Brauchen wir eine Wiederbelebung des Neo-Calvinismus?

Artikel von N. Gray Sutanto  und Cory Brock
29. Juni 2023 — 8 Min Lesedauer

Was ist Neo-Calvinismus? Nicht zu verwechseln mit dem Neuen Calvinismus (dem Wiederaufleben der reformatorischen Lehren der Gnade im Evangelikalismus des 21. Jahrhunderts), bezeichnet der Neo-Calvinismus eine theologische und kirchliche Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese hat sich zu einer theologischen Tradition entwickelt und ist auch heute noch lebendig. Ihre Begründer waren Abraham Kuyper und Herman Bavinck. Sie versuchten, die reformierte Lehre für die moderne, sich ständig verändernde Welt, in der sie lebten, wiederzuentdecken und auf sie anzuwenden.

Seit seiner Entstehung hat sich der Neo-Calvinismus weiterentwickelt. Manchmal wird er wegen seiner vielen Strömungen mit einer Theologie des „Transformationalismus“ verwechselt. So wird die Ansicht bezeichnet, dass Christen in erster Linie von Gott dazu berufen sind, jeden Bereich des Lebens unter die Herrschaft Christi zu stellen, wobei die Ortsgemeinde und der Fokus auf die Verkündigung oft vernachlässigt werden. Neo-Calvinismus kann hier auch mit „reformatorischer Philosophie“ gleichgesetzt werden, die von Denkern wie Herman Dooyeweerd und D.H.Th. Vollenhoven hervorgebracht wurde. Andere wiederum assoziieren den Neo-Calvinismus schlichtweg mit einer kulturell engagierten, aber theologisch dünnen Sichtweise auf das christliche Leben.

Diese Strömungen repräsentieren den Neo-Calvinismus jedoch nicht so, wie er seinen Anfang nahm. In unserem Buch und dem Podcast Grace in Common versuchen wir, den Begriff zu definieren, indem wir seine theologischen Wurzeln aufzeigen. Wir sind überzeugt, dass es für das Christentum im 21. Jahrhundert wichtig ist, von der frühen Bewegung des Neo-Calvinismus zu lernen. Im Folgenden heben wir drei seiner nützlichen Merkmale hervor.

1. Der Calvinismus ist eine ganzheitliche Sicht auf die Welt und das Leben

Während der Calvinismus heute meist auf die fünf Punkte des Calvinismus (totale Verderbtheit, bedingungslose Erwählung, bestimmte Sühne, wirksame Berufung, bewahrende Gnade) reduziert wird, wird „reformiert“ als ein breiterer Begriff verwendet. Er bezieht sich auf das Prinzip konfessioneller Zugehörigkeit (z.B. zu den Westminster Standards oder den Drei Formen der Einheit), die Bundestheologie und die kirchlichen Vereinigungen.

In anderen Worten: „Calvinismus“ wird oft als ein engerer Begriff angesehen als „reformiert“. Für Bavinck und Kuyper war es jedoch genau umgekehrt. Während sich die reformierte Orthodoxie auf die theologische und konfessionelle Identität der reformierten Kirchen bezieht, geht es im Calvinismus um eine gesamte Welt- und Lebensanschauung:

„Reformiert drückt lediglich eine religiöse und kirchliche Unterscheidung aus; es ist eine rein theologische Auffassung. Der Begriff Calvinismus ist dagegen weiter gefasst und bezeichnet einen bestimmten Typus im politischen, sozialen und zivilen Bereich. Er steht für die charakteristische Sicht auf das Leben und die Welt als Ganzes, die aus dem mächtigen Verstand des französischen Reformators hervorgegangen ist.“

In seinen berühmten Vorlesungen über den Calvinismus stellte Kuyper ihn daher als ganzheitliches „Lebenssystem“ dar, das mit anderen Lebenssystemen konkurriert, zu denen auch der Modernismus gehört. Die Inspiration durch Calvins öffentlich-theologisches Wirken in Genf bedeutet nicht, dass Kuyper und Bavinck versuchten, Calvins Wirken zu kopieren. Vielmehr leitet der Neo-Calvinismus von Calvin den Gedanken ab, dass reformierte Theologie echte öffentliche Konsequenzen haben sollte. Für Kuyper und Bavinck bedeutete dies zumindest, der modernen Welt zu zeigen, dass das Christentum die beste Grundlage und der historische Ursprung für manche modernen Ideale wie Pluralismus und Gewissensfreiheit ist.

„Die Entwicklung einer christlichen Welt- und Lebensanschauung ist ein bewusstes Streben nach einer objektiven Wahrnehmung der Welt im Licht des dreieinigen Gottes.“
 

Christen heute kennen wohl den Begriff „Weltanschauung“, aber für die Neo-Calvinisten der ersten Generation lässt sich eine Weltanschauung nicht auf eine Reihe von Überzeugungen oder auf die unausgesprochenen Annahmen eines Einzelnen reduzieren. Vielmehr umfasst sie das ganze Selbst, sowohl den Verstand als auch das Herz. Daher sprechen Bavinck und Kuyper von einer Weltanschauung (Verstand) und einer Lebensanschauung (Herz) und nicht von einer rein intellektuellen Interpretation der Welt. Weltanschauungen lassen sich auch nicht auf das Unbekannte reduzieren, welches in anderen Grundüberzeugungen im Unterbewusstsein verborgen ist. Die Entwicklung einer christlichen Welt- und Lebensanschauung ist vielmehr ein bewusstes Streben nach einer objektiven Wahrnehmung der Welt im Licht des dreieinigen Gottes. Wir denken, dass die Entwicklung einer Weltanschauung eher mit der Erstellung einer Landkarte im Laufe der Zeit zu vergleichen ist, als mit dem schnellen Aufsetzen einer Brille. Die Entwicklung einer Welt- und Lebensanschauung ist zudem eine gemeinsame Aufgabe.

Die christliche Weltanschauung ist viel zu umfangreich, als dass sie von dem Ausdruck des christlichen Glaubens einer Nation, eines Volkes oder einer einzelnen Person erfasst werden könnte. Es erfordert die Zusammenarbeit von Christen in jedem Zeitalter und an jedem Ort, in einer Vielzahl von Bereichen. Mit anderen Worten: Die Bildung einer Weltanschauung erfordert das Berücksichtigen der Universalität des christlichen Glaubens.

2. Der Calvinismus fordert uns auf, orthodox und zugleich modern zu sein

Wenn die Reformatoren zeigen wollten, dass die Protestanten katholischer (d.h. stärker in der Bibel und der alten Kirche verwurzelt sind) als ihre römisch-katholischen Kollegen, so argumentierten Bavinck und Kuyper, dass Katholizität nicht nur bedeutet, in der Vergangenheit verwurzelt zu sein, sondern auch offen für die Gegenwart und Zukunft zu sein. Wenn das Christentum wahr ist, dann werden alle Menschen, unabhängig von dem Glauben, den sie bekennen, unweigerlich etwas von der christlichen Weltanschauung widerspiegeln. Das Motto der Neo-Calvinisten ist nicht: „Ohne Plato kein Christus“, sondern: „Ohne Christus kein Plato.“

Das bedeutet darüber hinaus, dass die säkulare Moderne, auch wenn sie sich ausdrücklich gegen den christlichen Glauben wendet, dennoch die allgemeine Gnade Gottes zum Ausdruck bringt und unbewusst christliche Wahrheiten enthält, denen sie nicht entkommen kann. Die Aufgabe eines Christen besteht also nicht darin, um die Rückkehr eines goldenen Zeitalters zu kämpfen (denn so ein Zeitalter gibt es nicht). Vielmehr sollten wir weiterhin die fortwährende Relevanz des Christentums für die Moderne aufzeigen und vom modernen Denken lernen, wo auch immer wir Wahrheiten darin finden können. Bavinck drückte es so aus:

„Die Theologie bedarf keiner spezifischen Philosophie. Sie steht keinem philosophischen System per se feindlich gegenüber und gibt nicht a priori und ohne Kritik der Philosophie Platons oder Kants den Vorzug. Doch bringt sie ihre eigenen Kriterien mit, prüft alle Philosophie an ihnen und übernimmt das, was sie für wahr und nützlich hält.“

Wie schon in einem unserer letzten Bücher dargelegt, ist der Ansatz des Neo-Calvinisten „orthodox und zugleich modern“. Wie genau zeigen wir aber den orthodoxen und zugleich modernen Charakter des Calvinismus?

3. Der Calvinismus behauptet, dass Jesus der Herr ist und Christen es nicht sind

Wir haben bereits erwähnt, dass der Neo-Calvinismus oft mit dem „Transformationalismus“ in Verbindung gebracht wird. Andere denken vielleicht sogar an eine Verknüpfung mit „Theonomie“ oder an das Streben nach der Wiederherstellung einer nationalen Kirche (Kuyper war schließlich Premierminister der Niederlande). Doch Kuyper und Bavinck sprachen sich gegen alle drei dieser Missverständnisse aus.

Dennoch gibt es Gründe für diese Fehldeutungen. Betrachten wir Bavincks Aufruf:

„Hier kommt das Evangelium zur vollen Geltung, zur wahren Katholizität. Es gibt nichts, was nicht evangelisiert werden könnte oder sollte. Nicht nur die Kirche, sondern auch das Zuhause, die Schule, die Gesellschaft und der Staat stehen unter der Herrschaft des christlichen Prinzips.“

Man könnte hier auch auf den am häufigsten zitierten – und meist missverstandenen – Ausspruch Kuypers verweisen: Jesus stellt „jeden Quadratzentimeter“ unter seine Herrschaft.

Sicherlich waren Bavinck und Kuyper der Meinung, dass mit der Erneuerung der Menschen durch das Christentum auch die Kulturen und Institutionen, zu denen diese Menschen gehören, verändert werden. Sie waren überzeugt, dass der Glaube für die Arbeit und das ganze restliche Leben von Bedeutung ist. Die Gnade stellt schließlich die Natur wieder her. Das Christentum gibt Zeugnis von der natürlichen (oder besser: schöpferischen) Art und Weise, menschliche Beziehungen und die Gesellschaft zu gestalten.

Wenn der Einzelne zu Christus zurückgeführt wird, erkennt er, dass Christus der König ist. Die Kirche muss jedoch verstehen, dass die gegenwärtige Ordnung die Zeit der allgemeinen Gnade ist und nicht das endgültige (eschatologische) Reich Gottes. Wenn Christen also fragen: „Welche Zeit ist es?“, so antworten die Neo-Calvinisten, dass jetzt eine Zeit von Gottes Geduld ist – eine Zeit, das Reich Gottes zu bezeugen. Nur die Wiederkunft Christi kann die Familie, den Staat und die Kirche zu einem lebendigen Organismus vereinigen. Für Bavinck und Kuyper erkennt ein christlicher Herrscher daher den Unterschied zwischen der vom Geist gewirkten Kirche, der von der allgemeinen Gnade getragenen Welt und dem Staat als Diener der Gerechtigkeit Gottes.

„Der Neo-Calvinismus hilft uns, der Versuchung zu widerstehen, entweder aus dieser Welt zu fliehen (Separatismus) oder sich dieser Welt anzupassen (Kompromiss).“
 

Eine solche Unterscheidung der Bereiche gibt Freiheit im Zeitalter der Sünde und erlaubt es dem Zeugnis des Reiches Gottes, sich in jedem Lebensbereich zu entfalten. Dieses Verständnis ist das Produkt der christlichen Weltanschauung. Tatsächlich ist eine von Kuypers berühmten Ansprachen eine Argumentation, um zu zeigen, dass „der Calvinismus Quelle und Grundfeste“ unserer Demokratie und Freiheiten ist. Das bedeutet auch, dass der Neo-Calvinismus fähig ist, das Gute des religiösen Pluralismus zu begründen, ohne dem modernistischen Relativismus zu erliegen.

Der Weg nach vorn

Die Kirche fragt sich oft: Wie können wir unserem Bekenntnis treu bleiben und gleichzeitig in dieser Welt wirksam sein? Wie sollen wir eindeutig christliche Gemeinschaften aufbauen und dennoch fruchtbar für Gesellschaft und Gemeinwohl sein? Wie passt die Vielfalt der christlichen Kirche und die Einheit, die uns verbindet, zusammen?

Wir sind überzeugt, dass der Neo-Calvinismus (in der Form, in der er von den führenden Persönlichkeiten der ersten Generation zum Ausdruck gebracht wurde) Christen die Mittel an die Hand gibt, sich inmitten dieser schwierigen und immer wiederkehrenden Fragen zurechtzufinden. Gleichzeitig hilft er uns, der Versuchung zu widerstehen, entweder aus dieser Welt zu fliehen (Separatismus) oder sich dieser Welt anzupassen (Kompromiss).