Den Kurs halten
Missionarischer Gemeindeaufbau braucht einen klaren theologischen Kompass
Wer in einer nach-christentümlichen Zeit[1] zukunftsfähige Gemeindeaufbauarbeit leisten will, sollte die Weichen richtig stellen. Es geht dabei nicht um Nebensächlichkeiten, sondern um wesentliche Grundlagen, auf denen sich „Gemeinden mit Mission“ entwickeln lassen. Die theologische Standortbestimmung ist wichtig, damit wachsende, missionarische Gemeinden entstehen.
Manche, die sich über die Zukunftsfähigkeit des Christentums Gedanken machen, sehen inzwischen für christliche Gemeinden in einer säkularisierten Gesellschaft nur noch zwei Optionen: Entweder sie geben ihr Bekenntnis zur Autorität der Bibel und zu traditionellen theologischen Überzeugungen weitgehend auf und passen sich der kulturellen Umgebung an („Assimilierung“) oder sie ziehen sich in das eigene Schneckenhaus zurück und leben wenig missionarisch in strenger Abgrenzung zu ihrer Umwelt („Verschanzung“).
Auf den ersten Blick ein ernstes Dilemma. Die Annahme lautet: Konservative, bibelorientierte Theologie und Ethik muss heute zwangsläufig zu Abschottung und Weltflucht führen. Manche öffnen sich dem Gedanken spürbar zögerlich, andere sind sich inzwischen sehr sicher: Wer heute noch Menschen für den christlichen Glauben gewinnen will, kommt nicht darum herum, scheinbar unzumutbare Glaubensinhalte über Bord zu werfen, um das Evangelium etwas „genießbarer“ zu machen. Doch gibt es dazu wirklich keine Alternative?
„Oft kann man den Eindruck gewinnen, dass nicht mehr biblische Einsichten für Fragen des Glaubens und der Lebensgestaltung maßgeblich sind, sondern postmoderne Befindlichkeiten und Überzeugungen.“
Das Neue Testament setzt hier deutlich andere Akzente: Christen sind dazu berufen, anders zu leben (und nicht angepasst), dabei aber sichtbar zu sein (und nicht weltabgewandt). Sie werden aufgefordert, sich „nicht der Welt gleichzustellen“ (Röm 12,2) und gleichzeitig „unter den Menschen, die Gott nicht kennen“ das Evangelium sichtbar und glaubwürdig zu verkörpern (1Petr 2,12). Schon Jesus war beides wichtig: Er beschreibt seine Nachfolger bildhaft als „wirksames“ Salz und als „sichtbare“ Lampen (Mt 5,13–16). Der natürliche Lebensraum christlicher Gemeinschaften befindet sich aus neutestamentlicher Perspektive ausdrücklich in diesem Spannungsfeld zwischen Kontrast und Kontakt, zwischen Andersartigkeit und Sichtbarkeit. Das heißt: Weder die unkritische Anpassung an kulturelle Denk- und Verhaltensmuster noch ein sektenhafter Rückzug hinter die eigenen Gemeindemauern werden dem gerecht, was die Kirche eigentlich sein soll.
Aus der praktisch-theologischen Forschung lässt sich zeigen, dass die Infragestellung theologischer Kernwahrheiten der missionarischen Wirksamkeit mehr schadet als hilft und dass umgekehrt ein klarer theologischer Kompass die Außenwirkung von Gemeinden verstärkt.
Ohne Glaubenssubstanz keine Mission
Dekonstruktion ist ein zentraler Ansatz unserer heutigen postmodernen Zeit. So ist es auch nicht mehr nur in Kreisen üblich, die man herkömmlicherweise als „theologisch liberal“ bezeichnet hat, zentrale theologische Wahrheiten zu „dekonstruieren“, also zu hinterfragen, umzudeuten und gegebenenfalls ganz aufzugeben. Auch unter Evangelikalen sind früher unantastbare Glaubensinhalte nicht mehr selbstverständlich. Theologisch steht vieles zur Disposition, wie etwa die Inspiration, Wahrheit und Einheit der Heiligen Schrift, die vollkommene Sündhaftigkeit des Menschen, die Jungfrauengeburt, das stellvertretende Sühneopfer des Mensch gewordenen Gottessohnes, der doppelte Ausgang des Endgerichts zu ewigem Leben mit Gott oder ewiger Trennung von Gott.
Auch im ethischen Bereich kommt es zu grundlegenden Neubewertungen, beispielsweise im Blick auf vorehelichen Geschlechtsverkehr oder Homosexualität. Man müsse, so häufig die Argumentation, traditionelle theologische Deutungen im Licht heutiger Erkenntnisse neu beurteilen. Durch einen solch „neuen Blick“ auf bisher missverstandene oder falsch angewendete biblische Texte könnte man dann auch angemessener auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen reagieren und somit die Relevanz des Glaubens wieder deutlicher machen. In dieser Hinsicht sei es vielfach notwendig, sperrige, unbequeme und mit vorherrschenden kulturellen Empfindungen in Konflikt stehende Aussagen der Heiligen Schrift auszublenden, umzudeuten oder der beschriebenen Neubewertung zu unterziehen.
Dass die Kontextualisierung biblischer Inhalte notwendig ist, um intellektuelle wie emotionale Brücken zu bauen und den kulturellen Abstand zu denen zu verringern, die wir erreichen wollen, steht außer Frage. Problematisch wird es dann, wenn die theologische Substanz und damit zentrale Glaubensinhalte in ihrem Kern verändert werden. Oft kann man den Eindruck gewinnen, dass nicht mehr biblische Einsichten für Fragen des Glaubens und der Lebensgestaltung maßgeblich sind, sondern postmoderne Befindlichkeiten und Überzeugungen.
Demgegenüber wird in der Bibel immer wieder deutlich: Es schadet dem Volk Gottes, wenn Gottes Wort infrage gestellt, verdreht oder gar bewusst ignoriert wird:
„Dies ist's, was ich dir heute gebiete: dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen. Wendet sich aber dein Herz und du gehorchst nicht, sondern lässt dich verführen, dass du andere Götter anbetest und ihnen dienst, so verkünde ich euch heute, dass ihr umkommen und nicht lange in dem Lande bleiben werdet, in das du über den Jordan ziehst, es einzunehmen.“ (5Mo 30,16–18, vgl. Jer 44,4–6; Neh 9,29–30; Ps 89,31–33 u.v.a.)
„Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.“ (Mt 7,24–27)
Jesus hat oft davon gesprochen, dass die Liebe zu ihm und der Gehorsam gegenüber seinen Geboten zusammengehören, wie zwei Seiten einer Medaille. Wer ihm nachfolgt und ihn liebt, soll sich nicht dadurch auszeichnen, dass er göttliche Maßstäbe allzu leicht relativiert, sondern dass er sie gern befolgt, auch wenn einem der gesellschaftliche Gegenwind ins Gesicht bläst:
„Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. … Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist's, der mich liebt.“ (Joh 14,15.21; vgl. 1Joh 5,3 u.a.)
Schließlich findet sich im Neuen Testament die eindringliche Mahnung, an der Schrift als glaubwürdigem und autoritativem Wort Gottes festzuhalten und Gottes Wahrheit nicht an zeitgenössische Meinungen und kulturelle Trends anzupassen:
„Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut ist; du weißt ja, von wem du gelernt hast und dass du von Kind auf die Heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt. … Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden; sondern nach ihrem eigenen Begehren werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken, und werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zukehren.“ (2Tim 3,14–16 und 4,3–4; vgl. Offb 3,8.10 u.a.)
Die Emanzipation von klassischen theologischen Positionen wird häufig mit einem positiven Anliegen begründet: Man will Menschen den Zugang zum christlichen Glauben erleichtern und missionarische Hindernisse aus dem Weg räumen. Eine Annahme lautet: Wo Kirchen die Bibel „anders als bisher lesen“ und ihr ethisches Wertesystem dann im Einklang mit dem gesellschaftlichen Mainstream neu orientieren, werden sie nicht nur bislang fehlinterpretierten Bibeltexten besser gerecht, sondern sind auch eher in der Lage, sich auf dem religiösen Markt zu behaupten. Man denkt also, dass säkularisierte Zeitgenossen einen einfacheren Zugang zu christlichen Gemeinden finden, wenn man Lehren wie den Sühneopfertod Jesu, seine leibliche Auferstehung, seine Geburt von einer Jungfrau oder die völlige Sündhaftigkeit des Menschen nicht mehr im klassischen Sinn vertritt.
„Die Hoffnung, durch Anpassung der Botschaft mehr Kirchenferne für den christlichen Glauben zu gewinnen, erweist sich kontinuierlich als Illusion.“
Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Hoffnung, durch Anpassung der Botschaft mehr Kirchenferne für den christlichen Glauben zu gewinnen, erweist sich kontinuierlich als Illusion. Glaubensinhalte aufzugeben, die potentiell als rückständig oder abstoßend empfunden werden könnten, führt gerade nicht zu sichtbaren missionarischen Erfolgen.
Ein Blick in die Kirchengeschichte kann hier vor falschen Weichenstellungen bewahren: Wo sich Gemeinden und kirchliche Bewegungen von biblischen Fundamenten entfernt haben, hat dies ihrer geistlichen Wirksamkeit und Strahlkraft in aller Regel schwer geschadet. Seit vielen Jahrzehnten zeigen weltweite religionssoziologische Studien über Wachstums- und Schrumpfungsprozesse von Kirchen sehr deutlich, dass ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen einem liberalen theologischen Profil und dem Niedergang von Gemeinden besteht.[2]
Man muss es so deutlich sagen: Wo die Stellung der Bibel geschwächt und untergraben wird, wirkt sich dies negativ auf den missionarischen Eifer aus und verhindert gemeindliches Wachstum. Wer das bezweifelt, leugnet das Offensichtliche. Baut man das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Schrift ab, kommt man auch mit dem Aufbau von Gemeinde nicht voran. Oder anders gesagt: Theologische Dekonstruktion kann in einem digitalen Zeitalter zwar durchaus eine Menge Klicks, Likes und unter Umständen eine beeindruckende Followerschaft generieren. Zur Erneuerung von Gemeinden und geistlichen Aufbrüchen wird sie allerdings nicht beitragen.
Alexander Garth beschreibt dies treffend: Wer davon ausgeht, die Religion der Zukunft müsse „sanft und moderat sein, pluralistisch und nicht exklusiv, spirituell, aber nicht dogmatisch, den Menschen bestätigend, nicht hinterfragend, eine gefällige Religion, die sich an die Erwartungen der Gesellschaft anpasst und keine Forderungen an die Gläubigen stellt“, der erschaffe eine Form von „Softreligion“, die „das sicherste Rezept für Erfolglosigkeit ist“.[3]
Missionarische Wirksamkeit hat auch mit Theologie zu tun
Allerdings wachsen Gemeinden nicht automatisch, nur weil sie theologisch konservativ sind. Manche Arten von Konservatismus sind ebenso wenig förderlich – beispielsweise dann, wenn sie sich zu sehr mit theologischen Nebensächlichkeiten, Strukturfragen, kulturellen Gestaltungsformen oder politischen Positionierungen verbinden. Davon zeugen die vielen (frei-)kirchlichen Gemeinschaften, die trotz konservativen Bekenntnisses stagnieren oder schrumpfen. Rechtgläubigkeit allein ist nicht genug. Wer meint, dass konservative Theologie automatisch zu mehr missionarischer Schlagkraft führt, geht an der Realität vorbei.
Deshalb ziehen manche den gegenteiligen Schluss und meinen, dass die Zuwendung zur Gegenwartsgesellschaft zwingend mit einer theologischen Kursänderung zu verbinden ist. Doch auch dies führt in eine Sackgasse und nicht zu missionarischer Strahlkraft.
Natürlich gibt es viele zweit- oder drittrangige theologische Fragen, bei denen wir Spannungen zwischen verschiedenen Auffassungen und unterschiedliche Interpretationen gelassen und demütig aushalten sollten.[4] Dennoch: Gerade auch aus missionarischer Sicht ist es wichtig, an den zentralen Lehren festzuhalten, die die Christenheit überall und zu allen Zeiten geglaubt und verkündigt hat. Diesen „heißen Glutkern des Glaubens“ müssen wir bewahren. Denn diese zentralen Glaubensinhalte (wie die leidenschaftliche Liebe eines trinitarischen Gottes, die Sendung des Gott-Menschen zur Erlösung der Menschen und die existenzielle Verlorenheit des Menschen ohne Gott) tragen wesentlich zur missionarischen Kraft und Leidenschaft einer Gemeinde bei.
„Wirksamer Gemeindeaufbau wurzelt in einer Haltung, die man im Umgang mit der Bibel als ‚konservativ‘ bezeichnen kann, die jedoch jenseits von Konservativismus dem gegenwärtigen Kontext offen zugewandt ist und immer wieder neue Wege sucht.“
Wachsende und missionarisch wirksame Gemeinden haben in aller Regel ein klares, im eben beschriebenen Sinn historisch bewährtes theologisches Profil, das klassische, in der Bibel gründende Glaubensinhalte vertritt und nicht jede inhaltliche Neuformatierung für eine begrüßenswerte Weiterentwicklung hält. Sie stellen sich dem postmodernen Wahrheitsrelativismus mutig entgegen und erwarten das glaubensweckende und lebensverändernde Wirken des Heiligen Geistes gerade dort, wo Christus als einziger Weg zum Heil verkündigt wird (vgl. Apg 4,12). Wirksamer Gemeindeaufbau wurzelt in einer Haltung, die man im Umgang mit der Bibel als „konservativ“ bezeichnen kann, die jedoch jenseits von Konservativismus dem gegenwärtigen Kontext offen zugewandt ist und immer wieder neue Wege sucht, wie der für alle Zeiten gültige Inhalt des Evangeliums unter aktuellen Bedingungen so plausibel wie möglich geglaubt, gelebt und kommuniziert werden kann. Das ist der fruchtbarste Boden für dauerhaftes missionarisches Engagement und dynamische Gemeindeentwicklung. Wo der biblische Kompass verloren geht, der auf Jesus hin eingenordet ist, verliert die Gemeinde gegenüber der Gesellschaft nicht nur die geistliche Orientierung, sondern früher oder später auch ihre missionarische Kraft.
Fazit
Wachsende Gemeinden begegnen den missionarischen Herausforderungen, die sich in einem dem christlichen Glauben skeptisch bis ablehnend gegenüberstehenden Umfeld stellen, nicht mit inhaltlicher Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, sondern mit einer leidenschaftlichen, durchdachten, kontextsensiblen und ausgewogenen Kommunikation des zu allen Zeiten gültigen Evangeliums. Trotz aller notwendigen Sensibilität für den Kontext sollten wir unser theologisches Fähnchen also nicht in den gesellschaftlichen Wind halten. Nur eine Theologie, die die Bibel als Autorität ernst nimmt und auch unbequeme, mitunter schwer vermittelbare Wahrheiten nicht aufgibt, hält Gemeinden auf gutem Kurs und kann so zum Nährboden missionarischer Wirksamkeit werden.
1Mit dem Begriff „nach-christentümlich“ lässt sich unsere gegenwärtige Lage präziser beschreiben als beispielsweise mit dem Begriff „nach-christlich“: Der Begriff „christlich“ umfasst alles, was zum Glauben an Jesus Christus gehört. Dazu gehören Glaubensinhalte, persönliche Überzeugungen und eigene Glaubenspraxis genauso wie kirchliches Leben und kulturelle Prägungen. „Nach-christlich“ würde daher eine Zeit beschreiben, in welcher der christliche Glaube insgesamt verschwindet und durch andere Glaubensformen oder Weltanschauungen ersetzt wird. „Christentümlich“ meint dagegen nur jene Aspekte des Glaubens, die sich in einer etablierten Kultur niedergeschlagen haben. „Nach-christentümlich“ bezeichnet also eine Zeit, in der die enge Verbindung von christlichem Glauben und Kultur aufgelöst wird. Der christliche Glaube lebt nach wie vor in unterschiedlichen Gestalten weiter, wird aber kulturell nicht mehr gestützt.
2Vgl. zum religionssoziologischen Befund Alexander Garth, Untergehen oder umkehren, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021, 105–111.
3Ebd., S. 111–112.
4Zur Unterscheidung von erstrangigen und zweit-/drittrangigen Glaubenslehren vgl. die Anleitung zu einer „theologischen Triage“ bei Gavin Ortlund, Finding the Right Hills to Die on: The Case for Theological Triage, Wheaton: Crossway, 2020.