Das Buch, welches Jesus am meisten liebte

Was mir half, das Alte Testament zu entschlüsseln

Artikel von Nancy Guthrie
2. Oktober 2023 — 7 Min Lesedauer

Der Kindergottesdienst in meiner Kindheit hat mich gezeichnet – wortwörtlich. Ich habe eine Narbe an meiner rechten Hand, da ich mich im Alter von circa drei Jahren an einer Popcornmaschine verbrannt habe. Noch viel tiefere Eindrücke hat der Kindergottesdienst jedoch in meinem Herzen und in meiner Seele hinterlassen, nämlich wie ich die meiste Zeit meines Lebens die Bibel gelesen und verstanden habe; ganz besonders, wie ich das Alte Testament gelesen und verstanden habe.

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich das Alte Testament hauptsächlich als eine Serie von zusammenhanglosen Geschichten über Menschen angesehen, die zeigen, wie man den Glauben leben sollte oder eben nicht. Ich wusste, dass das Alte Testament von Christus sprach, doch in meinem Kopf beschränkte sich das auf die Prophetien über das Kommen des Messias.

Ich konnte nicht begreifen, dass uns das gesamte Alte Testament darauf vorbereitet zu verstehen, wer Jesus ist und was er tut. Ich verstand nicht, dass wir ab 1. Mose 3,15 eine Linie verfolgen sollen, von der Frau bis zum verheißenen Nachkommen, einem Nachfahren Abrahams, einem Sohn Davids, der den Fluch und die Schlange ein für alle Mal abfertigen würde. In meinen Vierzigern begann ich zu verstehen, dass die Bibel die eine Geschichte von Gottes Erlösung durch Christus ist.

Als ich anfing zu begreifen, dass das Alte Testament nur im Licht Christi verstanden werden kann, eröffnete sich mir eine neue Welt. Ich beschloss, im Verstehen der biblischen Erzählung wieder beim Kindergartenniveau anzufangen und kaufte mehrere Bücher zu diesem Thema – auch eines, das mein Lesen des Alten Testaments revolutioniert hat.

Jesus im Alten Testament erkennen

Bereits in der Einleitung von Christopher Wrights Buch Begegnungen mit Jesus im Alten Testament[1] las ich einen Absatz, der mich umwarf. Er schreibt über die Verbindung von Jesus zum Alten Testament Folgendes:

„Das sind die Worte, die er gelesen hat, die Geschichten, die er kannte. Das waren die Lieder, die er sang. Es waren die Tiefen von Weisheit und Offenbarung und Verheißung, die sein gesamtes Verständnis vom Leben, dem Universum und allem formten. Hier fand er seinen Einblick in das Denken seines Vater Gottes. Darüber hinaus fand er hier seine eigene Identität und das Ziel seiner eigenen Mission.“[2]

Dieser Abschnitt brachte mich dazu, tiefer über das Menschsein Jesu nachzudenken. Er forderte mich heraus, das Alte Testament noch einmal anders zu lesen – und das führte mich zu einem Auftrag.

Das Menschsein Jesu

Jesus ist vollkommen Mensch und vollkommen Gott, jedoch war die Gottheit Jesu für mich schon immer leichter zu greifen als seine Menschlichkeit. Eben jener Abschnitt ließ mich innehalten und gedanklich dem widmen, was es bedeutet, dass Jesus „zunahm an Weisheit und Alter“ (Lk 2,52). Jesus nahm zu im eigenen Verständnis von sich selbst, im Verständnis über den Sinn des Lebens und auch im Verständnis, was sein Tod und seine Auferstehung bedeuteten – alles, indem er über die Schriften des Alten Testaments nachdachte.

Jesus lernte beim Zuhören in der Synagoge, wenn die Schriftrollen des Alten Testaments vorgelesen wurden, wie alle jüdischen Jungen zu seiner Zeit. Die einzige Szene aus seiner Kindheit, die wir nachlesen können, zeigt ihn, als er in Jerusalem bei den Schriftgelehrten bleibt, „wie er ihnen zuhörte und sie befragte“ (Lk 2,46). Er dachte darüber nach und fügte alles zusammen. Er erkannte, dass der Tempel in Jerusalem seines Vaters Haus war.

Wir wissen, was er dachte, als er den Anfang von Jesaja 61 vorlas: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, den Armen frohe Botschaft zu verkünden.“ Er las dies laut in seiner Heimatstadt vor und sagte den Leuten, dass dies in jenem Moment des Zuhörens erfüllt worden war (vgl. Lk 4,16–21). Was ging in ihm vor, als er Schriftstellen wie Psalm 22,15 las: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser und alle meine Gebeine sind ausgerenkt“? Was dachte er, als er den Propheten Jesaja betrachtete – „Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen“ (Jes 53,5) –, wissend, dass er derjenige sein würde, der durchbohrt, dass er derjenige sein würde, der zerschlagen werden würde?

Wenn Jesus das Alte Testament las, sah er das Leiden, welches er selbst erleben würde, und ebenso die Herrlichkeit am anderen Ende. Darum konnte er den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus sagen, dass, wenn sie allem geglaubt hätten, was die Propheten vorausgesagt hatten, sie verstehen würden, dass der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen musste (vgl. Lk 24,25–26).

Das Alte Testament lesen

Dieser Abschnitt aus dem Buch Begegnungen mit Jesus im Alten Testament hat mich auch dazu gebracht, das Alte Testament anders zu lesen, indem ich mir immerzu die Frage stellte, worauf Jesus gezeigt und gesagt hätte: „Hier geht es um mich“?

Lukas schreibt über den Weg nach Emmaus: „Und er begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht“ (Lk 24,27). Um diesen Jüngern zu erklären, wer er war und warum er sterben musste, begann Jesus offensichtlich nicht mit seiner Geburt in Bethlehem oder seiner Bergpredigt oder seinen Kämpfen mit den Pharisäern oder der Intrige, die Judas gegen ihn geschmiedet hatte.

„Das Alte Testament im Ganzen zeugt von ihm – nicht nur durch Prophetien, sondern auch in der Geschichte, den Verheißungen, den Menschen, den Gesetzen, den Festen und den Liedern.“
 

Nein, er legte 1. Mose, 3. Mose und die Psalmen, Jona, Hosea und den Rest des Alten Testaments aus und sagte: Hier geht es um mich; hier geht es um den Fluch, den zu tragen ich gekommen bin; hier geht es um die Gnade, die ich über Sünder ausgießen will; hier geht es um meine allumfassende Rettung; hier geht es um meine Befreiung vom Tod; hier geht es um das Gericht, das über mich am Kreuz ausgeschüttet worden ist.

Laut Jesu Aussagen geht es nicht nur um einzelne Verheißungen oder Teile, die auf ihn hindeuten, sondern um das gesamte Alte Testament. Er sagte zu den religiösen Leitern: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir Zeugnis geben. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen“ (Joh 5,39–40). Wenige Verse danach sagt er: „Denn wenn ihr Mose glauben würdet, so würdet ihr auch mir glauben; denn von mir hat er geschrieben“ (Joh 5,46). Das Alte Testament im Ganzen zeugt von ihm – nicht nur durch Prophetien, sondern auch in der Geschichte, den Verheißungen, den Menschen, den Gesetzen, den Festen und den Liedern.

Auf einer biblischen Mission

Seitdem ich diesen Buchabschnitt gelesen habe, befinde ich mich auf einer persönlichen Mission. Ich möchte die Bibellehre in den Ortsgemeinden mit Biblischer Theologie gefüllt sehen. Mit Biblischer Theologie meine ich einen Ansatz, der die gesamte zusammenhängende Geschichte betrachtet. Auch wenn die Bibel aus verschiedenartiger Literatur besteht und über mehrere Jahrhunderte von vierzig menschlichen Autoren verfasst wurde, erzählt sie doch die eine Geschichte von Gott, der sein Werk in dieser Welt durch Christus tut.

Also, wie viel hat sich durch diesen Abschnitt und meine Erkenntnisse über das Buch, das Jesus am meisten liebte, für mich verändert? Nachdem ich in Bezug auf das Alte Testament wieder den Kindergarten besucht hatte, schrieb ich One Year Book of Discovering Jesus in the Old Testament (dt. „Ein Jahrbuch über Jesus im Alten Testament”), und eine Reihe, die sich Seeing Jesus in the Old Testament (dt. „Jesus im Alten Testament entdecken”) nennt. Nun reise ich mit meinem Biblischen Theologie-Workshop für Frauen[3] durch die USA und um die Welt.

Ich habe selbst sehen dürfen, dass Menschen, die die Bibel und Jesus lieben, vor Freude explodieren, wenn man ihnen zeigt, wie sie Christus vom Anfang bis zum Ende der Bibel finden können. Die Schönheit, Selbstgenügsamkeit und Notwendigkeit von Jesus Christus in jedem Teil der Bibel zu sehen, auch im Alten Testament, hat die Kraft, unsere Leben wahrhaftig, tief und ewig zu verändern.


1Christopher Wright, Begegnungen mit Jesus im Alten Testament, Böblingen: Causa Mundi, 2015.

2Ebd., S. 11.

3Nancy Guthrie, Biblical Theology Workshop for Women, online unter: https://www.nancyguthrie.com/biblical-theology-workshop (Stand: 04.09.2023).