Näher als erwartet

Artikel von Tanja Bittner
29. Mai 2023 — 7 Min Lesedauer

Es gibt biblische Geschichten, die uns einen Glaubenshelden vor Augen malen. Diese hier nicht – im Gegenteil. Es menschelt, und zwar ordentlich. Auch das strahlende Happy End fehlt. Vielleicht kommt uns dieser Bericht eben deshalb so nahe, auch wenn die damaligen Gegebenheiten für uns fremd sind.

Zehn Jahre ist es nun schon her, seit die Abrams-Familie in das Land Kanaan kam. Gott hatte einen Nachkommen verheißen, doch passiert war nichts. Für Sarai ist durchaus klar, dass die Sache in Gottes Hand liegt (vgl. 1Mose 16,2). Aber muss nicht langsam mal eine Lösung für das Problem her? Wie wahrscheinlich ist es nach all den kinderlosen Ehejahren (vgl. 11,30) für eine 75-Jährige (vgl. 16,16; 17,17), dass sie ein Kind bekommen wird? Sarai nimmt das Heft in die Hand und unterbreitet Abram einen Plan. Ihre Magd Hagar soll ein Kind von Abram bekommen, das als Sarais Kind gelten wird.

Und Abram? Der Abram, dem sich Gott schon mehrmals offenbart hat? Dem sein Glaube an den Herrn zur Gerechtigkeit gerechnet wurde (vgl. 15,6; Röm 4,18–22)? Abram zeigt sich hier so stumm und passiv wie Adam im Garten Eden: Eva gab ihrem Mann die Frucht, Sarai gab ihrem Mann die Magd (vgl. 3,6; 16,3). Er gehorcht der Stimme seiner Frau (vgl. 3,17; 16,2). Im Hebräischen ist die Formulierung so gewählt, dass der Leser zweimal hinsehen muss, um zu verstehen, was hier vor sich geht: „Und sie [Sarai] gab sie [Hagar] dem Abram, ihrem Mann [ischah], ihm zur Frau [ischah][1]“ (16,3).

Sarais Plan gelingt. Doch genau in dem Moment, als das deutlich wird, entgleist der Plan auch. Hagar begreift, was ihre Schwangerschaft bedeutet: Sie wird Abram das ersehnte Kind schenken. Sie, nicht Sarai, wird die Stammmutter der verheißenen unzählbaren Nachkommen werden (vgl. 15,4–5). Hagar beginnt, verächtlich auf ihre Herrin herabzublicken.

Das allerdings lässt sich Sarai nicht gefallen. Sie holt sich von (dem erneut ziemlich passiven) Abram die Erlaubnis, ihre Magd zu demütigen – sie von ihrem hohen Ross herunterzuholen. Letztlich sitzt Sarai in diesem Machtkampf am längeren Hebel. Schließlich hält Hagar es nicht mehr aus und flieht.

Wir leben in einer anderen Zeit und Kultur, trotzdem merken wir: So fern ist uns das nicht. Mir wie Hagar etwas auf eine Sache einbilden und meinen Vorteil ausspielen? Das kann ich auch. Wie sie vor Schwierigkeiten weglaufen? Wie Abram den Weg des geringsten Widerstands gehen? So handeln, als hätte es Gottes bisherige Treue in meinem Leben nicht gegeben? Wie Sarai Mittel und Wege finden, um meine Pläne durchzusetzen? Auf die eine oder andere Art Rache nehmen? Tatsächlich stehen wir nicht überlegen über den Dreien, wir sitzen im gleichen Boot.

Hagar hat sich auf den Weg durch die Wüste gemacht, offenbar, um zurück in ihre ägyptische Heimat zu gelangen. An einer Quelle macht sie Rast. Dort „findet“ sie der Engel des HERRN und spricht sie an: „Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?“ (Vers 8). Wir kennen diese Art Fragen von Gott – „Adam, wo bist du?“ (vgl. 3,9) oder: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ (vgl. 4,9). Gott fragt nicht, weil er ein Informationsdefizit hätte. Es sind überführende Fragen. Tatsächlich klingt hier direkt an, wo das Problem liegt: Als „Hagar, Sarais Magd“ ist sie auf dem falschen Weg. Hagar reagiert bemerkenswert ehrlich und geradeheraus – kein Herumdrucksen, kein Herausreden, keine Lügen: Ja, sie ist vor ihrer Herrin geflohen.

Daraufhin erhält Hagar eine dreifache Botschaft. Da ist zunächst eine klare Aufforderung: Sie soll zu ihrer Herrin zurückkehren und sich unter ihre Hand demütigen. „Demütigen“ ist dasselbe Wort wie in Vers 6 – Sarai hatte sie auf ihren Platz als Magd verwiesen und eben diesen Platz soll Hagar nach Gottes Willen einnehmen. Es bleibt dabei: Sarai ist die Herrin, Hagar die Magd. Ähnlich ermahnt später Paulus die Sklaven, in ihrer Berufung zu bleiben (obwohl sie eine legale Gelegenheit, freizuwerden, gerne nutzen dürfen; vgl. 1Kor 7,20–24). Das klingt für unsere Ohren befremdlich, aber wir müssen vorsichtig sein, heutige kulturelle Maßstäbe an Gottes Handeln in einer sehr anderen Kultur anzulegen. Gott stellt hier die von ihm vorgesehene Ordnung wieder her: Hagar, die mit Abrams Kind schwanger ist, gehört in Abrams Haushalt und nirgendwohin sonst. Dort kann und darf sie aber nur den Platz der Untergeordneten einnehmen, weil die Segenslinie über Sarai, die wahre Ehefrau, laufen wird (vgl. 1Mose 17,19). Hagars Kind wird nicht der Erbe sein (vgl. 21,10–12). Viele Jahre später kommt Paulus auf die unterschiedliche Position der beiden Frauen zurück, um den Unterschied zwischen dem Leben im Alten und im Neuen Bund zu verdeutlichen (vgl. Gal 4,22–31).

Die zweite Botschaft ist eine Verheißung: Auch von diesem Kind Abrams wird ein großes Volk abstammen (Vers 10). Abram ist Gottes Gesegneter, über den Gottes Segen zu den Menschen fließt (vgl. 1Mose 12,2–3). Gott hat Abram eine unzählbare Schar von Nachkommen verheißen (vgl. 15,5). Auch Hagars Kind bekommt auf seine Weise Anteil daran (vgl. 17,20).

„Auch wir leben in der gleichen, sündenverstrickten Welt wie Hagar, Sarai und Abram. Die Sünde ist um uns und in uns. Doch Gott hat unser Elend angesehen. Er hat seinen Sohn gesandt, um uns zu erlösen.“
 

Die dritte Botschaft ist ein Ausblick auf die Zukunft des Kindes: Hagar wird einen Sohn bekommen, der den schönen Namen „Gott hört“ (Ismael) tragen soll. Gott hat auf den stummen Hilfeschrei ihres Elends gehört. Er kennt ihre Not und er kümmert sich. Ist schon der Sohn an sich ein Hoffnungsträger für Hagar, so wird sein Name sie erst recht täglich daran erinnern. Also ein Happy End? Nein, die Perspektive ist durchwachsen. Das Leben, das unter so sperrigen Umständen begann, wird sperrig bleiben. Dennoch wird Ismael seinen Platz in der Welt behaupten.

Und jetzt – erst jetzt – kommen wir zu dem Vers, der uns dieses Jahr als Losung begleitet. Er ist Hagars persönliche Erkenntnis aus dieser Geschichte. Ihr Blick bleibt nicht an der Botschaft hängen, obwohl das sehr verständlich wäre (was heißt das jetzt für mich?). Ihr Blick richtet sich auf den, der mit ihr redet. Inmitten der immer noch verwirrenden Umstände spricht Hagar diesen Gott direkt an: „Du“ – „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Vers 13). Jawohl, Gott hat sie die ganze Zeit gesehen. Er ist näher als erwartet. Gott hat gesehen, wie sie zum Spielball in Sarais Plan wurde. Gott hat gesehen, wie ihr Herz stolz wurde, wie sie auf ihre Herrin herab-gesehen hat. Gott hat gesehen, dass Sarais Rache unerträglich wurde. Gott hat alles gesehen, Hagars Schuld und auch ihr Elend. Sie ist Opfer und Täter – er weiß es. Verwundert staunend fragt sie: Hat dieser Gott ihr hier wirklich einen Blick hinter ihm her gewährt? Mose wird später erfahren, dass es sich dabei um das größtmögliche Privileg handelt (vgl. 2Mose 33,23).

„[D]er HERR hat auf dein Elend [griech. tapeinosis] gehört“ (16,11), das war die Botschaft für die Magd Hagar. Jahrhunderte später preist eine andere junge Frau namens Maria den HERRN: „denn er hat die Niedrigkeit [tapeinosis] seiner Magd angesehen“ (Lk 1,48). Was war passiert? Ein Engel war ihr erschienen und hatte angekündigt, dass sie „einen Sohn gebären“ wird (Lk 1,31; vgl. 1Mose 16,11). Seit der verhängnisvollen Begebenheit von 1. Mose 3 stand die Verheißung im Raum, dass es eines Tages einen Sohn geben wird, der der Schlange den Kopf zertritt (vgl. 3,15). Gott hatte hier und da einen Sohn angekündigt (vgl. 16,11; 17,19; Ri 13,3), aber keiner davon erwies sich als Retterfigur. Doch diesmal war es anders. Der zweifelnde Josef erhielt vom Engel die Anweisung, den Sohn Jesus zu nennen, „denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden“ (Mt 1,21). Genau das hat Gottes Sohn am Kreuz getan.

Gott steht zu seinen Verheißungen. Er ist der Gott, der sieht und hört und rettet. Auch wir leben in der gleichen, sündenverstrickten Welt wie Hagar, Sarai und Abram. Die Sünde ist um uns und in uns. Doch Gott hat unser Elend angesehen. Er hat seinen Sohn gesandt, um uns zu erlösen. Wer auf ihn vertraut, ist rechtmäßiger Erbe mit Christus (vgl. Röm 8,17). Und solange wir noch hier unterwegs sind, ist unser Herr bei uns alle Tage (vgl. Mt 28,20). Er sieht uns.


1Das zweite ischah heißt „Frau“, das erste ist isch („Mann“), mit einem Suffix in der 3. Pers. fem. Sin. (-ah), was zu „ihr Mann“ (isch-ah) als ein Wort „ischah“ zusammengesetzt wird. Die hebr. Schreibweise ist geringfügig unterschiedlich.