Eltern, delegiert die geistliche Erziehung nicht

Artikel von Jonathan de Oliveira
17. Juli 2023 — 10 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist, zusammen mit den beiden Artikeln „Mehr als Unterhaltung“ und „Kinder im Gottesdienst“, Teil einer kurzen Reihe zum Thema Kindergottesdienst.

Auslagerung oder „Outsourcing“ ist in der Marktwirtschaft mittlerweile die Norm. Aufgaben und Leistungen werden an Unternehmen weitergegeben, die „es besser machen können“. In der Marktwirtschaft ergibt das durchaus Sinn und bringt viele Vorteile mit sich. Allerdings scheint Outsourcing mittlerweile auch in Bezug auf die geistliche Erziehung von Kindern die Norm geworden zu sein. Anders als in der Marktwirtschaft ist Outsourcing in diesem Bereich nicht der bessere Weg. Denn die geistliche Erziehung von Kindern ist eine von Gott gegebene Berufung und Aufgabe christlicher Eltern und sie verpassen eine große Chance, wenn sie diese nicht wahrnehmen.

Der Auftrag an christliche Eltern

Man kann die Bibel kreuz und quer lesen, ohne einen einzigen Hinweis auf die Auslagerung der geistlichen Erziehung von Kindern an Dritte zu finden. Jedoch wird man nicht wenige Stellen finden, die Eltern über ihre Verantwortung in Bezug auf die geistliche Erziehung ihrer Kinder belehren. Diese Erwartung existierte unter Gottes Volk von Anfang an.

Abraham hatte den Auftrag, seinen Kindern zu befehlen, den Weg des Herrn zu bewahren (vgl. 1Mose 18,19). Dieser Auftrag wurde danach jedem Israeliten in Bezug auf seine eigenen Kinder gegeben (vgl. 5Mose 6,6–7). Das Wort Gottes sollte den Kindern im Alltag eingeschärft werden und so das Familienleben vollständig prägen. Zudem sollte die Weitergabe von Gottes Wort über Generationen hinweg geschehen (vgl. Ps 78,3–4).

Diese Aufgabe haben beide Elternteile, aber insbesondere die Familienväter (vgl. Eph 6,4). Sie sind aufgerufen, die Initiative zu ergreifen und die Hauptlehrer ihrer Kinder zu sein. Es ist eine langwierige Arbeit, die aber am Ende Belohnung und Segen mit sich bringt (vgl. Spr 22,6; 29,17).

Dieses Verständnis gab es aber nicht nur zur Zeit der Bibel, sondern es war die Norm in den darauffolgenden fast 1800 Jahren der Kirchengeschichte. Wir finden keine Hinweise auf Unterweisung von Kindern in einem Format, das dem heutigen Kindergottesdienst ähnelt.[1] Vielmehr herrschte die Erwartung, dass die Eltern, und vor allem die Familienväter, ihre Kinder in Glaubenssachen unterweisen. So adressiert z.B. Martin Luther seinen kleinen Katechismus unter anderem auch an die Hausväter, die ihren Kindern die Grundlagen des Glaubens weitergeben sollen. Erst mit dem Aufkommen der Sunday School (dt. „Sonntagsschule“) ab dem Ende des 18. Jahrhunderts kam die Tendenz auf, die geistliche Unterweisung von Kindern aus dem Familienkontext auszulagern. Anfangs war die Sunday School für Kinder gedacht, die unter der Woche nicht in die Schule gehen konnten, weil sie arbeiten mussten. Anhand der Bibel wurde den Kindern das Lesen beigebracht. Im Lauf der Zeit modifizierten die Gemeinden dieses Konzept, sodass die Sunday School parallel zum „normalen“ Gottesdienst stattfand. Gut gemeint, aber schlecht zu Ende gedacht. Denn das führte zunehmend dazu, dass die Eltern ihre Verantwortung abgaben. Ein Keil wurde in das Familienleben getrieben, der das „normale“ Familienleben von dem geistlichen Leben in der Familie trennte.

Doch der Kindergottesdienst ist keineswegs nur schlecht. Das hier ist kein Aufruf, ihn abzuschaffen. Ich komme später noch darauf zu sprechen, dass er durchaus auch Vorteile hat. Aber der Punkt ist folgender: Ein Kindergottesdienst darf die Rolle der Eltern nicht ersetzen. Die primäre Verantwortung für die geistliche Unterweisung der Kinder liegt bei den Eltern. Leider wird sie heutzutage häufig nicht wahrgenommen. Das ist biblisch problematisch. Wir müssen als Gemeinden wieder lernen, Eltern darüber zu belehren und sie dazu zu ermutigen.

Ein praktischer Vorschlag: Die Familienandacht

Vielleicht bist du als Vater oder Mutter zwar von dem Prinzip überzeugt, hast aber keine Vorstellung davon, wie das aussehen kann. Der Gedanke daran überfordert dich vielleicht sogar, weil du in diesem Bereich keine Erfahrung hast. Hier ist die gute Nachricht: Es ist einfacher, als man denkt. Du musst kein kompliziertes Programm machen, das einem Kindergottesdienst ähnelt. Nehmt euch als Familie einfach jeden Tag 20 Minuten Zeit, zum Beispiel vor dem Frühstück oder bevor die Kinder ins Bett gehen. Hier sind ein paar Vorschläge, wie du diese Zeit füllen kannst:

  • eine Bibelgeschichte lesen (z.B. aus der Die Gott hat dich lieb Bibel für Vorschulkinder oder der NeÜ-Bibel für ältere Kinder) und ein oder zwei Verständnis– oder Anwendungsfragen über das Gelesene stellen
  • biblische Wahrheiten mithilfe des Katechismus oder des Buches Theologie für Kinder besprechen
  • ein Lied als Familie singen
  • gemeinsam Bibelverse lernen
  • gemeinsam beten (nicht nur Bitten, sondern auch Dank und Lobpreis; nicht nur für uns, sondern auch für andere)

Ansonsten gibt es auch ausgearbeitete und vorgefertigte Konzepte von Familienandachten, die man zur Hilfe ziehen kann. Die Familien-Andachtsbücher in der EBTC-Kindermaterialreihe Generation der Gnade sind ein gutes Beispiel dafür.

Diese Art von Familienandacht oder Familiengottesdienst hat viele Vorteile. Zum einen nimmt der Glaube einen zentralen Platz in der Familie ein. Euer Familienleben wird auf diese Weise auf einem festen Fundament gebaut. Zudem kann eine Kultur des offenen Austausches und von tiefen, geistlichen Gesprächen innerhalb der Familie gefördert werden. An die Kinder wird dadurch kommuniziert, dass Gott auch im Alltag relevant ist und nicht nur sonntags in der Gemeinde. Außerdem zeigen die Eltern ihren Kindern, dass auch sie eine lebendige Beziehung mit dem Herrn haben – was für Kinder oft eine positive, prägende Auswirkung hat. Kinder werden durch Familienandachten auch für den Gottesdienst am Sonntag gut vorbereitet und profitieren dadurch mehr von den Versammlungen der Gemeinde.

Für manche Familien ist das jeden Morgen oder jeden Abend machbar. Für andere wäre eine Andacht nur ein- oder zweimal in der Woche möglich. Wichtig dabei ist Beständigkeit. Lass das ein normaler Aspekt eures Familienalltags werden, genauso wie Frühstück, Hausaufgaben und Freizeit normale Aspekte eures Familienalltags sind. Wenn euer Zeitplan schon voll ist, reduziert an anderer Stelle. Die geistliche Entwicklung eurer Familie verdient es, oberste Priorität zu werden. Das ist eure Berufung als Eltern!

Die Rolle der Gemeinde

Wir haben bisher vor allem über die Rolle der Eltern in der geistlichen Erziehung ihrer Kinder nachgedacht. Aber was ist dann die Rolle der Gemeinde? Die Gemeinde hat die Aufgabe, die Eltern in ihrer Rolle zu unterstützen. Sie bietet keinen Ersatz, sondern eine Ergänzung zu dem an, was die Kinder zu Hause bekommen. Das tut sie auf unterschiedliche Weise.

„Die Gemeinde hat die Aufgabe, die Eltern in ihrer Rolle zu unterstützen. Sie bietet keinen Ersatz, sondern eine Ergänzung zu dem an, was die Kinder zu Hause bekommen.“
 

Zum einen werden Kinder in der Gemeinde von erfahrenen Mitarbeitern kindgerecht gelehrt. Im Kindergottesdienst, in der Jungschar oder im Teen-Kreis wird das, was sie zu Hause lernen, bestätigt, vertieft und ergänzt. Sie haben dort die Möglichkeit, nicht nur mehr Glaubensinhalte zu bekommen, sondern auch Anwendungen, die auf ihr Alter zugeschnitten sind. In der Gemeinde kommen sie mit reifen Christen in Kontakt und können enge Jüngerschaftsbeziehungen mit älteren Christen entwickeln. Nicht selten werden sie auch positiv von anderen gleichaltrigen Kindern geprägt. Somit haben sie auch außerhalb der Familie Glaubensvorbilder. Dadurch lernen sie, dass biblische Lehren eine Relevanz über die Wände ihres Familienhauses hinaus haben. Das wird umso wichtiger, je älter sie werden und sich mehr und mehr von ihrem Elternhaus emanzipieren. Gewöhne es den Kindern also früh an, an Gemeindeveranstaltungen teilzunehmen. Lass diese einen Stammplatz in eurem Familienwochenplan besetzen.

Das gilt übrigens nicht nur für die Kinderangebote. Wir unterschätzen oft, welche Auswirkungen der Hauptgottesdienst auf Kinder hat. Kinder beobachten und lernen gerne von älteren Menschen. Sie verstehen und verarbeiten mehr, als wir ihnen in der Regel zutrauen. Wenn Eltern ihre Kinder mit Vor- und Nachbesprechung ein wenig begleiten (z.B. die Predigtstelle als Familie davor lesen oder am Mittagstisch den Gottesdienst kurz besprechen), können Kinder von dem normalen Gottesdienst und sogar der „langen“ Predigt viel mitnehmen. Das scheint in der frühen Kirche tatsächlich die normale Erwartung gewesen zu sein. Paulus spricht in seinen Briefen – die in den Gemeinden vorgelesen wurden – auch Kinder an (vgl. Eph 6,1–3; Kol 3,20). Das heißt, sie saßen in den Gottesdiensten und nahmen teil! Außerdem kann sich der Hauptgottesdienst eindrucksvoll bei Kindern auswirken, weil sie einen Geschmack davon bekommen, wie es in Gottes Volk zugeht – Jung und Alt, Arm und Reich, Menschen verschiedener Nationalitäten loben Gott gemeinsam und lieben einander. Das ist anziehend, bewegend und hinterlässt oft einen bleibenden positiven Eindruck.

Warte also nicht, bis die Kinderangebote auslaufen, bevor du dein Kind ermutigst, in den Hauptgottesdienst zu gehen. Gewöhne es früh daran. Wie früh? Jedes Kind ist unterschiedlich. Aber probier es immer mal wieder aus, wenn das Kind klein ist. Dann, wenn dein Kind das Schulalter erreicht hat, könnte es einmal im Monat oder alle zwei Monate den Kindergottesdienst „aussetzen“. Ich würde sehr empfehlen, Kinder spätestens vor dem Teenageralter komplett vom Kindergottesdienst abzugewöhnen. Mit so viel Veränderung, die das Teenageralter mit sich bringt, tun Eltern sich keinen Gefallen, wenn sie erst dann ihre Kids ermutigen, den Sprung in den Hauptgottesdienst zu machen. Generell wäre es sinnvoll, die parallel laufenden Kindergottesdienstangebote nur für Kinder statt auch für Teenager anzubieten. Es ist auch überlegenswert, das Kindergottesdienstprogramm nicht über den gesamten Gottesdienst zu strecken, sondern zu ermöglichen, dass die Kinder den Anfang vom Hauptgottesdienst miterleben.

Gleichzeitig können Gemeinden den Prozess der Integration von Kindern in den Hauptgottesdienst dadurch unterstützen, dass alle Beteiligten eine Sprache benutzen, die auch Kinder verstehen. Das heißt, Gottesdienstleiter und Prediger sollten mit ihrem Sprachstil und Vokabular nicht wie Nachrichtensprecher oder Professoren klingen, sondern eher wie der Bäcker oder der Taxifahrer – „dem Volk aufs Maul schauen“.

Es braucht eine ganze Gemeinde …

Die Hauptverantwortung für die geistliche Erziehung von Kindern liegt zwar bei den Eltern, aber Gott hat ihnen die Gemeinde zur Unterstützung gegeben. Den alten Spruch über Kindererziehung „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, können wir in Bezug auf die geistliche Erziehung von Kindern umformulieren: „Es braucht eine ganze Gemeinde, um ein Kind großzuziehen.“

Nicht nur durch die Veranstaltungen kann die Gemeinde Unterstützung leisten. Sie kann das auch ganz informell und organisch tun. Du kannst beispielsweise Menschen aus der Gemeinde in euer Familienleben mit hineinnehmen. Ladet häufig jemanden ein und lasst euch häufig einladen. Vielleicht denkst du an dieser Stelle: „Wir haben keine Zeit; unser Leben ist zu chaotisch.“ Darf ich dich ermutigen? Es ist in Ordnung, ein ganz normales Bild von eurem Leben abzugeben. Du musst nicht dein bestes Bild abgeben. Du musst nicht das beste Essen vorbereiten oder sicherstellen, dass deine Wohnung perfekt aussieht. Lass Menschen in euren Alltag hinein. Öffne die Tür. Das senkt die Ansprüche und somit auch die Hürden, Leute einzuladen. So ermutigst du auch andere Menschen, offener und authentischer zu leben. Aber das ist nicht der Hauptpunkt, sondern dieser: Eure Kinder werden davon profitieren! Sie werden mehr Möglichkeiten bekommen, zu sehen und zu hören, wie Christen sind, wie Christen leben, wie sie sich verhalten und wie Nachfolge in unterschiedlichen Umständen und in unterschiedlichen Lebensphasen aussieht. Lasst eure Kinder sich nicht nur mit anderen Kindern anfreunden, sondern auch mit Erwachsenen. Generationsübergreifende Beziehungen führen oft zu reiferen Kindern. Eure Kinder brauchen die ganze Gemeinde, also trennt sie nicht von ihr.

Seid also aktiv; ergreift Initiative in der geistlichen Erziehung eurer Kinder und macht Gebrauch von der Gemeinde, um euch dabei zu unterstützen. Das ist eure Berufung. Das ist das beste Erbe, das ihr an eure Kinder weitergeben können.


1 Am nächsten kommt dem Kindergottesdienst das Katechumenat, das eine Vorbereitung auf die Taufe war. Diese Unterweisung war aber zeitbegrenzt und nicht nur für Kinder, sondern für alle, die sich zur Taufe anmeldeten.