Die Wahrheit stirbt nicht in den Flammen
Zeitweise drei Päpste, in mehr oder weniger offener Todsünde lebende Kirchenangehörige, große Katastrophen (wie z.B. der „Schwarze Tod“ um 1350), politisch tiefgehende Verfallserscheinungen: Auch wenn die Zeit des Spätmittelalters (etwa 1250–1500) heutzutage nicht mehr nur als reine Krisenzeit gedeutet wird, so ist dennoch nicht zu leugnen, dass sich die kirchlichen und politischen Umstände zumindest in einem Umbruch – und vor allem die Kirche sich in einer zunehmend misslichen Lage – befanden. Mitten in diese Zeit tritt ein Theologe und Priester im böhmischen Prag auf die Bühne des Weltgeschehens, der für seinen Einsatz und seine Worte später mit dem Leben bezahlen muss: Jan Hus. In die Linie dieses sogenannten Vorreformatoren stellt sich etwas über 100 Jahre später Martin Luther ganz bewusst. Wer aber war dieser Mann und worin bestand die Schuld, die ihn letztlich auf den Scheiterhaufen brachte? Dafür müssen wir einige Jahrhunderte in der Zeit zurückgehen; Start- und Schauplatz ist das kleine tschechische Dörfchen Husinec.
Kindheit und Jugend
Jan Hus wurde dort um das Jahr 1370 herum geboren. Eine genaue Rekonstruktion seines Geburtsdatums ist durch die dünne Quellenlage bis dato nicht möglich. Die Ortsbezeichnung seines Heimatdorfes unweit der bayrischen Grenze im böhmischen Wald gibt ihm auch seinen Nachnamen: Johannes de Husinec, oder kurz: Jan Hus. Die Familienverhältnisse sind nur skizzenhaft überliefert: Aus eher einfachen Verhältnissen stammend, der Vater wahrscheinlich schon früh verstorben, wurde Hus von seiner Mutter in eine Lateinschule geschickt, um auf diesem Weg eine Laufbahn als Priester einzuschlagen. In den Schriften und Briefen von Hus ist später nur selten von seiner Jugendzeit die Rede. Er erzählte davon, wie er leidenschaftlich Schach spielte (was ein Hinweis auf sein überdurchschnittliches Denkvermögen sein mag) und dass er sich an den üblichen Streichen und Witzeleien seiner Altersgenossen beteiligte.
Großes Schisma und Reformklima
Während Hus seine recht unspektakulären Kinderjahre in den Ausläufern des Böhmerwalds verbrachte, passierten in der Welt bemerkenswerte Dinge: Bedeutendstes Ereignis ist sicher das Große Schisma, eine über Jahrzehnte andauernde Spaltung der westlichen Kirche. Nachdem Papst Gregor XI. im März 1378 in Rom starb, wurde mit Urban VI. sein Nachfolger gewählt. Unterstützt vom französischen Hof wählte eine Kardinalsfraktion aus zumeist französischen Geistlichen nur wenig später jedoch Clemens VII. zum Oberhaupt der Kirche. Clemens bestimmte das französische Avignon als Residenzort, während Urban im Kirchenstaat bzw. Rom verblieb. Zwar hatte es konkurrierende Ansprüche auf den päpstlichen Stuhl auch früher schon gegeben, aber erst dieser nun entstandene französisch-italienische Dualismus würde Kirche und Politik über mehrere Dekaden unheilvoll begleiten. Beide Seiten pflegten eine tiefe Feindschaft, verfluchten sich gegenseitig und legten in regelmäßigen Abständen den Bann aufeinander. Das hatte nicht nur kirchenpolitische Konsequenzen, denn letztlich war jeder einzelne Gläubige davon betroffen. Heil gab es nach damaligem Verständnis nämlich nur innerhalb der Kirche, die als Mittler zwischen Individuum und Gott auftrat. Was aber, wenn nicht klar ist, welche Kirche die wahre Kirche Gottes ist?
Das Schisma war Ausdruck und vorläufiger Tiefpunkt einer Krise der spätmittelalterlichen Kirche. Bereits davor waren sich jedoch viele Kleriker der Erneuerungsbedürftigkeit ihrer Institution bewusst; immer wieder kam es zum Auftreten sogenannter Reformer. Gruppierungen wie die Katharer und die Waldenser erschienen bereits lange vor Hus, Einzelpersonen wie Konrad von Waldhausen oder Johannes Milicius predigten – zum Teil mit stark endzeitlicher Betonung – eifrig gegen den Verfall der Kirche an. Viele wurden verfolgt, und mit der Inquisition schafften sich die päpstlichen Behörden ein wirkmächtiges Prozessverfahren, mit dem Häretiker und Ketzer erkannt und beseitigt werden sollten.
Einige erfuhren aber auch Toleranz und Duldung. Manche wurden sogar von den Herrschenden in ihren Reformbemühungen gefördert. Einerseits, weil die Krise der Kirche offenbar war und niemand den Reformbedarf ernsthaft leugnen konnte. Andererseits aber auch als politisches Instrument diverser Herrschaftshäuser, um so Druck auf den Papst oder andere Angehörige des Klerus auszuüben. Politik und Kirche des Spätmittelalters waren untrennbar miteinander verbunden. Zuweilen ist nicht zu unterscheiden, ob es um theologisch-geistliche oder um politische Fragestellungen ging. Wer als Ketzer verurteilt oder als geschätzter Theologe geachtet wurde, hing nachweislich auch nicht in jedem Fall mit den jeweiligen Lehrinhalten zusammen, sondern mit den aktuellen machtpolitischen Verhältnissen.
John Wyclif
Ein in dieser Hinsicht besonders einflussreicher Reformer mit nicht zu überschätzendem Einfluss auf Jan Hus war der Oxforder Theologe und Bibelübersetzer John Wyclif. Dessen Äußerungen gegenüber den Missständen der Kirche sind durchaus radikal zu nennen. Mit Berufung auf die Autorität der Schrift prangerte er das weltliche Besitztum der kirchlichen Institutionen an und stellte gar das Papsttum an sich infrage. Kirche verstand er nicht primär als äußeres Gebilde, sondern als Gemeinschaft der Erwählten. Niemand könne endgültig sagen, wer wirklich dazugehöre, auch wenn es durch ein „sittliches Leben“ äußere Indizien geben könne. Auch seine Überzeugungen hinsichtlich des Abendmahls widersprachen den Lehren der Amtskirche fundamental.
In den 1380er-Jahren brachten böhmische Gelehrte Wyclif-Texte nach Prag, wo sie schon bald an der dortigen Universität rezipiert wurden. „Oh Wyclif, nicht nur mir verdrehst du den Kopf!“, schrieb der Student Hus an den Rand einer von ihm abgeschriebenen Schrift des englischen Gelehrten. In den späteren Arbeiten von Hus findet man Passagen aus Wyclifs Werken, so wie es damals üblich war, zum Teil wörtlich wiedergegeben. In den Lehren dieses englischen Theologen fand Hus das Fundament und Lehrgebäude, welches sein Denken und Handeln zeit seines Lebens bestimmen sollten. Letztlich lag in ihnen – zu diesem Zeitpunkt für niemanden erkennbar – aber auch die Wurzel zu seinem Tod auf dem Scheiterhaufen.
Jan Hus als Universitätsangehöriger und Prediger in Prag
Nach Prag, Hauptstadt des Königreichs Böhmen, war Jan Hus um 1390 herum gekommen, um an der dortigen Universität zu studieren. Die Stadt war während der Herrschaftszeit von Karl IV. pompös ausgebaut worden. Sie war als Residenzort des römischen Königs – Karl war 1346 von der Mehrheit der Kurfürsten dazu gewählt worden – eines der geistigen und politischen Zentren nicht nur des Heiligen Römischen Reichs, sondern ganz Europas. Die Universität war 1348 von Karl als erste Einrichtung dieser Art nördlich der Alpen errichtet worden. Sie entwickelte sich, neben den Lehranstalten in Paris und Bologna, zu einer der wichtigsten zeitgenössischen Universitäten und stärkte durch ihren Ruhm nicht nur die Position Karls, sondern zog zugleich viele Studenten aus dem Ausland an. Die Prager Universität wurde so zu einem wichtigen Ort des Austausches im Bereich der Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, aber auch Mediziner wurden hier ausgebildet.
Hus begann dort eine Art philosophisches Grundstudium: das Studium der sogenannten sieben freien Künste. Über seine Zeit als Student sagt er später selbst: „Von der ersten Zeit meines Studiums an habe ich mir dies als Regel genommen, dass, so oft ich in irgendeiner Sache eine gesündere Ansicht vernähme, ich von meinen früheren dann abließe, da ich wohl weiß, dass, was wir wissen, weit weniger ist als das, was wir nicht wissen.“ Nach erfolgreichem Studium wurde er 1396 zum Magister promoviert. Auch unterrichtete er nun selbst Studenten.
Parallel nahm er das Studium der Theologie auf und wurde im Jahr 1400 zum Priester geweiht. Das bereitete ihn auf die für sein Leben gewichtigste Aufgabe vor: 1402 wurde er zum Prediger der Bethlehemskapelle in der Prager Altstadt ernannt, in welcher auf Tschechisch gepredigt wurde und die etwa 3.000 Gläubigen aus allen gesellschaftlichen Schichten Platz bot. Jan Hus übte diese Aufgabe mit großer Leidenschaft aus und sah dieses Amt zunehmend als seine Hauptaufgabe. Predigen war für ihn innere Berufung, und wenn man den historischen Zeugnissen glauben darf, muss Hus ein begnadeter Redner auf der Kanzel gewesen sein. Im Jahr hielt er etwa 200–300 (!) Predigten, daneben studierte er weiterhin Theologie und bot Vorlesungen an.
Aus einem Brief an einen jungen Priester können wir erkennen, mit welcher Ernsthaftigkeit Hus das Amt eines Predigers ausübte: „Erst lebe fromm und heilig, dann lehre treu und recht. … Predige unermüdlich, jedoch kurz und effektiv und mit einem kundigen Verständnis der Heiligen Schriften. Behaupte nie etwas Unsicheres oder Zweifelhaftes, damit du nicht von den Gegnern gerügt werden kannst.“ Predigen war für Jan Hus „die nützlichste Wirkkraft der Kirche Jesu Christi.“
Obwohl Hus von Beginn seiner Predigttätigkeit an den moralisch zweifelhaften Lebenswandel der Kleriker kritisierte, ist mit fortschreitender Dauer eine gewisse Freiheit zu erkennen, diesen Missstand immer offener anzusprechen. Hus selbst erklärte diesen Umstand damit, dass „der Heiland ihm die Kühnheit gegeben habe, jedem gegenüber die Wahrheit anzusprechen.“ In der Tat machte die Beanstandung der verweltlichten Kirche einen großen Teil der Predigten von Jan Hus aus. Das hinderte den Prager Erzbischof nicht, Hus zum Prediger auf den Synoden der Diözese 1305 und 1307 zu berufen, wo Hus seine Kritik an der Kirche bekräftigte. Die anwesenden Kleriker, zum Teil selbst von den Worten betroffen, nahmen diese jedoch zur Kenntnis, ohne dass sich Widerstand erhoben hätte. Hus’ Predigt bewegte sich zu diesem Zeitpunkt noch im „erwartbaren“ Rahmen. Überhaupt waren die ersten Jahre nach 1400 noch verhältnismäßig ruhig: Hus studierte, predigte, disputierte an der Universität, übte Seelsorge und war dabei, wie der Hus-Biograf Pavel Soukup schreibt, sicher „kein langweiliger Mensch“, der bei allem Bewusstsein für den moralischen Verfall ein offen-positives Interesse für das Weltgeschehen um sich herum bewahrte.
Die Lage spitzt sich zu
Spätestens 1408 wurde das Verhältnis zur böhmischen Kirche bzw. dem Prager Erzbischof sowie der päpstlichen Kurie immer komplizierter. Hus war zu diesem Zeitpunkt Kopf der den Lehren Wyclifs verschriebenen Reformgruppe an der Prager Universität; für einige Zeit war er sogar ihr Rektor. Die Sympathie für Wyclif brachte Hus zunehmend in Konflikt mit dem Prager Erzbischof. Er blieb jedoch noch relativ geschützt, weil der böhmische König seine Hand über den Magister und Prediger hielt. 1409 gebot Alexander V. (der mittlerweile dritte Papst, nun mit Sitz in Pisa), alle Schriften von Wyclif zu verbrennen. Außerdem wurde Hus, ohne dass er namentlich genannt wurde, in einer päpstlichen Bulle das Predigen in der Bethlehemskapelle verboten. Damit war er an seinem empfindlichsten Punkt getroffen: „Ihr sollt auch wissen, was ich mir vorgenommen habe und vornehme: Entweder muss ich predigen, oder ich werde aus dem Lande verbannt, oder ich sterbe im Kerker, weil auch die Päpste lügen können und lügen, aber Gott lügt nicht.“ Hus predigte weiter.
Der so provozierte Erzbischof exkommunizierte Hus und seine Mitstreiter. In Prag kam es zu Unruhen zwischen den Anhängern beider Lager. Weil Hus den Anordnungen des Erzbistums die Stirn geboten hatte, wurde er nun direkt vor die päpstliche Kurie geladen. Hus ignorierte diese und wurde deswegen mit dem Kirchenbann belegt. 1412 kam es dann zum endgültigen Eklat, als Hus gegen einen „innerkirchlichen“ Kreuzzug des Papstes und dem damit verbundenen Ablasshandel predigte: Beim Ablass gehe es um Reue, nicht um das Erwirken von göttlicher Vergebung aufgrund einer Geldzahlung!
Neue Unruhen entstanden. Weil nun auch der König sich gegen Hus wandte (der Regent hatte sich selbst einen monetären Mehrwert aus dem Ablasshandel versprochen), musste Hus 1412 aus Prag fliehen. Es folgte eine Zeit des Umherreisens, Hus nutzte die sich nun ergebene Möglichkeit, viele seiner wesentlichen Gedanken (auf Tschechisch) zu Pergament zu bringen. Heraus sticht De ecclesisa, eine Schrift, in welcher der Magister sein von Wyclif rezipiertes Kirchenverständnis zusammenfasst: Die wahre Kirche Christi sei nicht die sichtbare, äußere, sondern eine innere, eine Gemeinschaft der Erwählten. Nicht der Papst, sondern Christus sei das Oberhaupt der Kirche und dementsprechend müsse man dem Papst nicht gehorchen – wenn denn seine Worte denen der Schrift widersprächen: „Die Kirche als Institution verlor ihre ausschließliche Zuständigkeit in Glaubenssachen, denn jeder Gläubige sollte selbst nach seinem Gewissen die Übereinstimmung eines jeden Befehls mit den Geboten Christi beurteilen“[1].
Das Konstanzer Konzil
Mittlerweile war über Hus der „verschärfte Kirchenbann“ erhoben worden. Das änderte nichts daran, dass Hus während seines „Exils“ sein Verständnis von Kirche in den böhmischen Landen außerhalb von Prag weiter verbreiten konnte. Er führte das ihm besonders wertvolle Predigtamt nun in „Dörfern und Märkten, an Hecken und Zäunen“ fort. Sicher liegt in dieser Ausbreitung bereits die Grundlage für die spätere Bewegung der „Hussiten“.
„Unter Tränen antwortete Hus, dass er nicht widerrufen könne, es sei denn, man würde ihm die Irrtümer anhand der Bibel nachweisen. Mit dieser Aussage waren die Würfel endgültig gefallen.“
Im Oktober 1414 ging es für Hus nach Konstanz. Es sollte seine letzte Reise werden. Am Bodensee hatte sich Rang und Namen der Kirche versammelt, um das unsägliche Schisma zu beenden. In diesem Zuge sollte auch die Frage nach den Lehren Wyclifs und Hussens endgültig aus der Welt geschafft werden. Hus selbst ging jedoch davon aus, dass er sich in einer Disputation und einem fairen Gespräch behaupten dürfe – eine gänzlich falsche und folgenschwere Einschätzung, die sicherlich auch in der Tatsache begründet war, dass ihm der Kaiser freies Geleit zugesichert hatte. Insgesamt dauerte das Konzil geschlagene vier Jahre; erst 1418 schloss der neugewählte und nun wieder alleinige Papst Martin V. zusammen mit König Sigismund die Veranstaltung.
Anfang November 1414 traf Hus in Konstanz ein. Die Schutzzusage des noch abwesenden Königs schien vor Ort irrelevant: Er wurde bereits Ende November eingekerkert und sollte es bis zum Ende bleiben. Der immer schon kränkliche Hus vertrug die Haftumstände kaum. Erst im Juni wurde er schließlich vor das Konzil geladen, wo es zu drei Anhörungen kam. Zu Beginn dieser Verhöre wurden verschiedene Artikel und Zeugenaussagen von Hus präsentiert. Als dieser darauf antworten wollte, wurde er von den Anwesenden sofort niedergeschrien und ausgelacht. Bei der zweiten Anhörung wurde Hus von einem seiner ehemals besten Freunde scharf angegriffen und der Gotteslästerung beschuldigt. Bei diesen Vernehmungen meldete sich auch der König zu Wort und nahm im Grunde das freie Geleit wieder zurück: „Ich habe gesagt, ich will keinen Irrlehrer verteidigen, im Gegenteil, einen hartnäckigen Ketzer würde ich selbst anzünden und verbrennen!“
Spätestens an dieser Stelle wurde Hus klar, was ihn erwarten würde, sollte er sich nicht an die Bedingungen des Konzils halten. Man verlangte von ihm, seine Aussagen zu widerrufen und in Zukunft nur noch die Lehre der Kirche zu verbreiten. In einem Brief an seine Freunde vom 21. Juni erläuterte Hus seinen Standpunkt: „Das ist im Namen Jesu Christi mein endgültiger Entschluss: Ich will weder die richtig ausgewählten Artikel als Irrtum bekennen, noch will ich den mir durch falsche Zeugen angedichteten Artikeln abschwören … Gott weiß ja, dass ich niemals jene Irrtümer gepredigt habe, die man sich ausgedacht hat, indem man viele Wahrheiten wegließ und falsche Behauptungen hinzufügte. Wenn ich aber von einem meiner Artikel wüsste, dass er wahrheitswidrig ist, würde ich ihn sehr gerne verbessern, widerrufen und sein Gegenteil lehren und predigen.“
Es gab für Hus zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Möglichkeiten: Widerruf oder Tod. In dieser Zeit wurden auch die Schriften von Hus öffentlich verbrannt. Am Vorabend des 6. Juli 1415 wurden vier Bischöfe persönlich zu Hus geschickt, um ihn umzustimmen. Unter Tränen antwortete Hus, dass er nicht widerrufen könne, es sei denn, man würde ihm die Irrtümer anhand der Bibel nachweisen. Mit dieser Aussage waren die Würfel endgültig gefallen.
Tod
Am Morgen des 6. Juli wurde Hus in die Kirche von Konstanz geführt. Man kleidete ihn in ein vollständiges Priestergewand und zog es ihm, den kirchenrechtlichen Vorgaben entsprechend, anschließend Stück für Stück wieder aus, um ihm damit seine Priesterwürde zu nehmen. Als man ihm den Kelch aus der Hand nahm, wurde er von den Beteiligten als „verfluchter Judas“ bezeichnet. Hus entgegnete, er vertraue darauf, dass Gott ihm den Kelch des Heils nicht wegnehmen werde. Am Ende setzten sie ihm eine Mütze mit drei Teufeln auf und sagten: „Wir befehlen deine Seele den Teufeln.“ Hus war damit ganz offiziell und endgültig kein Teil der Kirche mehr.
Nach der Übergabe an die weltliche Macht wurde er vor die Tore von Konstanz geführt. Einer der Chronisten beschreibt, dass Hus während dieses Ganges unablässig betete: „Herr, erbarme dich mein.“ Als sie auf ein Feld vor der Stadtmauer kamen, brannte dort schon ein Feuer. Hus fiel auf die Knie und betete: „Gott sei mir gnädig nach deiner großen Güte und vergib mir meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.“ Erneut wurde Hus gefragt, ob er durch einen Widerruf sein Leben retten wolle. Er antwortete, dass er sich keines Irrtums bewusst sei; in dieser evangelischen Wahrheit wolle er gern sterben. Dreimal, so heißt es aus den Berichten dieser Zeit, habe Jan Hus noch aus dem Feuer heraus gesungen: „Herr, erbarme dich meiner.“ Dann schlug ihm das Feuer ins Gesicht. Irgendwann erstarb die Stimme. Der böhmische Reformator war tot. Seine Asche wurde genommen und in den Rhein verstreut.
Hus für die Gegenwart
Selten ist jemand so häufig für eigene Zwecke und Ideologien instrumentalisiert worden wie Jan Hus. So bemerkte in den 50er-Jahren der tschechoslowakische Präsident Klement Gottwald im Rahmen der Wiedereröffnung der Bethlehemskapelle in Prag, dass „schon vor einem halben Jahrtausend Prager für den Kommunismus kämpften.“ Auch die nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts beriefen sich zum Teil auf Jan Hus. In Tschechien ist Hus seit seinem Tod (man denke nur an die Hussiten) bis heute ein Volksheld. So wurde aus dem Leben und der Geschichte von Johannes Hus „ein vielfach übermaltes Bild“, wie es der evangelische Journalist Arnd Brummer einmal bemerkte.[2] Dementsprechend sollten wir zurückhaltend dabei sein, die Person Hus zu voreilig in zu starren Mustern zu interpretieren und eine direkte Linie zwischen den Lehren Hussens und z.B. den heutigen Evangelikalen zu konstruieren, die einer geschichtswissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten und dem böhmischen Reformator auch nicht gerecht werden würde. So spielt die vor allem für reformatorische Christen mehr als normative Lehre von der Rettung allein aus Glauben bei Hus keine eindeutige Rolle und bleibt ambivalent.
Dennoch ist es mehr als legitim, nach der Bedeutung für die Gegenwart zu fragen; nicht indem man sich primär an Personen und Ereignissen an sich orientiert, sondern weil wir an einen Gott glauben, der außerhalb der Geschichte steht und Dinge lenkt (vgl. Spr 21,1), und dessen Person und Offenbarung – im Gegensatz zu seinem „Bodenpersonal“ – unveränderlich, fehlerlos und ohne Ambivalenzen ist.
C.S. Lewis verstand Kirchengeschichte als ein langes Gespräch darüber, wie man die Bibel am besten versteht und ihre tiefgründigen Gedanken am besten zur Sprache bringt und würdigt. Wenn wir die späteren Phasen dieses Gesprächs verstehen wollen, müssen wir auch wissen, wie es in früheren Zeiten verlaufen ist: „Jemand, der erst um elf Uhr in eine Gesprächsrunde kommt, die schon um acht begonnen hat, kann die Bedeutung gewisser Äußerungen oft nicht verstehen.“[3] Ein Blick in die Geschichte der Kirche befreit uns von der allzu starken Konzentration auf die Gegenwart; wir ignorieren die vergangene Zeit und denken, sie hätte uns nichts mehr zu sagen. Dabei verhilft uns gerade dieser Blick, uns vom Nebel der Gegenwart zu befreien.
Das gilt besonders für das Verständnis von Hus im Hinblick auf die Bibel, die er, ganz in der Tradition Wyclifs, als einzige Grundlage der Wahrheit und als letzte Autorität ansah. Zwar verwarf er kirchliche Traditionen nicht vollends, sah diese aber als „Diener“ bei der Wahrheitssuche an, wenn sie der Heiligen Schrift nicht widersprachen. Ihre umfängliche Ausformulierung fand dieses Verständnis im Sola Scriptura der Reformation. Als evangelikale Christen dürfen und sollten wir uns bewusst in diese Tradition stellen und neu darum ringen, der Heiligen Schrift ihren gebührenden Platz einzuräumen. Das bedeutet z.B. auch, der Predigt im Gottesdienst einen zentralen Stellenwert zu gewähren, wie es bei Hus der Fall war.
Auch das Kirchenverständnis des böhmischen Reformators sollte Denkanstöße geben: Gemeinde ist ein Leib von Prädestinierten, die ihre Erwählung in ihrem Leben zum Ausdruck bringen. Dabei handelt es sich jedoch immer nur um Indizien; völlige Sicherheit gibt es nicht. Auch wenn die Konsequenz uns falsch erscheint, ist die Prämisse doch zutreffend: Wahre Zugehörigkeit zum Reich Gottes zeigt sich nicht in der formellen Mitgliedschaft und dem äußeren Bekenntnis, sondern im Zuspruch Gottes und einer daraus folgenden intrinsischen Motivation, die sich in konkreten Taten äußert. Das bedeutet nicht, dass die äußere Form der Kirche unwichtig wäre. Sie ist jedoch nicht das Eigentliche, sondern im besten Fall Ausdruck dessen, was an echtem geistlichen Leben beim Einzelnen vorhanden ist. Der Blick in die gesamte Kirchengeschichte zeigt in vielerlei Hinsicht, dass die Kirche als Institution mit ihren offiziellen Vertretern (und dazu gehören auch die Freikirchen!), leider immer wieder nur aus einem Gebilde bestand, das innerlich aber tot war.
„Wenn klar ist, was Gottes Wille ist, dann sollten wir ihn leben – auch wenn das in Konsequenz Leid und Tod bedeutet. Für viele Christen außerhalb des Westens ist das bereits (ungewollte) Realität. Sie stehen in einer Reihe mit Hus und vielen anderen Märtyrern, die für die Sache Christi bis zum Äußersten gingen.“
Etwa im Juni 1414, so beschreibt es der Hus-Biograph Peter Hilsch, war der tschechische Reformer, was seinen drohenden Tod anging, „mit sich im Reinen“. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war er endgültig bereit, für seine Überzeugungen zu sterben. Er blieb standhaft, weil er vollkommen überzeugt war, im Sinne Gottes und für die Sache Christi zu handeln. Auch das ist etwas, was zumindest der westlichen Kirche des 21. Jahrhunderts zu fehlen scheint: Leidensbereitschaft. Oder wie Manfred Siebald es in einem seiner Lieder ausdrückt: „Fehlt dir ein Mensch, der sich nicht schert um Grenzen, die man ihm diktiert, wenn er dich anders reden hört, wenn ihn dein Wort in Freiheit führt.“ Nicht plump, nur die eigene Meinung um jeden Preis durchsetzend, sondern ernsthaft ringend, die Wahrheit der Schrift zu erkennen. Aber wenn klar ist, was Gottes Wille ist (und an vielen Stellen ist Gottes Wille klar!), dann sollten wir ihn leben – auch wenn das in Konsequenz Leid und Tod bedeutet. Für viele Christen außerhalb des Westens ist das bereits (ungewollte) Realität. Sie stehen in einer Reihe mit Hus und vielen anderen Märtyrern, die für die Sache Christi bis zum Äußersten gingen.
1 Pavel Soukup, Jan Hus: Prediger - Reformator – Märtyrer, Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2014, S. 172.
2 Arnd Brummer, Jan Hus: Warum ein frommer Katholik auf dem Scheiterhaufen endete, Berlin: Wichern-Verlag, 2015, S. 12.
3 Zitiert nach Alister McGrath, Lunch mit C.S. Lewis, Gießen: Brunnen-Verlag, 2016, S. 123.
3 Peter Hilsch, Johannes Hus: Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg: Pustet, 1999, S. 279.