Die Pilgerreise: Wann wird Christ gerettet?

Artikel von Justin Taylor
8. Juni 2023 — 4 Min Lesedauer

Ich muss zugeben, dass ich diese Frage immer als verwirrenden Aspekt in John Bunyans Die Pilgerreise empfunden habe. Charles Spurgeon schrieb über seine einzige Unstimmigkeit mit Bunyan: „Wenn er zeigen wollte, was gewöhnlich geschieht, hatte er recht; wenn er aber zeigen wollte, was hätte geschehen sollen, hatte er unrecht.“

Ich bin dankbar, dass Jim Orrick, Professor für Literatur und Kultur am Boyce College (Louisville), mir erlaubt hat, seine Antwort auf oben erwähnte Frage zu veröffentlichen.

Wenn ich meinen Studenten, die das Buch gerade gelesen haben, diese Frage stelle, antworten sie meistens sehr unterschiedlich. Nachdem wir mehrere Ideen durchdacht haben, stehen am Ende immer zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Christ wurde entweder (1) gerettet, als er durch die enge Pforte ging, oder er wurde (2) gerettet, als seine Last am Kreuz von seinem Rücken abfiel.

Die meisten Studenten kommen zu dem Schluss, dass Christ am Kreuz gerettet wurde.

Aber das stimmt nicht. Christ wurde gerettet, als er durch die enge Pforte trat.

Die Studenten kommen zu einem falschen Schluss, weil sie drei entscheidende Elemente von Bunyans Allegorie missverstehen: (1) Die enge Pforte, (2) Christs Last und (3) den eigentlichen Gegenstand des rettenden Glaubens.

1. Die enge Pforte

Der erste Irrtum bezieht sich auf die Pforte, die ein kleines oder enges Tor ist. Da sich Jesus in der Bibel selbst als enge Pforte bezeichnet, ist die Pforte in der Pilgerreise ein Bild für Christus. Als Christ in der Pilgerreise den Evangelisten fragt: „Wohin muss ich fliehen?“, weist dieser ihm den Weg zur engen Pforte, also zu Christus, und nicht zum Kreuz. Die enge Pforte steht also für Christus.

2. Christs Last

Ein zweiter Irrtum entsteht dadurch, dass meine Studenten oft nicht verstehen, was die Last auf Christs Rücken bedeutet. Zu Beginn trägt Christ eine riesige Last auf seinem Rücken, welche nicht für die Sünde an sich steht, sondern für die Scham und die Zweifel, die er aufgrund seiner Sünde empfindet. Christs Sünden werden ihm vergeben und er wird gerechtfertigt, als er Christus aufnimmt, indem er durch die enge Pforte tritt. Aber Christ versteht die Grundlage seiner Vergebung noch nicht, sodass sein Gewissen ihn weiterhin beunruhigt und belastet. Wenn man es technisch ausdrückt (was immer zur Klärung beiträgt), handelt es sich bei der Last um psychologische Schuld und nicht um forensische Schuld. Was Christ also am Kreuz verliert, sind die Scham und die Zweifel, die durch die Sünde verursacht worden sind, denn seine Sünden sind ihm bereits beim Durchschreiten der engen Pforte vergeben worden. Außerdem erhält Christ am Kreuz eine Buchrolle, die er später seine Gewissheit nennt. Als er durch die enge Pforte geht, empfängt er Christus. Als Christ auf das Kreuz blickt, versteht er das stellvertretende Sühneopfer und die zugerechnete Gerechtigkeit und das gibt ihm die Gewissheit, dass seine Sünden vergeben sind.

„Als Christ auf das Kreuz blickt, versteht er das stellvertretende Sühneopfer und die zugerechnete Gerechtigkeit und das gibt ihm die Gewissheit, dass seine Sünden vergeben sind.“
 

Dieses Heilsverständnis in der Pilgerreise weist Parallelen zu Bunyans eigener Erfahrung auf, die er in seiner geistlichen Autobiographie Überreiche Gnade beschreibt. Dort berichtet er, dass er nach seiner Bekehrung viele Monate lang von zutiefst beunruhigenden Fragen über seine Erlösung gequält wurde, die jedoch zur Ruhe kamen, als er die ihm zugerechnete Gerechtigkeit verstand.

Christ wird also in dem Moment gerettet, als er durch die enge Pforte tritt – noch bevor er zum Kreuz kommt.

3. Der eigentliche Gegenstand des rettenden Glaubens

Das hilft uns, über den dritten Irrtum nachzudenken, dem meine Studenten manchmal erliegen: Sie sind verwirrt über den eigentlichen Gegenstand des rettenden Glaubens.

„Wollen Sie damit sagen, dass jemand ohne das Kreuz gerettet werden kann?“, fragt mich ein besorgter Student.

„Nein“, antworte ich, „niemand kann ohne das, was Jesus am Kreuz vollbracht hat, gerettet werden. Die Bibel verkündet, dass ein Mensch gerettet wird, wenn er Christus annimmt, aber sie sagt nicht, dass ein Mensch gerettet wird, wenn er glaubt, dass Jesus für ihn gestorben ist. Christus selbst ist der eigentliche Gegenstand des rettenden Glaubens, nicht irgendein Teil seines Werkes.“

Hier kommen die meisten ins Nachdenken, denn heutzutage wird praktisch jedem gesagt, dass er gerettet wird, wenn er glaubt, dass Jesus für ihn gestorben ist, aber noch mal: Dies steht nicht in der Bibel. Ein Mensch wird nicht gerettet, wenn er an die richtige Lehre glaubt (in diesem Fall das stellvertretende Sühneopfer), sondern wenn er an die richtige Person glaubt – an Christus. Der Gegenstand des rettenden Glaubens ist also nicht eine Lehre, sondern eine Person[1].

Christus selbst ist die Schatztruhe des Heils. Nimm ihn an, und du empfängst alles, was in ihm ist. Die Lehre von der stellvertretenden Sühne ist ein unverzichtbarer, wesentlicher Bestandteil des Evangeliums, aber sie ist nicht das ganze Evangelium. Doch wie viele Christen haben diese entscheidende Lehre verstanden, als sie Christus erstmals empfingen? Fast keiner! Wie hätten sie dann gerettet werden können? Indem sie Christus, den auferstandenen Herrn, als Herrn und Erlöser annahmen – auch ungeachtet unterentwickelter oder sogar falscher Vorstellungen über das Wesen des Sühneopfers.


[1]  Selbstverständlich ist Christus nicht von seinem Werk zu trennen. In diesem Fall geht es aber darum, dass man nicht alle Facetten der Sühnetheologie verstanden haben muss, um erlöst zu werden.