Das Leben unter der Sonne
Prediger 1,1–11
Einige Menschen lieben das Buch Prediger, andere können es nicht leiden. Sie halten es für pessimistisch und negativ, und zum Teil haben sie recht. Es tut weh, den Prediger zu lesen: „Die Worte der Weisen sind wie Treiberstacheln, und wie eingeschlagene Nägel sind die gesammelten Aussprüche; sie sind von einem einzigen Hirten gegeben“ (Pred 12,11). Die Nägel und Stacheln, von denen hier die Rede ist, waren auf einem Stock befestigt, den Hirten verwendeten, um ihre Schafe in die richtige Richtung zu bewegen. So funktioniert das Buch: wie ein Stock, der uns pikst und anstupst.
Stacheln und Hoffnung
Es ist jedoch nicht nur pessimistisch. Es sind die Worte der Weisen, oder besser: des Weisen. Worte von einem Hirten für seine Schafe, oder Worte von einem König für sein Volk (vgl. 1,1). Römer 15,4 sagt uns, dass der Geist Christi diese Worte inspiriert hat, um uns Hoffnung zu geben. Ja, dieses Buch kann wehtun, doch es verrät das Geheimnis von Freude und Hoffnung in einer Welt, die „Nichtigkeit“ ist (Pred 1,2). Nichtigkeit übersetzt ein Wort, das vieles bedeuten kann: enttäuschend, leer, vergänglich. Das Leben ist wie eine Rauchwolke. Du kannst es nicht festhalten. So heißt es etwa in Vers 14: „Ich beobachtete alle Werke, die getan werden unter der Sonne, und siehe, es war alles nichtig und ein Haschen nach Wind!“
„Prediger ist ein Buch über das Leben unter der Sonne, östlich von Eden, jenseits des Gartens.“
Wie schnell bist du? Kannst du den Wind einholen? Auch wenn du ihn einholen könntest, wie würdest du ihn festhalten? Prediger ist ein Buch über das Leben unter der Sonne, östlich von Eden, jenseits des Gartens. Es ist ein Buch über das Leben in einer Welt der Vergänglichkeit, weil sie unter Gottes Gericht steht und seufzt. Das Buch ist ein ehrliches Wort über das Leben, das wir alle kennen. Vers 3: „Was bleibt dem Menschen von all seiner Mühe, womit er sich abmüht unter der Sonne?“
Vergänglichkeit
Das ist kein angenehmer Gedanke. Vielleicht gibt es Menschen in deinem Umfeld, denen es gesundheitlich nicht gut geht, oder Freunde und Familienmitglieder, die immer älter werden. Der Tod ist nie weit von uns entfernt. Das stellt uns vor die Wahl: Entweder stecken wir den Kopf tief in den Sand, um der Realität zu entfliehen, oder wir schauen unserer Sterblichkeit in die Augen.
Also: Geburt → Kindergarten → Schule → Ausbildung → Arbeit → Gemeinde → Freundschaften → Beziehungen → vielleicht Ehe → vielleicht Kinder → mehr Arbeit → Krankenhausbesuche → Arbeit → Ruhestand → mehr Krankenhausbesuche → Tod. Das war’s? Ja! Vers 4: „Ein Geschlecht geht und ein anderes Geschlecht kommt.“ Kurz nicht aufgepasst, und du hast es verpasst. 57 Millionen Menschen sterben jedes Jahr, „die Erde aber bleibt ewiglich!“ Wir kommen und wir gehen. Das Leben zieht ohne uns weiter.
Endlose Bewegung und Luftschlösser
Schau auf Vers 5: „Die Sonne geht auf, und die Sonne geht unter; und sie eilt an ihren Ort, wo sie wieder aufgehen soll.“ Wortwörtlich steht hier „sie seufzt“ – wie ein Marathonläufer, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, Tag für Tag. Leer, bedeutungslos, vergeblich. Denk an den Wind, der durch die Bäume weht: „Der Wind weht gegen Süden und wendet sich nach Norden; es weht und wendet sich der Wind, und zu seinen Wendungen kehrt der Wind wieder zurück“ (Vers 6). Wie die Sonne schnauft und keucht der Wind um die ganze Welt, ohne jemals anzukommen. Ob als Brise oder Orkan, der Wind weht einfach weiter. Jede Sekunde strömen 2.400 Kubikmeter Wasser über die Niagarafälle, doch die Ozeane sind nie voll: „Alle Flüsse laufen ins Meer, und das Meer wird doch nicht voll; an den Ort, wohin die Flüsse einmal laufen, laufen sie immer wieder“ (Vers 7). Drei Bilder: Sonne, Wind, Flüsse. Es gibt kein Ankommen, keinen Gewinn. Endlose Bewegung, nichts bleibt übrig. Es ist alles vergeblich und vergänglich.
Wo passen deine Träume hier hinein? Wenn die Flüsse den Ozean nicht erfüllen, wie wahrscheinlich ist es, dass deine Arbeit dich zufriedenstellt? Wenn die Sonne nie ankommt, wie könnten deine Pläne dich dann ans Ziel bringen? Wir kommen auf die Welt, wir kommen in die Tage, wir kommen in den Sarg. Bald ist nichts mehr von uns übrig. Deswegen tut das Leben so weh. Wir sehnen uns danach, ein bleibendes Zuhause zu haben, doch wir schaffen nur Luftschlösser, die wie Seifenblasen zerplatzen.
Nie satt
Denk an deine „Wenn nur“-Träume: „Wenn ich nur eine Gehaltserhöhung, bessere Noten, eine Ehefrau hätte …“ Solche Träume versprechen uns, dass bleibende, echte Freude greifbar ist. Wenn nur … Doch auch diese Träume sind vergeblich und vergänglich. Vers 8: „Alle Worte [oder besser: ‚alle Dinge‘] sind unzulänglich, der Mensch kann es nicht in Worten ausdrücken.“
Irgendwann wünschen wir uns alle ein anderes Leben. Andere scheinen es viel einfacher oder besser zu haben. Doch wer auch immer in deinen Augen gerade ein Traumleben führt – auch sein Leben ist voll mit unaussprechlicher Müdigkeit. Das Gras ist nicht grüner auf der anderen Seite. Du kannst diesbezüglich sicher sein, denn „das Auge sieht sich nicht satt“ (Vers 8b). Ein toller Sonnenuntergang reicht nicht. Wir müssen weiterschauen, weiterscrollen. Das Auge wird nicht satt. Ständig will es mehr.
Das Ohr ist nicht weniger hungrig. Es „hört nie genug“ (Vers 8c). Ich höre gern Musik. Oft läuft mein Lieblingslied in Dauerschleife. Nächste Woche werde ich es allerdings nicht mehr hören können, und mit dem nächsten Ohrwurm wird’s genauso sein. Was ist der Sinn der Sache? Nichts hält unser Herz oder unsere Aufmerksamkeit auf ewig. Die Weihnachtsgeschenke vom letzten Jahr sind schon längst vergessen. Die coolen Gadgets brauchen ein Upgrade. Die Schlagzeilen von heute sind morgen schon Schnee von gestern.
Nichts Neues?
Vers 9: „Was einst gewesen ist, das wird wieder sein, und was einst geschehen ist, das wird wieder geschehen. Und es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Wer wüsste gern, was dieses oder das nächste Jahr mit sich bringt? Das wissen wir alle ohnehin schon: Freude und Trauer, Langeweile und Hoffnung, Krieg und Frieden, Hungersnot und Partys, Skandal und Erfolg, Leben und Tod. Das Gleiche wie jedes Jahr.
Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Das sagt der Prediger recht häufig. Was will er damit sagen? Er ist kein Vorgänger von Richard Dawkins, dem englischen Atheisten. Dawkins sagte einmal, dass dieses Universum uns nichts anderes zeigt als „erbarmungslose Gleichgültigkeit: Es gibt keinen Sinn, kein Design.“ Doch der Prediger weiß, dass Gott, der Schöpfer, diese Welt regiert.
Doch!
In den Kapiteln 2 und 3 weist uns der Prediger darauf hin, dass es ein Leben über der Sonne gibt. Das Leben unter der Sonne ist nicht alles, was es gibt. Es ist bloß das, was es jetzt gibt, und noch mehr: Seit dieses Buch geschrieben wurde, ist tatsächlich etwas Neues geschehen. Gott wurde in Jesus Christus Mensch, um Anteil an unserem Leben unter der Sonne zu nehmen. Um (wie jede Generation) unter der Sonne zu sterben. Als die Sonne aufstand, durch den Himmel zog und dann wieder unterging, lag Jesus Christus im Grab. Drei Tage später stand Jesus wieder von den Toten auf. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus den Weg zum Leben über der Sonne geöffnet. Er selbst ist dieser Weg für alle, die ihm vertrauen. Jeder, der den Herrn Jesus kennt, gehört dorthin. Das ist unsere bleibende Heimat.
„Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus den Weg zum Leben über der Sonne geöffnet. Er selbst ist dieser Weg für alle, die ihm vertrauen.“
Dennoch wohnen wir heute unter der Sonne. Wie sieht das Leben hier aus? Nichts zu sehen. Wir machen nichts Neues. Vers 10: „Kann man von irgendetwas sagen: ‚Siehe, das ist neu‘? Längst schon war es in unbekannten Zeiten, die vor uns gewesen sind!“ Viele von uns kämpfen mit der Angst, dass wir irgendetwas verpassen. Wir wollen das Beste aus diesem Leben holen, und uns nichts entgehen lassen. Deswegen läuten unsere Handys ständig. Aber siehst du, wie vergeblich und vergänglich das alles ist? Wir kennen alles schon. Wir machen nichts Neues.
Bald vergessen
Wer kennt Sigmund von Häffner, Friedrich Ligsalz, Georg Kronawitter. Die sind einige Münchener Bürgermeister. Vielleicht denkst du: „Das ist eine blöde Frage. Dieses Wissen nützt doch niemandem.“ Genau das ist der Punkt. Irgendwann werden du und ich zu einem solchen Wissen, das niemandem nützt. Vers 11: „Man gedenkt eben an das Frühere nicht mehr, und auch an das Spätere, das noch kommen soll, wird man nicht mehr gedenken bei denen, die noch später kommen werden.“
Wie hieß die Uroma noch mal? Welchen Beruf hatte sie? Wo kam ihr Vater her? Die Schlagzeilen von gestern habe ich schon nicht mehr im Kopf. Wenn ich lange lebe, werde ich nicht nur vieles vom Leben meiner Eltern vergessen, ich werde vieles aus meinem Leben vergessen. Irgendwann kommt der Tag, an dem keiner uns kennt. Ein paar von uns bekommen vielleicht eine Wikipediaseite. Sonst sitzen wir in einem Bilderrahmen, der an der Wand hängt und Staub sammelt. Bis jemand eines Tages das Bild herunternimmt, wegschmeißt, und den Rahmen für ein anderes Bild verwendet. So ist das Leben unter der Sonne. Die Zeit fliegt an uns vorbei und wartet auf keinen. Wie viel von unserem Ehrgeiz ist nur ein verzweifelter Versuch, die Zeit zum Stillstand zu bringen und dem Tod zu entkommen?
Man denkt an das Frühere eben nicht mehr. 20, 30, vielleicht sogar 70 Jahre lang versuchen wir, etwas aus uns zu machen, doch wir bauen nur Sandburgen. Früher oder später kommt die Welle, die alles wegspült. Leg deine Hand auf dein Herz. Spürst du den Herzschlag? Das ist der Trommelschlag, der uns das Tempo vorgibt, zu dem wir auf unser Grab zumarschieren – um dort vergessen zu werden. Vergeblich und vergänglich. Leer, nichtig, vorübergehend wie eine Rauchwolke. Versuch einmal, etwas davon festzuhalten!
Diese Erkenntnis tut weh. Tut sie noch was? Ja – sie ist ein Weckruf und ein Warteruf.
Wach auf!
Unsere Sterblichkeit ist eine der Wahrheiten, die uns am meisten beunruhigen. Wir geben unser Bestes, sie zu verleugnen und zu vergessen. Wir wollen den Tod ausblenden oder in der Ferne halten. Wir möchten leben, als ob wir keine Grenzen hätten. Der Prediger sagt: „Wach auf! Das ist alles nur vergeblich.“ Seine Worte sind scharf wie eine Reißzwecke. Sitzt man darauf, so wacht man schnell auf. Wenn wir uns wecken lassen, werden wir dieses Leben tatsächlich mehr genießen können.
Wenn du denkst, dass das Leben unter der Sonne alles ist, wird es dich nur frustrieren, denn es stellt dich nie zufrieden. Doch wenn du die Wahrheit beherzigst, dass dieses Leben ein Geschenk Gottes ist, dass ein Leben über der Sonne vor uns steht, dann wirst du dieses Leben als Geschenk annehmen und genießen können. Die Hoffnung auf eine bleibende Heimat wird dich zur Freude hier und jetzt befreien.
Warte!
Deswegen warte auf das Leben über der Sonne. Der Prediger spricht später mehr davon, aber den ersten Hinweis gibt’s schon in Vers 1: „… des Sohnes Davids, des Königs in Jerusalem.“ Das ist keine biographische Floskel wie: „… spielt Fußball in seiner Freizeit.“ Nein, diese Worte zeigen uns, dass das Leben sich nicht in Kreisen dreht wie eine Spülmaschine. Es gibt ein Ziel, denn es gibt einen Gott, der diese Welt regiert.
Er ist der Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreite und in das verheißene Land brachte. Der Gott, der David als König in Jerusalem einsetzte und versprach, dass er eines Tages einen von Davids Söhne als König in einem ewigen Königreich einsetzen würde (vgl. 2 Sam 7,13). In jenem Königreich, in jenem Leben über der Sonne, würde Gott sein Volk von dem endlosen Todesmarsch der Zeit befreien und sie in eine bleibende Heimat führen, wo nichts verloren oder vergessen wird. Es wird der Himmel auf Erden sein.
Dies ist das Königreich, das Jesus Christus verkündigte und das er durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung errichtet hat. Das Königreich, das er bei seiner Rückkehr vollenden wird. Das Königreich, das der Herr Jesus Christus allen schenkt, die sich von ihren Sandburgen abwenden und ihm anvertrauen. Darauf warten wir, und zwar eifriger als auf die nächste Amazonlieferung. Wartest du auf dieses Königreich und sein Leben über der Sonne, so kannst du der Vergeblichkeit der Welt in die Augen schauen und dennoch wissen, dass Gott dich kennt und nie vergisst.