung oder die universale Gemeinde, von der Paulus in den folgenden Kapiteln spricht (vgl. Eph 3,10.21; 5,23–32).

Der Autor des Hebräerbriefs hebt den himmlischen Ort dieser Versammlung für sein christliches Publikum noch deutlicher hervor:

„Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu Zehntausenden von Engeln, zu der Festversammlung und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten, und zu Jesus, dem Mittler des neuen Bundes.“ (Hebr 12,22–24)

Wie ist es möglich, dass die Heiligen auf der Erde schon jetzt im Himmel versammelt sind? Vor dem Richterstuhl Gottes sind sie durch den neuen Bund Christi für vollkommen erklärt worden. Dort, im Himmel, betrachtet Gott alle Heiligen, lebende und verstorbene, als im Besitz ihres neuen Standes.

Darüber hinaus nimmt diese himmlische Versammlung die endzeitliche Versammlung aller Heiligen, die jemals gelebt haben, vorweg. Der Apostel Johannes bezeichnet sie als eine „große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm“ (Offb 7,9). Aus diesem Grund sprechen Theologen von der universalen Gemeinde nicht nur als einer himmlischen, sondern auch als einer eschatologischen (endzeitlichen) Versammlung.

Definition 1: Die universale Gemeinde ist die himmlische und eschatologische Versammlung aller Menschen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –, die zum neuen Bund Christi und seinem Königreich gehören.

In Matthäus 16 hat Jesus versprochen, diese Gemeinde zu bauen. Dies ist der ganze Leib Christi, die Familie Gottes und der Tempel des Heiligen Geistes. Die Mitgliedschaft wird durch Errettung erlangt.

Die Ortsgemeinde – eine irdische Versammlung

Doch die himmlische Zugehörigkeit eines Christen zur universalen Gemeinde muss auch auf der Erde sichtbar werden, genauso wie die ihm in Christus zugerechnete Gerechtigkeit sich in Werken der Gerechtigkeit zeigen sollte (vgl. Jak 2,14–26). Die Zugehörigkeit zur universalen Gemeinde beschreibt die Realität eines „Standes“. Sie ist eine himmlische Position oder ein Status in Gottes Gerichtssaal. Sie ist daher so real wie alles andere im oder jenseits des Universums. Dennoch müssen Christen diese universale Zugehörigkeit konkret anziehen oder ausleben, so wie Paulus sagt, dass wir unsere Gerechtigkeit, die unsere Stellung kennzeichnet, auch in existentiellen Taten der Gerechtigkeit „anziehen“ müssen (vgl. Eph 4,24; Kol 3,10.14).

In anderen Worten: Unsere Zugehörigkeit zum universalen und himmlischen Leib Christi kann keine abstrakte Idee bleiben. Wenn sie Wirklichkeit ist, dann wird sie auf der Erde sichtbar sein – in der Wirklichkeit von Raum und Zeit, in echten Leuten namens Sabine, Michael und Mustafa; Leuten, die wir uns nicht aussuchen, sondern die uns auf die Zehen treten und uns enttäuschen, uns ermutigen und uns helfen, Jesus nachzufolgen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die universale Gemeinde die Ortsgemeinden hervorbringt, während die Ortsgemeinden die universale Gemeinde beweisen, bezeugen, präsentieren und sogar schützen. Diese Graphik veranschaulicht diese Beziehung:

Bedenke, was das heißt: Wenn jemand behauptet, zur Gemeinde der Christen zu gehören, aber nicht Mitglied einer Ortsgemeinde ist, kann man zu Recht infrage stellen, ob diese Person wirklich zur Gemeinde gehört. Genauso würde man den „Glauben“ einer Person infrage stellen, der sich nicht in Werken zeigt.

In der Ortsgemeinde sehen und hören wir tatsächlich die universale Gemeinde und kommen als solche zusammen. Nicht vollständig, aber als ein Teil davon.

Es ist ein sichtbarer, irdischer Außenposten der himmlischen Versammlung. Es ist ein Vorgeschmack der endzeitlichen Versammlung.

Zusammenkunft, gegenseitige Bestätigung, Predigt, Bundeszeichen

Konkret wird die universale Gemeinde zu einer Ortsgemeinde durch 1) ein regelmäßiges Zusammentreffen oder eine Versammlung von Menschen, die sich 2) gegenseitig als Christen bestätigen, 3) durch die Verkündigung des Evangeliums und 4) die Teilnahme an der Taufe und am Abendmahl.

Um das besser zu verstehen, schauen wir es in einem größeren Kontext an. Jede Nation und jedes Königreich verfügt über ein System, mit dem es seine Bürger identifizieren kann. Heute verwenden Länder Personalausweise und Grenzen. Das alte Israel verwendete sowohl die Beschneidung als auch das Einhalten des Sabbats, Zeichen des abrahamitischen bzw. mosaischen Bundes. Die Gemeinde ist gegenwärtig kein irdisches Königreich, das Land besitzt, aber dieses himmlische Königreich braucht eine Möglichkeit, seine Bürger auch auf der Erde zu bestätigen. Wie kann das geschehen? Wie können diese himmlischen Bürger wissen, wer „sie“ sind, sowohl um ihrer selbst willen als auch um der anderen Menschen willen?

Als Antwort auf diese Frage gibt Jesus den Mitgliedern des neuen Bundes die Bundeszeichen: Das Zeichen des Eintritts in den Bund ist die Taufe, bei der Menschen auf seinen Namen getauft werden (vgl. Mt 28,19). Dazu kommt das fortlaufende Zeichen des Abendmahls, bei dem sie sich gegenseitig als Mitglieder des Neuen Bundes bestätigen (vgl. 1Kor 10,17).

Und nicht nur das: Er gab den Ortsgemeinden die Vollmacht, ihre Mitglieder auch öffentlich als Bürger seines Reiches zu bestätigen – den Menschen diese Zeichen des Bundes anzuheften, fast wie ein Trainer, der Trikots verteilt. Zu diesem Zweck gab er den Gemeinden sozusagen die „Schlüssel“ des Reiches, um auf Erden zu binden und zu lösen, was im Himmel gebunden und gelöst ist (vgl. Mt 16,19; 18,18). Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Gemeinden die Vollmacht haben, über das Was und das Wer des Evangeliums – das Bekenntnis und den Bekenner – zu urteilen. Mit diesen „Schlüsseln“ hat er die Gemeinden berechtigt zu sagen: „Ja, das ist das Bekenntnis des Evangeliums, an das wir glauben und an das du glauben musst, um Mitglied zu sein.“ Zu sagen: „Ja, dies ist eine wahre Bekennerin. Wir werden sie in die Mitgliedschaft taufen.“ oder „Wir werden ihn wegen unbußfertiger Sünde von der Mitgliedschaft und vom Tisch des Herrn ausschließen.“ Einfacher ausgedrückt, gab Jesus der versammelten Gemeinde die Vollmacht, um Glaubenserklärungen zu schreiben und Mitgliederverzeichnisse auszufüllen.

Definition 2: Die Ortsgemeinde ist die sich gegenseitig bestätigende Gruppe von Mitgliedern des Neuen Bundes und Bürgern des Königreichs, die sich dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich regelmäßig in Jesu Namen versammelt, um das Evangelium zu predigen und die Gottesdienste zu feiern.

Jesus beschreibt diese versammelte Ortsgemeinde in Matthäus 18. Es handelt sich um einen Ausdruck des Leibes Christi, der Familie Gottes, des Tempels des Heiligen Geistes.

In der frühen Kirchengeschichte: Überbetonung der universalen Gemeinde

Im Laufe der Kirchengeschichte haben verschiedene Einzelpersonen und Traditionen entweder die universale Gemeinde oder die Ortsgemeinde überbetont.

„Im Laufe der Kirchengeschichte haben verschiedene Einzelpersonen und Traditionen entweder die universale Gemeinde oder die Ortsgemeinde überbetont.“
 

In den ersten Generationen nach den Aposteln wurde auf beide gleich viel Wert gelegt, zumindest wenn man die frühen Briefe von Pastoren wie Clemens von Rom und Ignatius an Gemeinden und Gemeindeleiter betrachtet. Ein Dokument aus dem zweiten Jahrhundert, die Didache, legt mit der Hervorhebung der praktischen Arbeit einer Ortsgemeinde und der christlichen Treue im weiteren Sinne ein ähnliches Bild nahe.

Doch so wie man manchmal sein Gewicht von beiden Füßen auf einen verlagert, so zeigen die Schriften der Kirchenväter im dritten, vierten und fünften Jahrhundert eine zunehmende Betonung der universalen Gemeinde, wenn auch in einem institutionellen Gewand. Dafür gab es historische Gründe. Eine Reihe von theologischen Irrlehren tauchte auf. Außerdem spalteten sich die Gemeinden in der Frage, wie Christen (und insbesondere Bischöfe) zu behandeln seien, die angesichts der Verfolgung Christus verleugneten, dann aber um Wiederzulassung baten. Solche pastoralen Herausforderungen veranlassten alle, von Cyprian bis Augustinus, zu betonen, wie wichtig es ist, mit der einen, heiligen, apostolischen und katholischen – d.h. universalen – Gemeinde vereint zu sein. Und die Einheit mit der einen wahren, universalen Gemeinde, so begannen sie zu behaupten, erfordere die Einheit mit dem richtigen Bischof; und die Einheit mit dem richtigen Bischof, so sagten sie schließlich, bedeute die Einheit mit dem Bischof von Rom oder dem Papst. Mit anderen Worten: Katholizität oder Universalität wurde eine ebenso irdische wie himmlische Realität. Dies gehörte zu den institutionellen Strukturen, die die weltweite Gemeinde formell zusammenhielten – ein Episkopat, das angeblich auf Petrus zurückging und in dessen Zentrum der Papst stand.

Die protestantische Reformation durchbrach dieses Muster, indem sie eine stärker geistlich geprägte Auffassung von Katholizität vertrat. Auch die Reformatoren bekräftigten die Notwendigkeit äußerer Strukturen im Gemeindeleben, aber sie begannen auch, zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Gemeinde zu unterscheiden. Sie argumentierten, da das Heil nicht mechanisch durch die Taufe oder das Abendmahl erlangt wird, sondern nur durch Wiedergeburt und Glauben, könne ein Mensch der sichtbaren Gemeinde angehören, ohne Teil der der unsichtbaren Gemeinde zu sein – und umgekehrt. Durch diese Betonung der unsichtbaren Gemeinde wurde die Katholizität oder Universalität der Gemeinde wieder zu einem geistlichen und nicht zu einem institutionellen Attribut. Mit anderen Worten, die universale Gemeinde würde sich am Tag des Herrn als die unsichtbare Gemeinde weltweit und über die Zeiten hinweg erweisen und nicht einfach als alle, die sich als Mitglieder der sichtbaren Kirchen bezeichneten.

Spätere Kirchengeschichte: Überbetonung der Ortsgemeinde

Dennoch ließen die ersten Reformatoren wie Luther, Calvin und Cranmer in ihrem Denken noch Raum für eine institutionelle Form der Einheit und Katholizität (Universalität). Ihre Konfessionen waren „konnektional, das heißt, die Kirchen waren formell und autoritativ miteinander verbunden. In ihren Augen war eine solche formale Verbindung die Voraussetzung für Einheit und damit für Katholizität. Daher betrachteten sie die sichtbare Gemeinde als mehr als nur die Ortsgemeinde – die Versammlung von Menschen, die an einem Ort zusammenkommen. Sie umfasste auch größere kirchliche Hierarchien, seien es Presbyterien oder Episkopate. Daher nannten sie ihre Gemeinden die Church of England oder die Deutsche Lutherische Kirche. Es überrascht nicht, dass ihre Theologien die Unterscheidung zwischen sichtbar und unsichtbar ebenso stark, wenn nicht sogar stärker, betonten als die Unterscheidung zwischen lokal und universal. Die Praxis der Kindertaufe und die Tatsache, dass nicht wiedergeborene Kinder als Mitglieder der Kirchen behandelt werden, verstärkte die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen sichtbar und unsichtbar. Schließlich gehören nicht wiedergeborene Säuglinge zur sichtbaren, aber nicht zur unsichtbaren Kirche.

Ein paar Jahrzehnte nach der Reformation vertraten die Täufer und schließlich die Baptisten jedoch die Auffassung, dass die Einheit der katholischen oder universalen Gemeinde vollständig in den Himmel zurückkehren sollte. Sie argumentierten, dass jede Gemeinde institutionell unabhängig bleiben und nur aus Gläubigen bestehen sollte. Die sichtbare Gemeinde auf Erden, so argumentierten sie, sei die Ortsgemeinde und nur die Ortsgemeinde – die versammelte, geographisch verortete Gemeinde. Die Church of England war in ihren Augen keine Gemeinde. Sie sahen in ihr nur eine parakirchliche oder administrative Struktur, die mehrere Gemeinden miteinander verbindet.

Unter den baptistischen Gruppen bestand nun allerdings die Gefahr, das Gewicht vollständig auf den anderen Fuß zu verlagern, sodass sie ihre ganze Aufmerksamkeit nur noch den Ortsgemeinden widmen würden und kaum noch der universalen Gemeinde. Gewisse Strömungen unter den Baptisten, wie beispielsweise die Landmarkisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vertraten sogar die Ansicht, dass es nur die Ortsgemeinde gibt. Sie nahmen das Abendmahl nicht mit jemandem ein, der nicht Mitglied ihrer Gemeinde war. Gott sei Dank waren solche Ausprägungen selten.

Weitaus verbreiteter ist die gelebte Ablehnung der universalen Gemeinde unter kommerziell und marketingorientiert denkenden Gemeindeleitern des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Zwar bejahen solche Gemeinden die Existenz der universalen Gemeinde verbal. In ihren Predigten loben sie Gott für die Christen in aller Welt. Aber in der Praxis ignorieren sie die universale Gemeinde allzu oft. Eine marktwirtschaftliche Denkweise verwendet Sprache und Methoden, die effektiv die eigene Markenidentität fördern, so wie ein Fast-Food-Restaurant seine eigene Art der Zubereitung von Hamburgern bewirbt. Dies führt – vermutlich unbeabsichtigt – dazu, dass sich Gemeinden gegeneinander ausspielen. Die in den letzten Jahrzehnten beliebten Missionserklärungen heben beispielsweise die einzigartigen Missionsschwerpunkte einer Gemeinde hervor, als ob Jesus nicht jeder einzelnen Gemeinde genau dieselbe Missionserklärung gegeben hätte (vgl. Mt 28,18–20). Und diese Betonung des Einzigartigen anstelle einer Betonung der gemeinsamen Partnerschaft führt dazu, dass Gemeinden nicht zusammenarbeiten, sondern getrennte Wege gehen. Wenn also der Gottesdienstraum voll ist, ist der erste Instinkt einer Gemeinde nicht, eine weitere Gemeinde zu gründen. Stattdessen wird ein zweiter Gottesdienst oder ein zweiter Standort eröffnet. Gemeinden laden vielleicht Pastoren aus anderen Ländern zu einem Besuch ein und teilen deren Gebetsanliegen auf der Bühne mit. Aber der Pastor der Gemeinde ein paar Straßen entfernt wird nicht eingeladen.

Insgesamt heißt das nicht, dass man sich bei der marketingorientierten Denkweise gegen andere Gemeinden stellt, wie es bei Fast- Food-Restaurants der Fall sein kann. Aber es bedeutet, dass sich benachbarte Ortsgemeinden gegenseitig ignorieren. Schlimmer noch, sie stehen in uneingestandener Konkurrenz zueinander, wobei die charismatischsten Redner mit dem besten Gemeindeprogramm den umliegenden Gemeinden die Besucher abziehen. Partnerschaften zwischen Gemeinden im selben Viertel oder in derselben Stadt sind daher selten.

Die Ortsgemeinde und die universale Gemeinde als gleichwertig betonen

Aus biblischer Sicht muss jedoch das Gewicht auf beide Standbeine gleichmäßig verteilt werden.

„Aber jede Ortsgemeinde sollte die universale Gemeinde lieben, indem sie andere Ortsgemeinden, auch die nächstgelegenen, liebt, mit ihnen zusammenarbeitet und sie unterstützt.“
 

Die universale Gemeinde wird in den Ortsgemeinden sichtbar, wie eingangs dargelegt wurde. Aber sie sollte sich auch in der Bereitschaft jeder Gemeinde zeigen, mit anderen Gemeinden zusammenzuarbeiten, so wie wir es bei den Gemeinden im Neuen Testament sehen. Die neutestamentlichen Gemeinden tauschten Liebe und Grüße aus (vgl. Röm 16,16; 1Kor 16,19; 2Kor 13,13; usw.). Sie teilten Prediger und Missionare (vgl. 2Kor 8,18; 3Joh 5–6a). Sie unterstützten sich gegenseitig finanziell mit Freude und Dankbarkeit (vgl. Röm 15,25–26; 2Kor 8,1–2). Sie ahmten einander im christlichen Leben nach (vgl. 1Thess 1,7; 2,14; 2Thess 1,4). Sie sorgten füreinander in finanzieller Hinsicht (vgl. 1Kor 16,1–3; 2Kor 8,24). Sie beteten füreinander (vgl. Eph 6,18) und vieles mehr.

Christen mögen sich heute darüber streiten, ob die Bibel fordert, dass Gemeinden durch Institutionen miteinander verbunden sind (ich glaube das nicht). Aber jede Ortsgemeinde sollte die universale Gemeinde lieben, indem sie andere Ortsgemeinden, auch die nächstgelegenen, liebt, mit ihnen zusammenarbeitet und sie unterstützt. Wir sollten bereit sein, das Abendmahl des Herrn mit getauften Mitgliedern anderer Gemeinden zu teilen, wenn sie uns besuchen.

Außerdem sollte in jeder Konfession deutlich gemacht werden, dass Christen sich einer Ortsgemeinde anschließen müssen, da Ortsgemeinden der sichtbare Ausdruck der universalen Gemeinde sind. Unser Heimatland im Himmel hat Botschafter ausgesandt und hier und jetzt Botschaften errichtet. Diese versammelten Gemeinden sind ein Vorposten, ein Vorgeschmack, eine Kolonie, eine Darstellung der endgültigen Versammlung. Wenn du zur Gemeinde gehörst, wirst du dich einer Ortsgemeinde anschließen wollen. Sie ist der Ort, an dem wir unsere Verkündigung, unseren Glauben, unsere Gemeinschaft und unsere Zugehörigkeit zum Leib Christi in die Tat umsetzen.