Bestraft Gott die Kinder für die Sünden ihrer Eltern?

Artikel von Aaron Garriott
21. Juni 2023 — 8 Min Lesedauer

Hinsichtlich der Frage, ob wir für die Sünden unserer Eltern bestraft werden, scheint die Bibel widersprüchliche Aussagen zu treffen und sich manchmal sogar innerhalb eines einzigen biblischen Buches zu widersprechen. Beispielsweise verbietet uns das zweite Gebot, Gott durch Bilder anzubeten, denn Gott ist „ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied derer, die [ihn] hassen, der aber Gnade erweist an vielen Tausenden, die [ihn] lieben und [s]eine Gebote halten“ (2Mose 20,5–6; 5Mose 5,9–10). Im 4. Buch Mose lesen wir, dass der „HERR … langsam zum Zorn und groß an Gnade [ist] und Schuld und Übertretungen [vergibt], obgleich er keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, bis in das dritte und vierte Glied“ (4Mose 14,18). Trotzdem lesen wir in 5. Mose: „Die Väter sollen nicht für die Kinder getötet werden und die Kinder sollen nicht für die Väter getötet werden, sondern jeder soll für seine Sünde getötet werden“ (5Mose 24,16).

Jahrhunderte später warnte Hesekiel: „Die Seele, welche sündigt, die soll sterben! Der Sohn soll nicht die Missetat des Vaters mittragen, und der Vater soll nicht die Missetat des Sohnes mittragen. Auf dem Gerechten sei seine Gerechtigkeit, und auf dem Gottlosen sei seine Gottlosigkeit!“ (Hes 18,20). Ganz ähnlich prophezeite Jeremia eine Zeit, in der „man nicht mehr sagen [wird]: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden!‘, sondern jedermann wird für seine eigene Missetat sterben; jeder Mensch, der saure Trauben isst, dessen Zähne sollen stumpf werden!“ (Jer 31,29). Was gilt denn nun? Straft Gott die Kinder für die Sünden ihrer Väter? Die Antwort lautet Jein. Betrachten wir zuerst das darin enthaltene Ja.

Adam, die Rolle der Repräsentanten im Bund mit Gott und die Bedeutung der Ursünde

Gott bestraft uns für die Sünden unserer ersten Vorfahren (siehe Röm 5,12–14; 1Kor 15,22). Dies ist auf die repräsentative Rolle Adams zurückzuführen, die er als Hauptstellvertreter im prälapsarischen Bund der Werke spielte. In diesem Bund repräsentiert Adam in einer einzigartigen Weise alle seine Nachkommen. Daher zogen unsere Ur-Eltern durch den Sündenfall die Strafe nicht nur auf sich selbst, sondern ebenfalls auf alle Nachkommen – also auf alle Menschen, die durch natürliche Zeugung in diese Welt geboren werden (vgl. Kleiner Westminster Katechismus, 13­‑17). Das Bekenntnis von Westminster erklärt in Bezug auf unsere ersten Eltern und die Ursünde (Abschnitt 6.3): „Weil sie die Wurzel der ganzen Menschheit sind, wurde ihrer gesamten Nachkommenschaft, die von ihnen durch natürliche Zeugung abstammt, die Schuld dieser Sünde zugerechnet und derselbe Tod in Sünden und die verdorbene Natur auf sie übertragen.“ Daher gibt es nur einen Weg, wie wir von der Sünde und dem Elend, das unsere ersten Eltern über uns gebracht haben, befreit werden können: indem wir durch den Glauben mit einem treuen Haupt verbunden werden – dem Herrn Jesus Christus. Was unsere Abstammung innerhalb des Bundes angeht, handelt Gott also entsprechend den Sünden oder dem Gehorsam unserer Eltern. Die Antwort auf die vorliegende Frage hängt also davon ab, wie wir Eltern in diesem Zusammenhang definieren.

„Es gibt nur einen Weg, wie wir von der Sünde und dem Elend, das unsere ersten Eltern über uns gebracht haben, befreit werden können: indem wir durch den Glauben mit einem treuen Haupt verbunden werden – dem Herrn Jesus Christus.“
 

Nachdem wir nun über Adam gesprochen und seine einzigartige Rolle als Hauptstellvertreter im Bund mit Gott im Bund der Werke erörtert haben, können wir uns mit dem Thema beschäftigen, das näher an uns dran ist; dafür stehen typischerweise die Formulierungen „dein Vater“ und „mein Vater“.

Individuelles Verschulden vs. gemeinschaftliche Konsequenzen

Was den Bund der Werke betrifft, befinden sich Eltern im Unterschied zu Adam nicht in der Position eines repräsentativen Hauptes, dessen Gehorsam oder Ungehorsam über die gesamte Zukunft der Nachkommen bestimmt. Gott wird die Kinder also sicherlich nicht direkt für die Sünden ihrer Eltern bestrafen. Gleichzeitig wirkt sich Sünde jedoch oft noch in zukünftigen Generationen aus, was eine Art indirekte Strafe zur Folge hat. Im Laufe der Zeit nisten sich beispielsweise Sünden wie Götzendienst und falsche Anbetung tief in jeder Gesellschaft und Familie ein. So wird uns als Lesern an mehreren Stellen in der Bibel berichtet, dass Könige auf den Wegen ihrer Väter wandelten – sei es zum Guten oder zum Verderben.

König Ahasja zum Beispiel „tat, was böse war in den Augen des HERRN, und wandelte auf dem Weg seines Vaters und seiner Mutter und auf dem Weg Jerobeams, des Sohnes Nebats, der Israel zur Sünde verführt hatte” (1Kön 22,53). Götzendienst und falsche Anbetung sind, sobald sie als Erbe von vorhergehenden Generationen übernommen werden, nur schwer auszurotten. Hierzu ist eine bewusste, vom Geist getriebene Reform nötig, wie sie von Josia durchgeführt wurde. Er „tat, was recht war in den Augen des HERRN, und wandelte in allen Wegen seines Vaters David, und wich nicht davon ab, weder zur Rechten noch zur Linken“ (2Kön 22,2), und zerstörte die Höhen, auf denen angebetet wurde (vgl. 2Kön 23).

Es gibt allerdings keine Garantie, dass gerechte Väter gerechte Söhne zeugen, und nicht zwangsläufig zeugen boshafte Väter boshafte Söhne. Josias Sohn Joahas „tat, was böse war in den Augen des HERRN“ (2Kön 23,32). Hiskia andererseits hatte in Ahas zwar einen bösen Vater (vgl. 2Kön 16), tat jedoch, „was recht war in den Augen des HERRN, ganz wie es sein Vater David getan hatte“ (2Kön 18,3). Beachtenswert ist, dass David vom Autor des Buches 2. Könige als Hiskias Vater bezeichnet wird, denn Hiskia wandelte auf den gottesfürchtigen Wegen Davids und nicht auf den gottlosen Wegen des Ahas.

„Letztlich zählt, was unsere Abstammung betrifft, nur, ob wir in der Herrschaftslinie Adams oder Christi leben.“
 

An diesen Beispielen aus dem Alten Testament können wir ablesen, dass Götzendienst häufig von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wobei Gott die Israeliten immer wieder als Konsequenz ihres jeweils eigenen Götzendienstes bestraft. Auch wenn Gott die Menschen also nicht direkt für die Sünden bestraft, welche die Väter verübt haben, sondern diejenigen straft, die die Sünden ihrer Väter fortführen, so hallen die Sünden der Väter doch oft nach. Die Konsequenzen davon sind noch Generationen später zu spüren. Außerdem muss ein gerechter Sohn zwar nicht direkt für die Sünde seines gottlosen Vaters leiden, aber er wird eine Tendenz zeigen, dem schlechten Vorbild seines Vaters zu folgen. Indirekt wird er daher häufig unter den Konsequenzen des gottlosen Verhaltens seines Vaters leiden. Wenn zum Beispiel ein Vater der Alkoholsucht verfällt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sein Sohn Missbrauch erlebt und in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Dennoch trägt jeder Mensch die Strafe für seine eigene Bösartigkeit. Wie Matthew Henry schreibt: „Gott straft nicht die Kinder für die Sünden der Eltern, wenn sie nicht den Fußstapfen der Eltern folgen“[1]. Unsere Antwort auf die vorliegende Frage hängt also davon ab, wie wir das Wort „bestrafen“ in diesem Zusammenhang definieren.

Was bedeutet das für uns?

Was bedeutet das nun für uns? Aus unseren Erkenntnissen können wir eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen ziehen, aber wir wollen nur einige davon betrachten. Wichtig ist erstens, dass wir uns beeilen, Buße zu tun, wobei wir besonders aufmerksam sein müssen in Bezug auf die Sünden, in die sich unsere Familienmitglieder in der Vergangenheit leicht verstrickt haben. Unsere Sünden werden, sofern sie nicht abgetötet werden, auch unsere Kinder beeinflussen. Zweitens werden wir daran erinnert, wie wichtig es ist, dass christliche Eltern ihre Kinder in der rechten Weise erziehen und für sie beten. In der Regel segnet Gott durch verwandtschaftliche Linien. Drittens hat Sünde direkte Konsequenzen für die Person, die sie begeht, aber sie kann auch indirekte Folgen sowohl für die Menschen im Umfeld der betreffenden Person als auch für zukünftige Generationen haben. Und schließlich sind wir keine Sklaven der Sünden unserer Eltern. Wir sind entweder Sklaven der Sünde oder der Gerechtigkeit (vgl. Röm 6,12–23). Gott hat uns in seiner Vorhersehung in unsere Familien, Kulturen und Gesellschaften gestellt, mit all den Privilegien, Versuchungen und Nachteilen, die damit jeweils einhergehen (siehe Apg 17,26). Letztlich zählt, was unsere Abstammung betrifft, nur, ob wir in der Herrschaftslinie Adams oder Christi leben (vgl. Röm 5,12–21).


1 Matthew Henry, Jesaja–Maleachi: Der Neue Matthew Henry Kommentar, Bd. 4, Waldems: 3L Verlag, 2018, S. 442.