Das Priestertum aller Gläubigen

Artikel von J.V. Fesko
28. Juni 2023 — 10 Min Lesedauer

Mittelalterliche Ansichten vs. protestantische Auffassung

Nach Auffassung der mittelalterlichen Theologen wurde die göttliche Erlösung durch die Kirche vermittelt. So einfach ausgedrückt klingt das dem Verständnis der meisten Christen sehr ähnlich. Zwischen dem mittelalterlichen und dem protestantischen Verständnis vom Wirken Gottes durch die Gemeinde bestehen jedoch erhebliche Unterschiede. Die mittelalterliche Kirche lehrte, dass Gott ausschließlich durch eine ausgewählte Klasse von Priestern wirkte, indem diese die sieben Sakramente spendeten: Taufe, Eucharistie (Abendmahl), Firmung, Buße, Letzte Ölung, Ehe und Priesterweihe. Für die Protestanten hingegen sind alle Gemeindeglieder Priester, oder mit den Worten des Reformators Martin Luther aus dem 16. Jahrhundert ausgedrückt, es gilt das Priestertum aller Gläubigen. Was sind die Unterschiede zwischen diesen beiden Ansichten? Kurz gesagt: Die mittelalterliche Auffassung beruht auf der kirchlichen Überlieferung, während die protestantische Auffassung aus der Heiligen Schrift erwächst.

„Die mittelalterliche Auffassung beruht auf der kirchlichen Überlieferung, während die protestantische Auffassung aus der Heiligen Schrift erwächst.“
 

Die mittelalterlichen Christen hielten die Kirche für einen Teil einer himmlischen Stufenleiter, in der alles in den Himmeln und auf der Erde seinen festen Platz hat. Diese Leiter beginnt mit Gott, dann folgen Erzengel und Engel, dann findet die himmlische Hierarchie ihre irdische Entsprechung in den Sakramenten, wobei die einen von Gott begabt sind, sie zu verstehen, und die anderen sind diejenigen, die sie empfangen. In dieser Stufenleiter gibt Gott sein Wissen und seine Gnade an die Engel weiter, die ihrerseits diese Inhalte in die Sakramente einbringen, und an die Priester, die die Sakramente verwalten und sie dann an die Laien weitergeben. Das Heil kommt in erster Linie durch die Sakramente und die Priester, die sie verwalten. Die Priester sind eine einzigartige Klasse von Menschen, die von Gott begabt sind, sich mit göttlichen Dingen zu befassen. Sie stehen auf einer höheren Stufe als die gewöhnlichen Menschen, die zu solch erhabenen Wahrheiten nicht fähig sind. Diese Auffassung von Hierarchie herrschte in der Kirche während des Mittelalters bis zur protestantischen Reformation im 16. Jahrhundert. Luther stellte die vorherrschende Vorstellung in Frage, indem er den Anspruch der Kirche zurückwies. Er war der Meinung, dass die Kirche ihre Vorstellung von der einzigartigen Priesterklasse auf die Überlieferung und nicht auf die Autorität der Heiligen Schrift stützte. Luther glaubte stattdessen, dass nicht die Darbringung des Messopfers einen zum Priester macht, sondern dass jeder tatsächlich ein Priester Gottes ist, der an Christus glaubt, unseren großen Hohepriester. In seiner typischen, prägnanten Weise behauptete Luther: „Der Glaube allein ist das wahre Priesteramt.“ Luthers Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen im Gegensatz zum Priestertum einiger weniger beruht auf dem Priesteramt Christi und auf der Segensgabe an die Gläubigen, durch die Vereinigung mit Christus an allem teilzuhaben, was er ist.

Die Lehre der Schrift

Die Heilige Schrift bezeichnet Jesus Christus eindeutig als unseren großen Hohenpriester: „Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns an unserem Bekenntnis festhalten“ (Hebr 4,14). Das Alte Testament deutete das priesterliche Amt Christi durch Typen und Schatten an, wie z.B. bei Aaron, dem ersten Hohenpriester Israels, und den Leviten. Gott wies Aaron beispielsweise an, Israel durch die Rituale des Versöhnungstages von ihren Sünden zu reinigen (vgl. 3Mose 16). Aaron – und zwar nur er allein – musste einen Stier opfern, um sich feierlich zu reinigen (vgl. 3Mose 16,11), und dann etwas von dem Blut nehmen, in das Allerheiligste gehen und es an den Gnadenstuhl sprengen (vgl. 3Mose 16,14). Gott wies ihn an, zwei Sündenböcke zu nehmen, einen zu opfern und sein Blut an den Altar zu sprengen (vgl. 3Mose 16,18) und den zweiten Bock zu nehmen, ihm die Hände aufzulegen, die Sünden Israels auf ihn zu übertragen und ihn dann aus dem Lager in die Wüste zu schicken (vgl. 3Mose 16,21). Bei dieser Handlung sollte der Bock „alle ihre Sünden auf sich nehmen“ und sie wegtragen (3Mose 16,22).

Während sich im Alten Testament nach und nach Gottes Erlösungsplan entfaltete, offenbarten die Propheten schließlich den Messias als das endgültige Opfer. Israel sollte nicht mehr auf das Blut von Stieren und Böcken vertrauen, sondern auf das Blut des Messias, der um unserer Übertretungen willen durchbohrt, um unserer Missetaten willen zerschlagen wurde und unsere Schmerzen trug (vgl. Jes 53,4–5). Nicht mehr der Sündenbock würde die Sünden Israels tragen, sondern Jesus: „Und der Herr hat unser aller Schuld auf ihn gelegt“ (Jes 53,6). Der Messias würde sowohl Opfer als auch Priester sein:

„Als aber der Christus kam als ein Hoherpriester der zukünftigen Heilsgüter, ist er durch das größere und vollkommenere Zelt, das nicht mit Händen gemacht, das heißt nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht mit dem Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen und hat eine ewige Erlösung erlangt.“ (Hebr 9,11–12)

Bei seiner Taufe wurde Jesus vom Vater mit dem Heiligen Geist gesalbt, damit er sein dreifaches Amt als Prophet, Priester und König ausüben konnte (vgl. Lk 3,1–21; Mt 3,1–17; Mk 1,1–11). Auch wir, die wir mit Christus verbunden sind, haben durch die Ausgießung des Geistes auf die Gemeinde durch Christus Anteil an dieser Salbung (vgl. Apg 2,1–41, besonders 33, 38; Gal 3,14). Durch das priesterliche Amt Christi haben alle Gläubigen, die mit ihm verbunden sind, Anteil an seiner Salbung. Zwei Haupttexte der Heiligen Schrift lehren uns diese Wahrheit. Der erste ist 1. Petrus 2,9: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums, damit ihr die Tugenden dessen verkündet, der euch aus der Finsternis berufen hat zu seinem wunderbaren Licht.“ Im Kontext der Stelle stützt Petrus die Identität der Gemeinde als königliche Priesterschaft auf ihre Vereinigung mit Christus. Sie sind zu dem lebendigen Stein geworden, der von den Menschen verworfen wurde, aber vor Gott auserwählt und kostbar ist. Als solche sind sie lebendige Steine, die sich auferbauen lassen „als ein heiliges Priestertum, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus“ (1Petr 2,4–5). Unser Priesteramt findet seine Quelle und seinen Ursprung im Priesteramt Christi.

Der zweite Text ähnelt dem ersten: „Und sie sangen ein neues Lied und sprachen: Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast uns für Gott erkauft mit deinem Blut aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen“ (Offb 5,9). Was ist eine Folge des Erlösungswerks Christi? Was ist eines der Dinge, die er durch sein vergossenes Blut erreicht hat? „[Du] hast uns zu Königen und Priestern gemacht für unseren Gott, und wir werden herrschen auf Erden“ (Offb 5,10). Gläubige, die mit Christus vereint sind, haben Anteil an allem, was er ist und tut, und in diesem Fall haben sie Anteil an seinem priesterlichen Amt. Im Gegensatz zu den alttestamentlichen Priestern, die Opfertiere darbrachten, ruhen die neutestamentlichen Gläubigen in dem vollendeten Werk Christi, dem einzigen wahren Opfer. Nun verkünden wir, wie Petrus schreibt, die Tugenden des Gottes, der uns aus der Finsternis ins Licht gerufen hat, und bringen Gott durch Christus geistliche Opfer dar, die Opfer unseres Leibes als „lebendige Opfer“ (Röm 12,1) und Lobpreis Gottes, das heißt „die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen“ (Hebr 13,15). Die Inhalte dieser biblischen Lehre sind tiefgreifend.

Der größte Segen ist, dass es keine Hierarchie von Wesen (Erzengel, Engel, Erzbischöfe, Bischöfe und Priester) gibt, die zwischen dem Gläubigen und Gott stehen. Vielmehr haben wir durch unseren großen Hohepriester, Jesus Christus, Einheit und Gemeinschaft mit Gott. Als Christus seinen letzten Atemzug am Kreuz tat, zerriss er den Vorhang des Tempels, der das Allerheiligste verhüllte. Das priesterliche Opfer Christi öffnete den neuen und lebendigen Weg durch den Schleier seines Fleisches, so dass alle Gläubigen unmittelbaren Zugang zu Gott im himmlischen Allerheiligsten haben. Wie Christus seine Jünger lehrte: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).

Was das bedeutet

Das Priestertum aller Gläubigen bedeutet, dass nicht nur Gemeindeleiter, sondern auch die Menschen in den Kirchenbänken das Recht und die Autorität haben, die Lehren der Bibel zu lesen, auszulegen und anzuwenden. Es gibt keine Priesterklasse, die das alleinige Recht dazu hat. Wir müssen uns nicht mehr stillschweigend auf die Lehre der kirchlichen Lehrbeauftragten verlassen, sondern können wie die Beröer zur Zeit des Apostels Paulus unmittelbar aus dem Wort Gottes und der Unterweisung durch den Heiligen Geist lernen (vgl. Apg 17,11).

„Die Hirten und Lehrer der Kirche sind Priester wie der übrige Leib Christi, aber der Geist schenkt ihnen besondere Gaben, damit sie die Gemeinde für ihr Wachstum in der Gnade und die Verkündigung des Evangeliums ausrüsten können.“
 

Jeder Mensch, der mit Christus verbunden ist, hat also Anteil an seinem priesterlichen Amt. Aber diese große Segensgabe bedeutet nicht, dass wir die Autorität, die Funktion und das Amt der Gemeindeleiter ablehnen sollten. Wir sind in der Tat ein heiliges Volk und ein Königreich von Priestern. Christus überträgt dieses heilige Amt durch die Ausgießung des Geistes auf alle Christen. Aber zusätzlich zu diesem Segen hat Christus der Gemeinde auch Gaben gegeben: „Und er hat etliche als Apostel gegeben, etliche als Propheten, etliche als Evangelisten, etliche als Hirten und Lehrer, zur Zurüstung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes des Christus“ (Eph 4,11–12). Die Hirten und Lehrer der Kirche sind Priester wie der übrige Leib Christi, aber der Geist schenkt ihnen besondere Gaben, damit sie die Gemeinde für ihr Wachstum in der Gnade und die Verkündigung des Evangeliums ausrüsten können. Diese Hirten und Lehrer gehören nicht zu einer höheren Stufe, wie es im mittelalterlichen Verständnis der Fall war. Vielmehr sind sie ein Teil des Leibes Christi, nicht größer als jeder andere Teil, aber dennoch notwendig. Der Hirte kann nicht zu dem Menschen in den Reihen sagen: „Ich brauche dich nicht, denn der Geist hat mich zum Hirten gemacht.“ Umgekehrt kann jene Person nicht zum Hirten sagen: „Ich brauche dich nicht, denn ich bin selbst Priester in Christus.“ Gott hat den Leib Christi in souveräner Weise so geordnet, dass jeder Teil, obwohl er unterschiedliche Funktionen und Gaben hat, jeden anderen Teil braucht (1Kor 12,4–26).

Freuen Sie sich, dass Sie aufgrund Ihrer Verbindung mit Christus an allem teilhaben, was er ist und tut. In diesem Fall bedeutet sein hohepriesterliches Amt, dass auch Sie ein heiliger und königlicher Priester sind.

Literaturhinweise

  • Andrew Malone: God‘s Mediators: A Biblical Theology of Priesthood
  • Carl Trueman: Luther on the Christian Life: Cross and Freedom
  • A Royal Priesthood in Christ
  • Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen
  • Tim Bertolet: Luther’s Theology: The Priesthood of all Believers
  • Timothy George: The Priesthood of All Believers