Drei Mythen über die theologische Ausbildung

Artikel von Boris Giesbrecht
7. Juli 2023 — 9 Min Lesedauer

Du spielst mit dem Gedanken, Theologie zu studieren und Pastor zu werden? Das ist hervorragend! Wie bei allen einschneidenden Entscheidungen kann es jedoch hilfreich sein, sich zunächst von unrealistischen Erwartungen zu trennen. Beim Thema Partnerwahl scheint dieser Schritt die Auswahl zunächst zu vergrößern, doch letztlich bewahrt er vor Enttäuschungen in einer späteren Beziehung. Das trifft auch auf die theologische Ausbildung[1] zu. Falsche Vorstellungen und Erwartungen können den späteren Dienst erschweren. Es ist daher hilfreich, sich schon früh von ihnen zu lösen. Es gibt viele gute Gründe, ein theologisches Seminar zu besuchen, doch es gibt auch einige falsche Vorstellungen über theologische Seminare.

Mythos #1: Der Besuch eines theologischen Seminars lässt dich deine Berufung finden

Liegt es nicht nahe, dass du ein Theologiestudium beginnst, um herauszufinden, ob du für den Pastorendienst berufen bist? Wenn du so vorgehst, überspringst du möglicherweise einen wichtigen Schritt. Die Entscheidung, Pastor zu werden, ist nicht einfach eine Karriereentscheidung unter einer Liste von Berufsmöglichkeiten. Man spricht davon, dass der Pastorendienst eine Berufung braucht. Manche fragen sich daher: Darf man überhaupt Pastor werden wollen? Ja, es ist nichts Falsches daran, den pastoralen Dienst anzustreben. Paulus spricht in 1. Timotheus 3,1 anerkennend von diesem Wunsch: „Wer nach einem Aufseherdienst trachtet, der begehrt eine vortreffliche Tätigkeit.“ Wenn Gott einen Mann beruft, legt er normalerweise ein starkes Verlangen nach diesem Dienst in sein Herz. Während die Schrift Beispiele für ungewöhnliche Berufungen zum Dienst kennt (z.B. Mose oder Paulus), strebten die meisten anderen Männe wie Timotheus oder Titus nach einem Dienst, der von den Ortsgemeinden anerkannt wurde. Diese Männer sahen keinen brennenden Busch (vgl. 2Mose 3) und kein grelles Licht, das sie erblinden ließ (vgl. Apg 9). Sie hörten auch keine Stimme vom Himmel. Es waren Männer, die Christus dienen wollten und von ihrer Ortsgemeinde bestätigt wurden. Beides gehörte zusammen: der innere „Drang“ zum Pastorendienst und die äußere Bestätigung durch die Gemeinde.

„Beides gehörte zusammen: der innere ‚Drang‘ zum Pastorendienst und die äußere Bestätigung durch die Gemeinde.“
 

Wenn du zum pastoralen Dienst berufen bist, kann die theologische Ausbildung ein Wegabschnitt zur Vorbereitung darauf sein, aber sie ersetzt deine Berufung nicht. Dafür braucht es eine gesunde Ortsgemeinde, die den Charakter, die Gaben und das Verlangen eines zukünftigen Pastors erkennt und bestätigt. Dafür musst du dich natürlich bereits in der Gemeinde eingebracht haben. Idealerweise begibst du dich dann gemeinsam mit der Gemeinde auf die Suche nach einer passenden theologischen Ausbildungsstätte für dich. Zu viele Studenten der Theologie sind an einem theologischen Seminar ohne Zustimmung, geschweige denn Unterstützung durch ihre eigene Gemeinde. Leider erkennen auch viele Gemeindeleitungen ihre Aufgabe auf diesem Gebiet nicht. Das befreit dich allerdings nicht davon, sie in deine Fragen einzubinden.

Mythos #2: Der Besuch eines theologischen Seminars wird dich geistlich wachsen lassen

Für manche erscheint der Besuch einer Bibelschule oder eines theologischen Seminars im übertragenen Sinn wie der Eintritt in ein Gewächshaus. Durch die Kontrolle verschiedener Faktoren (z.B. der Lufttemperatur und Bewässerung) kann das Klima im Gewächshaus bestimmt und optimiert werden, sodass sogar tropische Pflanzen in ansonsten dafür ungeeigneten Regionen angebaut werden können oder ganzjähriger Gemüseanbau betrieben werden kann. Ein theologisches Seminar scheint für manche der ideale Ort für geistliches Wachstum zu sein. Hier herrschen kontrollierte Bedingungen: tiefgründige Lehre, erfahrene Dozenten, gleichgesinnte Studenten, Fokus auf das Wort Gottes ohne Ablenkungen. Perfekte Bedingungen für geistliches Wachstum, oder?

Auch diese Vorstellung ist ein Mythos. Das hat unter anderem damit zu tun, dass theologisches Wissen mit Reife oder Frömmigkeit gleichgesetzt wird. Ja, theologisches Wissen ist ein wichtiger Teil der Ausbildung, aber es schafft nicht automatisch geistliches Wachstum. Manchmal wird dieses Wissen sogar zu einer Gefahr. Das liegt daran, dass du als Theologiestudent nicht automatisch auch ein Jünger von Jesus wirst. Ein Jünger von Jesus ist jemand, der Zeit mit Gott verbringt, um diesen Gott besser kennenzulernen, damit er Gott ähnlicher wird. Mehr über die Bibel und mehr über Gott zu wissen, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass du Gottes Charakter immer ähnlicher wirst. Leider passiert es immer wieder, dass Theologiestudenten eifriger danach streben, die richtige Theologie zu beherrschen, als von Christus beherrscht zu werden. Wir vergessen dann eine wichtige Tatsache:

„Während alle wahren Jünger Theologen sind, sind nicht alle Theologen wahre Jünger … Wenn Bibelkenntnis und theologisches Verständnis zuverlässige Maßstäbe für Jüngerschaft wären, dann wäre Satan der größte Jünger aller Zeiten. Schließlich ist sein Wissen über die Schrift außergewöhnlich und er beobachtet den geistlichen Bereich schon seit geraumer Zeit.“[2]

Wir sollten uns die Worte von Paulus in 1. Korinther 13,2 in Erinnerung rufen:

„Und wenn ich Weissagung hätte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besäße, sodass ich Berge versetzte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts.“

Gott will mehr als nur dein Wissen. Strebe daher nicht nur nach Wissen über Gott, sondern auch nach Heiligkeit. Viel zu oft überfüttern Theologiestudenten ihren Intellekt über Gott, während sie ihre Zuneigung zu Gott hungern lassen.

„Gott will mehr als nur dein Wissen. Strebe daher nicht nur nach Wissen über Gott, sondern auch nach Heiligkeit.“
 

Keine Frage: Theologisches Wissen ist ein wichtiger Bestandteil geistlichen Wachstums, aber geistliches Wachstum reduziert sich nicht darauf. Dieses geistliche Wachstum benötigt eine geistliche Gemeinschaft, die am natürlichsten in einer Ortsgemeinde zu finden ist.

Mythos #3: Durch den Besuch eines theologischen Seminars erhältst du ausreichend pastorale Erfahrung

Als Gegenreaktion auf eine einseitige Ausbildung, die sich auf die Bildung von theologischem Wissen konzentriert hat, sind Seminare, Bibelschulen und Jüngerschaftsschulen entstanden, die die Bedeutung der Praxis für die theologische Ausbildung erkannt und in ihr Programm integriert haben. Es gibt Raum sowohl für den praktischen Dienst (z.B. durch Predigt- oder Seelsorgepraxis) als auch für die zugehörige Reflexion. Das ist begrüßenswert, sollte dich aber nicht dazu verleiten, diese Erfahrungen für ausreichend zu halten.

Um bei dem Bild mit dem Gewächshaus zu bleiben: Die Lernerfahrungen in einem theologischen Seminar sind künstlich geschaffene Lernsituationen. Diese Erfahrungen mögen wertvoll sein, sind aber nicht ausreichend, um in der „Wildnis des echten Lebens unter realen Bedingungen“ zu überleben. Die Beziehungen im Seminar sind nicht so facettenreich wie in einer Gemeinde – es fehlen die generationenübergreifenden Beziehungen und die natürlichen Probleme. Die Seminarzeit kann dich auch nicht auf alle Situationen des zukünftigen Dienstes vorbereiten. Es sind z.B. Fragen wie diese:

  • Wie gehe ich mit dem Alleinsein im Dienst um?
  • Was mache ich mit den wechselnden Emotionen im Dienst, wenn ich am Morgen den Tod eines Gemeindemitglieds betrauern und am Nachmittag freudig die Taufe eines neuen Mitglieds durchführen muss?
  • Wie gehe ich mit herausfordernden Mitmenschen um? Schwierige Menschen am theologischen Seminar musst du nur eine begrenzte Zeit ertragen. Eure Wege trennen sich, sobald das Studium abgeschlossen ist. In der Gemeinde kannst du diese Menschen nicht einfach so loswerden oder ihnen aus dem Weg gehen.
  • Wie gehe ich mit den Belastungen im Dienst um? Am Seminar arbeitest du eine Sache nach der anderen ab. Spätestens am Ende eines Semesters beginnst du wieder bei null – ohne die Altlasten des letzten Semesters. So funktioniert es aber nicht im Alltag eines Pastors. Menschen gehen nicht einfach weg. Hier ist Geduld gefragt. Deine Seminarzeit magst du vielleicht mit Fleiß und Disziplin meistern. Das Studium erscheint machbar. Der erfolgreiche Dienst in Gottes Reich ist jedoch unmöglich ohne den Segen Gottes. Begrenzungen und Abhängigkeit von Gott lernt man im Alltag des pastoralen Dienstes.

Kurz: Das Leben am Seminar bleibt in gewissem Sinne eine theoretische Vorbereitung auf den Dienst. Theologisches Lernen ist sicherlich ein wichtiger Teil der Ausbildung zum Pastor, aber genauso wie die Grundausbildung keine Soldaten macht, bildet das Seminar keine erfahrenen Pastoren aus. Soldaten entwickeln sich auf dem Schlachtfeld zu mutigen, starken und fähigen Kriegern, und Pastoren werden in den Schützengräben der örtlichen Gemeindearbeit ausgebildet. Es wäre jedoch verantwortungslos für einen Soldaten, ohne Ausbildung in den Krieg zu ziehen. Die Ausbildung am Seminar kann dir nämlich dabei helfen, die zukünftigen Erfahrungen gründlich zu reflektieren.

Fazit

Ich sehe diese Einschränkungen der theologischen Seminare nicht deshalb, weil ich eine geringe Sicht von ihnen, sondern weil ich eine hohe Sicht von der Gemeinde habe. Mit dem Aufräumen dieser drei Mythen möchte ich den hohen Stellenwert der Ortsgemeinde für deine theologische Ausbildung betonen. Dabei sollten wir jedoch nicht von der anderen Seite vom Pferd fallen und völlig auf theologische Seminare verzichten. Es geht nicht darum zu behaupten, die Ortsgemeinde hätte das Monopol auf theologische Ausbildung. In Sachen Kindererziehung heißt es so schön: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Gern wenden wir diese Weisheit auf die Einbeziehung der Gemeinde in die Kindererziehung an. Als Vater möchte ich jedoch auch ergänzen: Dennoch liegt die Hauptverantwortung der Erziehung bei den Eltern. Meines Erachtens trifft ein ähnliches Prinzip auch auf die theologische Ausbildung zu. Gemeinde und theologisches Seminar müssen einander nicht prinzipiell ausschließen. Der primäre Ort der theologischen Ausbildung bleibt die Gemeinde, der sekundäre das Seminar.[3] Das Seminar kann die Ausbildung der Gemeinde unterstützen, aber ein Seminar ohne Bezug zur Gemeinde beansprucht mehr, als es bieten kann. Das Seminar soll der Gemeinde dienen und nicht andersherum.

Deshalb möchte ich zum Schluss klarstellen: Ein gutes Seminar kann den Dienst eines Pastors unermesslich bereichern, und das gründliche Studium, das mit einer qualitativ hochwertigen Seminarausbildung verbunden ist, sollte jedem angehenden Pastor ans Herz gelegt werden. Dabei sollte er sich aber auch der Einschränkungen der Ausbildung an einem Seminar bewusst sein und deshalb die Verbindung zu einer Ortsgemeinde priorisieren.


1 Wenn ich von „theologischer Ausbildung“ spreche, dann meine ich damit eine Ausbildung, die über die allgemeine Schulung in der Gemeinde hinausgeht.

2 Greg Dutcher, Calvins Alptraum: Wie man eine richtige Theologie von innen heraus zerstört, Greven: Solid Rock, 2022, S. 24.

3 Vgl. Bernhard Ott, Handbuch Theologische Ausbildung: Grundlagen – Programmentwicklung – Leitungsfragen, Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2013, S. 281.