Im Aufbruch der Reformation
Der Deutsche Bauernkrieg liegt bald 500 Jahre zurück. Passend zum bevorstehenden Jubiläum hat der Mennonitische Geschichtsverein in seiner Schriftenreihe eine Aufsatzsammlung des mennonitischen Theologen und Historikers Hans-Jürgen Goertz unter dem Titel Im Aufbruch der Reformation: Das Rechtfertigungsverständnis Thomas Müntzers und der Täufer herausgebracht.
Mit Blick auf den Bauernkrieg werden häufig die Unterschiede in den Positionen Luthers und Müntzers betrachtet. Goertz möchte dagegen aufzeigen, dass Reformatoren und Täufer „Partner in der Reformation“ (S. 5) waren und gemeinsam im Aufbruch involviert. Dazu untersucht er in vier Aufsätzen, in welcher Weise das für die Reformatoren zentrale Rechtfertigungsverständnis bei den Täufern zum Ausdruck kam und fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. In einem fünften Aufsatz kritisiert er Hans-Georg Tannebergers Untersuchung Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, in welcher dieser zum Ergebnis kommt, die Täufer bewegten sich mit ihrem Rechtfertigungsverständnis nicht auf reformatorischem Boden. Goertz wirft Tanneberger Polemik vor und warnt „vor einer theologischen Engführung der Reformation durch Luther“ (S. 74).
Ein großes Missverständnis?
Im Gegensatz zu Tanneberger kommt Goertz zu dem Schluss, dass es sich bei den Differenzen in der Rechtfertigungslehre um Missverständnisse auf beiden Seiten handelte. Goertz unternimmt deshalb den Versuch, die Theologie der Täufer von einer „schweren Deutungslast“ zu befreien (S. 35).
Während die Täufer den Reformatoren den Vorwurf machten, sie seien in einem eingebildeten Glauben stecken geblieben, hielten die Reformatoren den Täufern vor, in die Werkgerechtigkeit zurückgefallen zu sein. Goertz hält dagegen, dass die Täufer der Rechtfertigungslehre nur einen besonderen Akzent verliehen. Luther betonte die Lehre, die Täufer das Leben. Die Täufer gaben laut Goertz „das sola gratia der Rechtfertigungsbotschaft nicht auf, sondern versuchten, es auf eigene Weise im Rahmen ihrer Frömmigkeitstraditionen und unterschiedlichen Erfahrungen im reformatorischen Aufbruch zur Geltung zu bringen“ (S. 88).
Goertz geht davon aus, dass die Lehre von der Rechtfertigung nicht nur für Luther den Artikel des Glaubens darstellt, mit dem die Kirche steht und fällt, sondern auch das Fundament der Täufer bildet. Im Ergebnis sieht er Reformatoren wie Täufer deshalb auf dem Boden der Reformation stehen. Er deutet den Aufbruch der Reformation vor diesem Hintergrund als „ökumenisches Ereignis“ (S. 115).
Pointierte Darstellung
Goertz schreibt als ausgewiesener Experte der Reformations- und Täuferforschung. Man merkt, dass er die Quellen sorgfältig studiert hat. Er kann die Positionen beider Gruppen prägnant beschreiben und die gegenseitigen Vorwürfe pointiert benennen. Das ist eine große Stärke des Buches. Auf zwei inhaltliche Schwerpunkte der Täufer soll hier kurz eingegangen werden:
Die Täufer verstehen Rechtfertigung als Prozess
Was die Täufer miteinander verbindet, ist „die Ablehnung der forensisch zugesprochenen Befreiung von der Sünde und der Akzent, der auf den Prozess gelegt wird“ (S. 77). „Das Rechtfertigungsgeschehen steht nicht nur am Anfang eines christlichen Lebens in der Nachfolge Jesu, es umfasst vielmehr das gesamte Leben des Menschen“ (S. 52). Der Gläubige wird demnach nicht ein für alle Mal wie ein Angeklagter vor Gericht freigesprochen (vgl. den „fröhlichen Tausch“ in Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen). Es ist schließlich „nicht der anfangende Glaube, … der rechtfertigt, sondern der Glaube, der sich im mortifikatorischen Heilsprozess bewährt hat“ (S. 79). Darunter verstehen die Täufer, dass Jesus im Inneren des Menschen noch einmal geboren wird und der Gläubige nun in seinem Leben mit ihm zusammen den Weg ans Kreuz in Leid und Trübsal geht.
Mit dieser Ansicht geht die Unterscheidung von Rechtfertigung und Heiligung verloren, wie Goertz selbst feststellt: „Rechtfertigung und Heiligung sind nicht, wie so oft im Protestantismus, voneinander getrennt und in ein konsekutives Verhältnis gesetzt, im Gegenteil: Sie sind ein und dasselbe“ (S. 52). Wenn diese beiden Kategorien aber zusammenfallen, ist Luthers „simul iustus et peccator“ überholt. Bei den Täufern ist der Gläubige „nicht ‚gerecht und Sünder zugleich‘ … sondern ein Gerechter, dem die Sünde nichts mehr anhaben könne“ (S. 59f.). Diese Gerechtigkeit muss sich dann aber erst noch im Heilsprozess beweisen.
Die Täufer betonen die Beteiligung des Menschen am Heilsgeschehen
Mit der Ablehnung des forensischen Verständnisses der Rechtfertigung geht einher, dass die Täufer den Menschen am Heilsgeschehen beteiligt sehen. Müntzer beispielsweise spricht vom Seelengrund, einem im Inneren des Menschen (!) lokalisierten Raum, in dem Gott die Verbindung zum Menschen hält und wiederherstellt. Die Rechtfertigung (als Prozess verstanden) führt zu einem Einvernehmen zwischen Gott und Mensch, was stufenweise in einer Vergottung des Menschen endet. Es liegt also etwas im Menschen vor, das zwar von Gott angesprochen werden muss, aber erst im Einvernehmen mit dem Menschen zur Geltung gebracht wird. Während also „die Passivität des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen bei Luther auf das ‚fremde Werk‘ in Christus verweist“ stellen die Täufer „den Menschen in den Mittelpunkt, … der die Rechtfertigung [prozessual] erfährt“ (S. 79f.).
Diese Sicht führt zu einer „abweichenden Prädestinationslehre“, die dem Menschen eine „größere Entscheidungsfreiheit“ gibt (S. 81) und einer Sichtweise von der Schrift, die von den Reformatoren abweicht. Das Wort Gottes beschreibt im Verständnis der Täufer nur den Weg zum Glauben, es schafft ihn aber nicht. Was wirklich zählt, ist das lebendige Wort Gottes, das die Auserwählten im Inneren ergreift und umgestaltet. Wieder wird die Beteiligung des Menschen am Heilsgeschehen sichtbar, weil das Wort Gottes nur etwas anstoßen kann, was erst im Inneren des Menschen kontinuierlich vollendet werden muss.
Die Reformatoren kritisierten daran, dass die Täufer die abgrundtiefe Kluft zwischen Gott und Sünder nicht erkennen und den Zustand der totalen Verderbtheit verharmlosen. Trotzdem sieht Goertz in der Position der Täufer „eine Variante der reformatorischen Rechtfertigungslehre“ (S. 27).
Welcher reformatorische Boden?
Wenn man die Reformation wie Goertz als gesellschaftliche Bewegung versteht, ist seine Einschätzung nachvollziehbar. Er erklärt: „Das ‚Reformatorische‘ war eher ein sozialer Konsens als eine theologische Definition … Auf keinen Fall war sie authentischer Ausdruck einer theologischen Idee, nämlich einer neuen Interpretation der ‚Gerechtigkeit Gottes‘, wie der Apostel Paulus sie verstand“ (S. 105). Konsequenterweise sollte er dann aber auch die katholische Kirche als Teil dieser Bewegung verstehen, da die Dynamik der Reformation als gesellschaftliche Bewegung schließlich auch Veränderungen in ihr angestoßen hat und sie immerhin ebenfalls über eine Variante der Rechtfertigungslehre verfügt. Aber das führt das Argument ad absurdum. Wenn am Ende jede Gruppe auf reformatorischem Boden steht, dann stellt sich die Frage nicht mehr. Deshalb ist auch die Kritik an Tanneberger abzulehnen, „dass seine Kategorie ‚reformatorisch‘ nicht auf einer breit angelegten Beobachtung historischer Zusammenhänge ruht, sondern ein dogmatisches und konfessionelles Konstrukt ist“ (S. 64).
„Die Reformation war in der Hauptsache eben keine gesellschaftliche Bewegung, bei der theologische Fragen als Teil dieser Dynamik eine untergeordnete Rolle spielten. In der Reformation ging es stattdessen im Kern um Theologie, die je nach Sichtweise zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen führte.“
Die Reformation war in der Hauptsache eben keine gesellschaftliche Bewegung, bei der theologische Fragen als Teil dieser Dynamik eine untergeordnete Rolle spielten. In der Reformation ging es stattdessen im Kern um Theologie, die je nach Sichtweise zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen führte. Nur so kann der theologische Disput zwischen Reformatoren und Täufern, den Goertz eindrücklich aufzeigt, angemessen gewürdigt werden. Die theologischen Unterschiede dürfen nicht heruntergespielt werden.
Im Gespräch bleiben!
Goertz wünscht sich, dass die Jubiläumsfeiern 2025 von der Betonung der Gemeinsamkeiten bestimmt werden. Er sieht im Aufbruch der Reformation „eine gewisse Affinität zu den neueren Prozessen der Kirchen …, sich einander anzunähern und das gemeinsame Ziel anzustreben, sich im Gespräch miteinander zu erneuern und die Einheit der Kirchen zu erreichen“ (S. 65). Die angestrebte Erneuerung ist begrüßenswert. Auch die Affinität zur Reformation ist sehr zu wünschen.
„Nur wenn das offenbarte Wort Gottes in den Gesprächsprozessen der Kirchen als autoritativer Gesprächspartner ernst genommen wird, kann man auf eine Erneuerung hoffen.“
Schließlich kamen die Reformatoren vor allem durch die Exegese der Bibel zu ihren lebens- und gesellschaftsverändernden Einsichten von der Rechtfertigung des Menschen. Nur wenn das offenbarte Wort Gottes in den Gesprächsprozessen der Kirchen als autoritativer Gesprächspartner ernst genommen wird, kann man auf eine Erneuerung hoffen.
Buch
Hans-Jürgen Goertz, Im Aufbruch der Reformation: Das Rechtfertigungsverständnis Thomas Müntzers und der Täufer, Mennonitischer Geschichtsverein: Bolanden-Weierhof, 2023, 120 Seiten, ca. 13,90 EUR.