Die Psalmen und Einheit mit Christus

Den Psalter mit Jesus lesen, singen und beten

Artikel von Joshua Heavin
19. August 2023 — 13 Min Lesedauer

Zu allen Zeiten waren die Psalmen das Gesangbuch der Gemeinde – außer für uns heute. Bei Jesus und den Aposteln scheint das Singen von Psalmen aus der Heiligen Schrift übliche Praxis gewesen zu sein (vgl. Mt 26,30). Im vierten Jahrhundert bildete der Psalmengesang einen festen Bestandteil des christlichen Gottesdienstes.[1] Für Gregor von Nazianz ist das Psalmensingen der Gemeinde ein Vorspiel zukünftiger himmlischer Hymnen.[2] Hippolyt von Rom zufolge war das Lesen und Singen von Psalmen ein entscheidender Aspekt des Gottesdienstes im Rom des dritten Jahrhunderts.[3] Gregor von Nyssa erinnert sich an seine fromme Schwester Makrina, für welche die Psalmen auch am Sterbebett noch eine große Hilfe waren:

„Auch das Psalmenbuch blieb ihr durchaus nicht unbekannt, indem sie zu gewissen Zeiten immer einen Teil davon durchging: wenn sie vom Lager aufstand und die Arbeit begann und wieder davon ausruhte, wenn sie die Mahlzeit einnahm und vom Tisch sich erhob, zu Bett ging und zum Gebet aufstand, überall hatte sie den Psalter bei sich wie einen lieben Gefährten, der sie zu keiner Zeit verließ.“[4]

Zu den größten Errungenschaften der viel später folgenden protestantischen Reformation zählen die großen lutherischen und reformierten Psalter (insbesondere der Genfer Psalter), die in den darauffolgenden Jahrhunderten zu den Gesangbüchern vieler Protestanten wurden. Die historische anglikanische Liturgie nach dem Book of Common Prayer hat die Psalmen tief in das Gemeindeleben hineingearbeitet – sowohl durch das tägliche Morgen- und Abendgebet als auch mit dem Lektionar für die Lesung und den Gesang der Heiligen Schrift im öffentlichen Gottesdienst beim Abendmahl. Auf diese Weise wurde das christliche Denken zur Arbeit der praktischen Theologie und der Ethik im Leben und Sterben ausgerüstet.

„Unserem theologischen Denken fehlt ein angemessenes Verständnis davon, was es heißt, mit Christus vereint zu sein. Wir wissen nicht, wie diese Einheit unser Lesen, Singen und Beten der Psalmen verändern sollte.“
 

In einigen wenigen Denominationen spielen die Psalmen auch heute noch eine wichtige Rolle für das Gemeindeleben. Im Großen und Ganzen sind sie jedoch aus den Gebeten und Liedern verschwunden, die wir in unseren Häusern und Gemeinden regelmäßig singen und beten.

Wie wir die Psalmen verloren haben

Es gibt viele Erklärungen dafür, aber ein wichtiger Grund könnte darin liegen, dass unserem theologischen Denken ein angemessenes Verständnis davon fehlt, was es heißt, mit Christus vereint zu sein. Wir wissen nicht, wie diese Einheit unser Lesen, Singen und Beten der Psalmen verändern sollte. Klingen diese Worte aus Psalm 26, um nur ein Beispiel zu nennen, wie etwas, das du ohne zu zögern und aufrichtig beten kannst?

„Schaffe mir Recht, o HERR! Denn ich bin in meiner Lauterkeit gewandelt und habe mein Vertrauen auf den HERRN gesetzt; ich werde nicht wanken. Prüfe mich, HERR, und erprobe mich; läutere meine Nieren und mein Herz! Denn deine Gnade ist mir vor Augen, und ich wandle in deiner Wahrheit. Ich sitze nicht bei falschen Leuten und gehe nicht um mit Hinterlistigen. Ich hasse die Versammlung der Übeltäter und sitze nicht zusammen mit den Gottlosen.“

Anstatt tröstlich oder aufmunternd zu wirken, können derartige Psalmworte aus mindestens drei Gründen unangenehm sein.

  1. Auf existenzieller Ebene liefert uns unsere Erfahrung der Welt und die Kenntnis unseres eigenen wankelmütigen Herzens tagtäglich den Beweis dafür, wie wenig Integrität wir tatsächlich haben – anstatt in der Tugend zu wachsen, kapitulieren wir vor dem Laster. Wir sind schuldig! Wie können wir da vor Gott treten und beten: „Schaffe mir Recht, o HERR! Denn ich bin in meiner Lauterkeit gewandelt“?
  2. In sozialer Hinsicht kann unsere eigene persönliche Integrität (oder der Mangel an Integrität) wie ein unbedeutender Tropfen im Ozean der Sünde erscheinen. Wir sind alle in unfassbar große Systeme der Korruption verwickelt. Darum können wir nur mit einem kollektiven Achselzucken auf schreiende Ungerechtigkeit, erdrückende Armut, die Ausbeutung der Schwachen und ganze Produktions- und Konsumsysteme reagieren, die Land, Wasser, Tiere und Menschen in der modernen Welt zerstören.
  3. Theologisch gesehen könnten wir uns dagegen sträuben, Gott zu bitten, uns von den „Bösen“ zu befreien, wenn wir um die Lehre des Apostels Paulus wissen, dass alle gesündigt haben (vgl. Röm 3,9.23). Nimmt der Apostel Paulus in Römer 3 nicht Worte aus den Rachepsalmen (z.B. Ps 140,3) und wendet sie auf uns und die gesamte Menschheit an? Mose warnt ausdrücklich davor, zu behaupten, dass wir „[u]m meiner Gerechtigkeit willen“ und nicht durch die Barmherzigkeit des Herrn gerechtfertigt sind (5Mose 9,4). Warnt nicht auch das Gleichnis von dem Pharisäer und dem Zöllner davor, dass wir uns anmaßen, gerechter zu sein als andere (vgl. Lk 18,9–14)? Wie können dann Abschnitte wie Psalm 26 zu unseren eigenen Worten werden, die wir beten und singen?

Die Lehre der Einheit mit Christus liefert uns hier eine Antwort. Mit Christus vereint werden die seltsamen und beunruhigenden Worte der Psalmen nicht nur zu einem passenden Gebet für uns, sondern bieten uns darüber hinaus einen Grund zum Leben und zur Hoffnung. Warum? Weil der Geist Gottes selbst uns an dem Gebet des Sohnes teilhaben lässt, das Gott dem Vater in Wahrheit dargebracht wird. Als die Apostel und die ersten Christen den Worten der Psalmen lauschten, hörten sie ein Gespräch zwischen den verschiedenen Personen der Dreieinigkeit – nicht zuletzt in Psalm 110, wo „der HERR“ zu einem anderen spricht, den David „Herr“ nennt.

Wie wir im Hebräerbrief anbeten

Für den Autor des Hebräerbriefes ist es Jesus selbst, der gekreuzigte und auferstandene Messias, der die Worte in Psalm 22 spricht. Laut dem Hebräerbrief war es angemessen, dass der Sohn Gottes am menschlichen Leiden Anteil nahm und sogar den Tod schmeckte, um dann durch die Gnade Gottes den Tod zu überwinden und so alles Gott unterordnen zu können. Auf diese Weise hat er sich mit uns Menschen wahrhaft solidarisch gezeigt und unsere anderweitig hoffnungslose Lage so verändert, dass wir nun an seinem göttlichen Leben sowie seiner Herrlichkeit Anteil haben, die den Kosmos verwandeln wird (vgl. Heb 2,9–11).

„Mit Christus vereint werden die seltsamen und beunruhigenden Worte der Psalmen nicht nur zu einem passenden Gebet für uns, sondern bieten uns darüber hinaus einen Grund zum Leben und zur Hoffnung.“
 

Die Bedeutung dieser Solidarität wird mit einem Zitat aus Psalm 22,22 erklärt und schließt folgendermaßen: „Aus diesem Grund schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, sondern spricht: ‚Ich will meinen Brüdern deinen Namen verkündigen; inmitten der Gemeinde will ich dir lobsingen!‘“ (Heb 2,11–12). Für den Autor des Hebräerbriefes ist Psalm 22 also nicht nur eine messianische Prophezeiung. Nein, Jesus selbst spricht und betet diesen Psalm! Dieses Gebet macht deutlich, dass Jesus sich selbst als den versteht, der die Gemeinde im Gesang und im Lobpreis Gottes anleitet. Auch wenn im Hebräerbrief nur ein Vers aus diesem Psalm zitiert wird, dürfen wir den Gesamtkontext des Psalms nicht außer Acht lassen. Der Psalm beginnt mit einem einsamen Schrei der Enttäuschung und endet damit, Gottes Erlösungswerk im gemeinsamen Lobpreis der Gemeinde zu feiern, so wie das auch in Hebräer 2,9–12 und dem entsprechenden Kontext der Fall ist.

Was der Galaterbrief über Adoption und Sohnschaft sagt

Wie funktioniert das? Wenn die Psalmen die Worte und Gebete Jesu sind, wie können sie dann zu unseren eigenen werden?

Durch den Glauben vereint uns der Heilige Geist mit Christus. Wir werden hineingenommen in seinen Tod und seine Auferstehung. Wir können Gott nun „Vater“ nennen, weil wir in seinem Sohn sind. Im Galaterbrief erklärt Paulus:

„Nun bin ich aber durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, um für Gott zu leben. Ich bin mit Christus gekreuzigt; und nun lebe ich, aber nicht mehr ich [selbst], sondern Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt im Fleisch lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ (Gal 2,19–20)

Das Leben in Christus lässt sich nicht darauf reduzieren, dass wir uns einfach mehr anstrengen – nur eben mit einem neuen Ziel im Blick oder einer neuen Technik der Selbstbeherrschung. Nein, wir gehören jetzt zu Christus. In Christus zu leben bedeutet, dass Gottes Geist jetzt das Leben des auferstandenen Christus in uns verwirklicht – das Leben von Jesus Christus, der lebendig ist und der in und durch uns wirkt. Die christliche Identität wird durch die Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus bestimmt, der das handelnde Subjekt ist: Er ist es, der in und durch unser Leben des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe handelt.

„Die christliche Identität wird durch die Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus bestimmt, der das handelnde Subjekt ist: Er ist es, der in und durch unser Leben des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe handelt.“
 

Später beschreibt Paulus dann, wie der Geist diejenigen, die in Christus adoptiert sind, an dem Ausruf des Sohnes zum Vater teilhaben lässt, indem er verkündet: „Weil ihr nun Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen gesandt, der ruft: Abba, Vater!“ (Gal 4,4–7). Da wir also durch den Heiligen Geist an dieser Ausruf zum Vater teilhaben, bedeutet unsere Vereinigung mit Christus, dass wir auch an seinem Sprechen und Singen der Psalmen teilhaben können. Augustinus beschreibt, wie die Einheit mit Christus unsere Beziehung zu den Psalmen prägen sollte:

„Wir müssen unsere Stimmen in ihm erkennen, und seine Akzente in uns … Wir beten zu ihm, durch ihn und in ihm; wir sprechen mit ihm und er spricht mit uns. Wir sprechen in ihm und er spricht in uns die Bitte aus, die in diesem Psalm formuliert ist … Niemand soll also, wenn er diese Worte hört, behaupten: ‚Das ist nicht von Christus gesagt‘, oder andererseits: ‚Ich spreche nicht in diesem Text.‘ Vielmehr soll jeder von uns, der sich im Leib Christi weiß, beide Wahrheiten anerkennen: ‚Christus spricht hier‘ und ‚Ich spreche hier.‘ Sagt nichts außerhalb von ihm, wie er nichts außerhalb von euch sagt.“[5]

Diese kurze Skizze der Einheit mit Christus im Hebräer- und Galaterbrief zeigt, wie diese Lehre uns befähigt, die Psalmen gemeinsam mit Jesus zu sprechen. Die Gebete, das Lob und die Bitten Jesu im Psalter können durch unser Teilhaben an ihm zu unseren eigenen Worten werden.

Wie notwendig wir die Psalmen haben

Wir haben festgestellt, dass wir die Psalmen mit Christus beten können. Als Nächstes müssen wir uns nun fragen, ob es notwendig ist, die Psalmen mit Christus zu beten.

„Der Psalter ist eine Schatz- und Waffenkammer für alle Phasen des christlichen Lebens.“
 

Der Alttestamentler Michael Rhodes hat festgestellt, dass es in der zeitgenössischen christlichen Musik zwar viele Lieder gibt, in denen Gott gedankt und gelobt wird. Er meint, dass wir aber auch Lieder benötigen, die für Zeiten der Trauer über die Ungerechtigkeit in der Welt und persönliche Tragödien geeignet sind, die Klagen zum Ausdruck bringen und Gott darum bitten, seine Versprechen zu halten. In den Psalmen hat Gott solche Worte für uns bereitgestellt. Besonders in Zeiten von Kummer, Versuchung, Versagen, Angst, Trauer und Hoffnungslosigkeit können Worte, die nicht unsere eigenen sind, ein Anker und Balsam für unsere Seelen sein. Wir können sie an der Seite von Mitsündern und Mitleidenden beten, wenn wir inmitten all unserer Not zu Gott schreien. So bekennt Johannes Calvin im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar:

„Mit gutem Grund nenne ich gewöhnlich das [Psalm]buch eine Aufgliederung aller Teile der Seele. Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel. Ja, hier hat uns der Heilige Geist alle Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste, Verwirrungen, kurzum all die Gefühle, durch die Menschen innerlich hin und her geworfen werden, lebensnah vergegenwärtigt.“[6]

Der Psalter ist eine Schatz- und Waffenkammer für alle Phasen des christlichen Lebens. Die Rückbesinnung auf die Bedeutung dieser alten Lieder im gemeinschaftlichen und persönlichen Lobpreis wird daher ein kraftvolles Mittel zur Erneuerung unserer Gemeinden und unseres Lebens sein. Außerdem bilden diese Lieder einen starken Gegentrend zur Trivialität und Kurzlebigkeit, die heute einen Großteil sowohl der säkularen als auch der zeitgenössischen christlichen Kultur durchdringen. Ob wir die Worte der Psalmen in der Gemeinde zusammen mit anderen beten, in der Notaufnahme eines Krankenhauses in den frühen Morgenstunden, bei einer freudigen Hochzeit, einer traurigen Beerdigung oder beim Mittagessen an einem normalen Arbeitstag – stets sind diese Worte nicht nur unsere eigenen. Durch die Einheit mit Christus, der in uns und durch uns wirkt, wird unser Gebet zu seinen Worten.

Einige Psalmen sind voll des Lobes, wie der donnernde Schluss von Psalm 145 bis 150. Andere beginnen mit einer Klage und enden dann im Lob, wie Psalm 13. In Psalm 88 gibt es keine Wendung zum Lob oder einen Lichtblick, nur einen Schrei der Qual in der Dunkelheit, bei dem es sich dennoch um ein Gebet handelt, das Gott im Glauben dargebracht wird. Wenn wir alle diese Psalmen beten, sind unsere Gebete in die Gebete Christi eingebettet, der laut dem Hebräerbrief der Sänger der Psalmen ist.

Aus uns selbst heraus sind wir nicht in der Lage, Psalm 26 zu beten. Der Gedanke, dass Gott uns entsprechend unserer gerechten Verdienste belohnt, ist normalerweise eine schreckliche Aussicht und nicht etwas Tröstliches, um das wir Gott bitten würden. Wenn wir Christus jedoch nicht nur ergriffen haben, sondern selbst von ihm ergriffen worden sind, eröffnet sich eine neue Möglichkeit. Wenn wir mit Christus gekreuzigt und so der Sünde und dem Tod entrissen wurden, und wenn wir mit Christus auferweckt wurden, um an Gottes neuer Schöpfung teilzuhaben, dann wohnt der Geist Christi in uns und ruft in unserem Herzen zu Gott: „Abba! Vater!“ Die Worte der Psalmen, die das Gebet Jesu im Lobpreis der Gemeinde sind, können zu unseren eigenen Worten werden, nicht nur zum Schein, sondern in Wahrheit. Richte uns auf, Herr, denn wir sind „in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht worden ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung“ (1Kor 1,30).

Buchhinweis

Evangelium21 hat in Zusammenarbeit mit Verbum Medien einen Kommentar sowie ein Arbeitsheft zu den Psalmen von Christopher Ash veröffentlicht, die den im Artikel vorgestellten Auslegungsansatz verfolgen. Die Bücher sind nicht akademisch ausgerichtet und können für die Stille Zeit, zur Predigtvorbereitung oder in Hauskreisen verwendet werden.


1Vgl. Dom Gregory Dix, The Shape of the Liturgy, New York: Continuum, S. 39–40.

2Vgl. Gregory Nazianzen, Orat. XL §46.

3Vgl. Hippolytus, On the Apostolic Tradition, Yonkers, NY: St. Vladimir’s Seminary Press, 2001.

4Gregor von Nyssa, Lebensbeschreibung seiner Schwester Makrina (BKV), online unter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3166/versions/lebensbeschreibung-seiner-schwester-makrina-bkv/divisions/6 (Stand: 14.08.23).

5Augustine, Expositions of the Psalms 73–98, Hyde Park, NY: New City Press, 2002, S. 221.

6Johannes Calvin, Der Psalmen-Kommentar. Eine Auswahl, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2008, S. 21.