Mit Poesie beschenkt
Gedichte in der Bibel
Poesie definiere ich als den Versuch, eine ergreifende Erfahrung in einer Sprache zu beschreiben, die sich in Wortwahl und Struktur von gewöhnlicher Prosa unterscheidet.
Manchmal reimt es sich. Manchmal auch nicht. Mal gibt es einen gleichmäßigen Rhythmus, ein anderes Mal nicht. Aber fast immer hat der Dichter eine Erfahrung gemacht – etwas Schreckliches, Wundervolles oder Gewöhnliches – und er spürt, dass er es mitteilen muss.
Indem der Dichter andere Worte verwendet, die sich von gewöhnlicher Prosa unterscheiden, versucht er, etwas von dieser Erfahrung für den Leser lebendig zu machen.
Gott spricht in Gedichten
Es hat mich schon immer begeistert, dass ein so großer Teil der Bibel Poesie ist. Gott hat sie so inspiriert, obwohl er es nicht auf diese Weise hätte tun müssen. Wie viel von Gottes inspirierten Wort ist Poesie? Leland Ryken sagt dazu:
„Etwa ein Drittel der Bibel ist eine durchaus gerechtfertigte Schätzung. Ganze Bücher der Bibel sind poetisch: Hiob, die Psalmen, Sprüche, das Hohelied. Eine Mehrheit der alttestamentlichen Prophetie finden wir in poetischer Form. Jesus ist einer der berühmtesten Dichter der Welt. Abgesehen von diesen überwiegend poetischen Teilen der Bibel taucht überall in der Bibel eine bildhafte Sprache auf, die dieselbe Analyse erfordert wie die der Poesie.“
Das ist sehr viel Poesie – Sprache, die sich in Wortwahl und Struktur von gewöhnlicher Prosa unterscheidet. Gott kann die Toten mit allen möglichen Mitteln auferwecken. Er hat viele Mittel, um träge Herzen für die Realität seiner Schönheit zu erwecken. Eine Art, wie er dies tut, ist, indem er seine Sprachrohre dazu zu inspiriert, Poesie niederzuschreiben.
Das Unaussprechliche ausdrücken
Paradoxerweise ist Poesie ein Ausdruck der Tatsache, dass es großartige Dinge gibt, die unaussprechlich sind. Es gibt keine direkte Brücke zwischen den Tiefen der menschlichen Erfahrung und den Fähigkeiten der Sprache, diese Erfahrungen zu erfassen. Einige Erfahrungen können unmöglich in Sprache ausgedrückt werden.
„Er hat viele Mittel, um träge Herzen für die Realität seiner Schönheit zu erwecken. Eine Art, wie er dies tut, ist, indem er seine Sprachrohre dazu zu inspiriert, Poesie niederzuschreiben.“
Für einen Dichter führt diese Begrenzung der Sprache nicht zu Schweigen; sie führt zur Poesie. Die Poesie ist eine Art verbaler Widerstand gegen die Undurchdringlichkeit der menschlichen Erfahrung. Der Dichter möchte es wenigstens versuchen.
Sag’s mit einem Gedicht
Können wir uns zum Beispiel auch nur ansatzweise vorstellen, wie es sich für die Eltern in Betlehem anfühlte, ihre Kleinen zu verlieren, als die mörderischen Truppen des Herodes ankamen und alle abschlachteten, die jünger als zwei Jahre waren? Wahrscheinlich nicht.
Doch es gab ein Jahr, in dem ich mir (inspiriert durch den Verlust eines Sohnes in unserer Gemeinde) sagte: Ich möchte es versuchen. Ich möchte es mit einem Gedicht versuchen. Es hat den Titel „The Innkeeper“ (dt. „Der Gastwirt“) bekommen. Darin stelle ich mir einen Vater vor, der in einer schrecklichen Nacht nicht nur seine zwei Söhne, sondern auch seine Frau und einen Arm verloren hat. Er nimmt Josef und Maria auf. Doch er hat nicht die leiseste Ahnung, was es ihn kosten wird, Gottes Sohn aufzunehmen. Kurz bevor er ans Kreuz geht, kommt Jesus zurück, um ihn zu besuchen. Das Gedicht beschreibt diese Begegnung.
Bedächtige Kommunikation ist nicht populär
Wir leben nicht in einer Zeit, in der Poesie im Trend ist. Vielleicht war sie auch nie im Trend. Unter dem Einfluss von Smartphones und Schlagzeilen haben wir keine Geduld für Mitteilungen, die uns zur Entschleunigung zwingen.
Poesie ist per Definition eine Art der Kommunikation, die nicht schon beim ersten Lesen vollständig erfasst werden kann. Angenommen, ein Gedicht hat eine Struktur aus Kadenz, Reim und Form. Es sind zwei oder drei Anläufe nötig, um sich ausreichend damit vertraut zu machen. Doch wenn der Leser dann im Lesefluss ist und nicht mehr von Form und Struktur abgelenkt ist, beginnt er viel mehr zu sehen.
Aus diesem Grund werden Gedichtsbücher selten auf die Bestseller–Liste kommen. Gott hat uns in seiner Gnade alle möglichen Literaturgattungen in der Bibel geschenkt. Er weiß, dass es Menschen gibt, die Geschichten (wie z.B. die Evangelien) bevorzugen, und andere, die Argumentationen (wie z.B. den Römerbrief) vorziehen. Ich verstehe es, wenn du kein Liebhaber von Gedichten bist. Aber sei nicht zu vorschnell mit einem endgültigen Urteil. Zeiten und Menschen ändern sich.
Vielleicht ist es gerade jetzt für dich an der Zeit, das Tempo zu drosseln und deine Meinung zur Poesie noch mal zu überdenken.