Sei dir selbst nicht treu!
Ein irreführender Ratschlag
Vor zwanzig Jahren gab Anna Quindlen – Autorin für die New York Times, Pulitzer-Preisträgerin und Trägerin renommierter Ehrentitel – einer Gruppe von Schulabsolventen diesen Rat:
„Jeder von euch ist so unterschiedlich wie eure Fingerspitzen. Warum solltet ihr in irgendeinem Gleichschritt marschieren? Unsere Liebe zum Gleichschritt ist unser größter Fluch, die Quelle all dessen, was uns belastet. Sie ist die Quelle von Homophobie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Terrorismus und von jeder Art des Fanatismus. Der Grund dafür ist, dass sie uns sagt, dass es nur eine richtige Art und Weise gibt, Dinge zu tun, auszusehen, sich zu verhalten und zu fühlen. Die Wahrheit ist aber, dass die einzig richtige Art und Weise darin besteht, das Schlagen des eigenen Herzens in sich zu spüren und auf das zu hören, was dieser Rhythmus sagt.“[1]
Ein ziemlich verbreiteter Ratschlag bei Abschlussfeiern lautet: „Folge deinen Träumen. Marschiere im Takt deines eigenen Trommlers. Sei dir selbst treu.“[2]
Ich würde gern einen anderen Ratschlag geben: „Folg nicht deinen Träumen. Marschiere nicht im Takt deines eigenen Trommlers. Und was immer du tust, sei dir selbst nicht treu.“
Wenn du denkst, dass ich ein wenig übertreibe, hast du recht. Ich werde diesen Ratschlag am Ende noch etwas differenzieren. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, diese Sache provokant zu formulieren, weil unsere Welt uns in Tausenden von Werbespots, Filmen und Liedern zuruft, dass die beste und einzig authentische Art und Weise zu leben darin besteht, man selbst zu sein. Es geht darum, seine eigene Wahrheit auszuleben, sein wahres Ich zu finden und dann den Mut zu haben, entsprechend zu leben.
Von Begierden getäuscht
Die Bibel hingegen sagt uns: „Mancher Weg erscheint dem Menschen richtig, aber zuletzt führt er ihn doch zum Tod“ (Spr 14,12). Denk an die Geschichte von Esau, der sein Erstgeburtsrecht für eine Portion Eintopf verkaufte. „‚Gib mir schnell etwas von dem roten Zeug da, dem roten‘, rief Esau, ‚ich bin ganz erschöpft! … Ich sterbe vor Hunger, … was nützt mir da mein Erstgeburtsrecht?‘“ (1Mose 25,30.32 GNB). Esau wurde von seinen Begierden verzehrt.
Esau wurde von seinen Begierden bestimmt, und diese verführten ihn. Esau wird als ein Tier dargestellt. Im hebräischen Original sieht man das noch deutlicher. Alles, woran er denken kann, ist das rote Zeug, das rote Zeug (ha-adom, ha-adom). Er übertreibt das Ausmaß seiner Not. Er steht nicht buchstäblich kurz vor dem Hungertod (wie Kinder, die sagen, dass sie verhungern, wenn das Abendessen eine halbe Stunde zu spät auf den Tisch kommt). Esau ist emotional und impulsiv. Er wird ohnmächtig, keucht und schluckt. Man kann fast sehen, wie er sich den Mund abwischt, die Serviette hinwirft und einen lauten Rülpser ausstößt, als er von seinem Eintopfessen weggeht. Er wurde nicht vornehmer dadurch, dass er seine Begierden befriedigte. Er wurde erniedrigt. Er wurde wie ein Tier. Das ist es, was der Text uns zeigen will. Esau, der geschickte Jäger, wurde zur Beute seines eigenen Appetits. Als der Erstgeborene Isaaks hatte er eine bessere Identität, aber er gab sie auf. Er wurde zu einem profanen Menschen, der das Heilige mit Respektlosigkeit und Geringschätzung behandelte.
Die Welt sagt uns, dass unsere Identität in dem liegt, was wir begehren. Wenn wir also die Erfüllung unserer Wünsche verweigern, verleugnen wir unsere wahre Identität. Wir werden alle von dem überflutet, was Carl Trueman „expressiven Individualismus“[3] nennt. Die Idee ist, dass man das ist, was man fühlt, und sich von niemandem etwas anderes sagen lassen soll. Möglicherweise kennst du Elsas Hymne Let It Go (dt. Lass jetzt los) aus Frozen (dt. Die Eiskönigin). Es ist kein Wunder, dass das Lied und die Figur Elsa in der LGBTQ+-Gemeinschaft so beliebt sind, denn es geht darum, Grenzen auszutesten und sie zu durchbrechen.
„Kein Richtig, kein Falsch, keine Regeln für mich, ich bin frei.“[4]
Was könnte den Zeitgeist besser widerspiegeln?
Eine Philosophie für unsere Zeit
Während des größten Teils der Geschichte haben Philosophen und Theologen zwischen Affekten (die Regungen des Willens sind) und Leidenschaften (die uns unaufgefordert überkommen) unterschieden. Deshalb heißt es im Bekenntnis von Westminster, dass Gott ohne Körperteile und Leidenschaften ist. Die Teilnehmer der Westminstersynode verwendeten den Begriff „Leidenschaft“ nicht wie wir im Sinne von intensivem Eifer. Sie wollten damit sagen, dass Gott kein Gefühlsleben hat wie wir. Er ist reine Handlung; nichts geschieht mit ihm. Er wird niemals passiv.
Daher hat die westliche Tradition, insbesondere die christliche, darauf bestanden, dass die niederen Begierden durch die Vernunft und die in uns wirkende Gnade Gottes gezügelt werden müssen. Die reformierte Tradition geht sogar noch einen Schritt weiter und erinnert uns daran, dass wir durch all unsere Kapazitäten in die Irre geführt werden können. Das meinen wir mit dem Ausdruck „völlig verdorben“ – unsere Leidenschaften sind kaputt, unsere Vernunft ist nicht völlig zuverlässig, und ohne Christus ist unser Wille an die Sünde gebunden.
Die meisten Menschen, denen du im Leben begegnest, gehen von einer unausgesprochenen Annahme aus – vielleicht auch du, wenn du diesen Text liest. Diese Annahme prägt und bestimmt jedes Argument, jeden Instinkt und die Art und Weise, wie du die Welt und dich selbst betrachtest. Sie lautet: Istzustand gleich Sollzustand (engl. „is equals ought“). Wichtig ist, dass sich dieser Istzustand hier nicht mehr auf den Körper bezieht. Es geht nicht um eine körperliche Gegebenheit. „Mein Körper sagt mir die Wahrheit über mich selbst, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass es wahr ist.“ Diese Denkweise wird nicht mehr vorausgesetzt. Jetzt wird vorausgesetzt, dass das, was man über sich selbst fühlt oder glaubt oder wahrnimmt, einem sagt, wer man ist und wie man sich verhalten sollte.
Diese Annahme führt uns zu dem Glauben: „Wenn ich mich so fühle, sollte ich mich auch so verhalten. Wenn du mir sagst, dass ich das nicht tun kann oder dass ich etwas oder jemand anders sein sollte, als ich fühle, greifst du den Kern meiner Persönlichkeit an.“
„Die Rettung, von der wir alle wissen, dass wir sie brauchen, ist nicht in uns selbst zu finden, sondern durch die Suche nach Gnade außerhalb von uns selbst.“
Was ist falsch an dieser philosophischen Annahme? Abgesehen davon, dass es keine objektiven, empirischen, wissenschaftlichen Fakten gibt, die diese Annahme stützen, steht sie völlig im Widerspruch zur christlichen Anthropologie (d.h. dem Verständnis des Menschseins, Anm.d.Red.). Diese Annahme könnte nur funktionieren, wenn es den Sündenfall nicht gegeben hätte. Nur dann, wenn unsere Instinkte niemals selbstbetrügerisch, unsere Wünsche niemals selbstzentriert und unsere Träume niemals selbstzerstörerisch wären, würde diese Philosophie funktionieren.
Die Rettung, von der wir alle wissen, dass wir sie brauchen, ist nicht in uns selbst zu finden, sondern durch die Suche nach Gnade außerhalb von uns selbst. G.K. Chesterton formulierte es gut:
„Soll Meier doch die Sonne oder den Mond anbeten, alles besser als das ‚innere Licht‘; mag Meier Katzen oder Krokodile kultisch verehren, bloß nicht den Gott in seinem Innern. Das Christentum kam zuerst und vor allem in die Welt, um mit Macht darauf zu bestehen, daß der Mensch nicht nur nach innen schauen, sondern den Blick nach außenrichten, daß er mit Staunen und Begeisterung eine göttliche Gemeinschaft und einen göttlichen Lenker zur Kenntnis nehmen müsse. Die einzige Lust, die das Christsein dem Menschen bescherte, war, daß er nicht mit dem ‚inneren Licht‘ allein gelassen wurde, sondern klar und deutlich ein äußeres Licht erblickte, hell wie die Sonne, rein wie der Mond, furchtbar wie ein Heer mit fliegenden Bannern.“[5]
Wie die meisten falschen Lehren ist auch die Lehre, dass der Istzustand gleich dem Sollzustand sei, nur teilweise wahr. Sie greift etwas auf, das wir bekräftigen wollen, nämlich dass die Ethik in der Ontologie (d.h. dem Sein, Anm.d.Red.) verwurzelt sein muss. Das ist nur ein kunstvoller Weg auszudrücken, dass die Identität einer Person auch ihre Pflicht festlegt. Der Istzustand gleicht tatsächlich dem Sollzustand, wenn du auch die Lehre von der Sünde, der Wiedergeburt, der Vereinigung mit Christus und der Innewohnung des Heiligen Geistes hast. Die große Theologin unserer Zeit, Lady Gaga, hat recht: „Du wurdest so geboren“ (engl. „You were born this way“). Die gute Nachricht von Jesus Christus ist, dass du anders wiedergeboren werden kannst.
Sei, wer du bist, aber stirb zuerst
In der Besessenheit unserer Kultur nach Authentizität drückt sich etwas Wahres aus. Eine der wichtigsten ethischen Motivationen im Neuen Testament lautet: „Sei, wer du bist!“ Deshalb bedarf meine provokante Aussage („Sei dir selbst nicht treu!“) am Anfang einer gewissen Einschränkung. Du solltest dir nicht selbst treu bleiben, es sei denn, du bist deinem alten Selbst gestorben und dein neues Selbst ist mit Christus auferweckt und sitzt mit ihm in den himmlischen Regionen. Dein wahres Ich ist es wert, dass du es herauslässt, wenn dein wahres Ich der Sünde gestorben und in Christus Jesus lebendig ist.
„Du solltest dir nicht selbst treu bleiben, es sei denn, du bist deinem alten Selbst gestorben und dein neues Selbst ist mit Christus auferweckt und sitzt mit ihm in den himmlischen Regionen.“
Die Welt sagt, dass du bist, was du fühlst. Die Welt sagt, der Istzustand entspricht dem Sollzustand. Die Welt sagt, du musst dich selbst finden, dir selbst treu sein und dich selbst ausleben. Jesus hat uns eine andere und bessere Art zu leben gegeben:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viel Frucht. Wer sein Leben liebt, der wird es verlieren; wer aber sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren.“ (Joh 12,24–25)
1 Quindlen machte diese Bemerkungen 2002 am Sarah Lawrence College (Bronxville, New York, USA). Sie wurden anschließend in ihrem Buch Loud and Clear, New York: Random House, 2004, S. 307, veröffentlicht.
2 Entnommen einer von mir gehaltenen Rede bei einer Abschlussfeier: „Was immer du tust, sei dir selbst nicht treu“ (Geneva College, Beaver Falls, PA, 7. Mai 2022), https://kevindeyoung.org.
3 Siehe Carl Trueman, The Rise and the Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to the Sexual Revolution, Wheaton, IL: Crossway, 2020.
4 Das ist die wörtliche Übersetzung der Liedzeile. In der deutschen Version des Films lautet die Liedzeile: „Was hinter mir liegt ist vorbei, endlich frei!“.
5 Gilbert K. Chesterton, Orthodoxie, Frankfurt a.M.: Eichborn Verlag, 2000, S. 152–153.