Wenn Kinder andere Wege gehen

Rezension von Klaus Hickel
19. Mai 2023 — 5 Min Lesedauer

Wie weiter, wenn die eigenen Kinder als Jugendliche oder junge Erwachsene die biblischen Wege verlassen, die ihre Eltern ihnen gezeigt und vorgelebt haben? Angesichts der schieren Anzahl an Lebensentwürfen, die sich Kindern in einer pluralistischen Gesellschaft bieten, sehen sich viele christliche Eltern mit solchen Fragen konfrontiert, nicht selten auch von ihnen überfordert.

Eine gute Navigationshilfe, wie man in solchen Lebensphasen heranwachsenden Kindern mit Klarheit und Liebe begegnet, bieten die Autorinnen Regula Lehmann und Nicola Vollkommer in ihrem Buch Wenn Kinder eigene Wege gehen. Neben eigenen Erfahrungen schöpfen Lehmann und Vollkommer in zahlreichen Interviews aus den konkreten Erfahrungsschätzen christlicher Eltern, deren Kinder sich teils für eine Zeit, teils dauerhaft gegen Jesus entschieden haben.

Zur Herangehensweise

Aus der thematischen Annäherung über Interviews folgen einige Konsequenzen, derer der Leser sich bewusst sein sollte. Zum einen ist das Buch nicht als biblische, (sexual-)ethische Abhandlung konzipiert. Indem konservative biblische Werte angenommen werden, entsteht Raum für Lebensberichte und praktische Aspekte. Zum anderen werden durch die Herangehensweise über Interviews auch solche biblischen und theologischen Überzeugungen vermittelt, mit denen nicht zwangsläufig jeder Leser übereinstimmt. Es muss jedoch betont werden, dass es sich nie um Glaubensinhalte ersten Ranges handelt. Ein Beispiel ist vielmehr das wahllose Aufschlagen der Bibel auf der Suche nach Gottes konkreten Antworten für eine bestimmte Situation. Ein anderes bezieht sich auf die Übertragung alttestamentlicher Verheißungen an das Volk Israel auf die gegenwärtige Situation eines abgeirrten und zurückgekehrten Kindes. Hier wird sicherlich nicht jeder Leser zustimmen können. Gleichzeitig ist die gewählte Vorgehensweise, Betroffene für sich selbst sprechen zu lassen, durchaus nachvollziehbar und sollte nicht davon abhalten, von den zahlreichen hilfreichen Ratschlägen in diesem Buch zu profitieren.

In ihren Interviews decken Lehmann und Vollkommer ein inhaltlich breites und durchaus emotional bewegendes Spektrum ab. In Interviews berichten betroffene Eltern etwa von der Tochter mit Hang zu Partys, Drogen und Suizidgefährdung, oder dem Sohn, der Trans-Frau werden möchte. Ein weiteres Kapitel behandelt die Sondersituation, wenn Kinder aufgrund der beruflichen Rolle ihrer Eltern besonders exponiert im Rampenlicht leben – Pastoren aufgepasst! Nicht selten geht dies mit großen Versuchungen der Eltern einher, „Gott zu spielen und dadurch emotional und geistlich übergriffig zu werden“ (S. 61).

Schwierig – und doch ermutigend

Auch wenn sich daraus nicht immer eine einfache Lektüre ergibt – dies gilt in besonderem Rahmen für Eltern, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden – dominiert doch durch das gesamte Buch ein positiver Grundton. Es ermutigt Eltern, die Lösung nicht in „ausweichendem Schweigen, harmoniesuchendem Rückzug oder liberal-progressivem Umschwenken“ (auf zeitgeistliche Überzeugungen, Anm. des Rezensenten) zu suchen (S. 9). Stattdessen bezeugt ein im Erwachsenenalter zurückgekehrtes Kind, wie durchaus hilfreich sich „liebevolle Strenge“ vonseiten der Eltern erwiesen hat. Nicht selten muss aus „angelerntem“ Glauben eine echte Gottesbeziehung werden, auch wenn dabei Jugendliche in einer Phase der Abkehr vom Glauben nicht selten in ein tiefes Loch fallen. Dabei hat sich in solchen Zeiten das überzeugte Festhalten der Eltern an dezidiert biblischen Werten und entsprechendem christlichen Handeln als wegweisend für die spätere Rückkehr der Kinder erwiesen: „Die Werte aufzuweichen ist in einer Zeit wie heute keine Option“, berichtet Niko, der nach einer Zeit der Glaubensabkehr wieder zur Nachfolge Christi zurückkehrte (S. 140).

„Für die Eltern gehört zum Festhalten auch der für das heranwachsende Kind nicht immer wahrnehmbare Schritt, die eigene Hilflosigkeit zu erkennen und Gott zu bekennen.“
 

Für die Eltern gehört zum Festhalten auch der für das heranwachsende Kind nicht immer wahrnehmbare Schritt, die eigene Hilflosigkeit zu erkennen und Gott zu bekennen. Das eigene Loslassen, verbunden mit einem gebetserfüllten Anvertrauen der Kinder an Gott, führt nicht selten zu einem Gefühl der Befreiung bei den Eltern. Dieser befreiende Schritt beginnt mit der Glaubenserkenntnis, dass „Gott größer ist als unsere Umstände“ (S. 168). Dabei werden christliche Eltern von Gemeinden und Kleingruppen profitieren, die mit Rat und Gebet beistehen und dabei der Versuchung von Besserwisserei und Anschuldigungen an die Eltern widerstehen.

Wichtig: Jugendgruppen

Neben „weisen, geduldigen und betenden Eltern“ stellt die herzliche Gemeinschaft unter Christen sowie eine „klare Verkündigung biblischer Wahrheiten“ gewichtige Faktoren bei der Rückkehr zum Glauben dar (S. 153). Früh im Buch stellen die Autorinnen die Frage, wie Gemeinden Raum für die Entwicklung eines mündigen und selbstständigen Glaubens schaffen können. Besondere Bedeutung kommt hierbei einer gesunden Jugendarbeit in Gemeinden zu. Es überrascht also nicht, dass die Autorinnen dem Thema „Christliche Gemeinden und ihre Jugend“ ein eigenes Kapitel widmen. Sie plädieren für feste, insbesondere auch männliche Bezugspersonen in Jugendgruppen: „Die meisten Jugendlichen mögen es nicht im Wischiwaschi-Stil, sondern klar, deftig, geradeaus. Sie wollen herausgefordert werden“ (S. 153).

„Besondere Bedeutung kommt einer gesunden Jugendarbeit in Gemeinden zu.“
 

Im Idealfall werden Jugendgruppen „Andockstellen für wandernde Seelen“ darstellen. Dazu sprechen Lehmann und Vollmer fünf Empfehlungen aus (S. 153–158): Erstens sollte „Kinderarbeit … die Pole-Position in der Gemeindearbeit haben“. Weiterhin müssen gleich gesinnte Gemeinden am Ort bereit sein, Ressourcen miteinander zu teilen, ohne dabei jedoch Kinder und Jugendliche aus anderen Gemeinden abzuziehen. Drittens ist es den Autorinnen ein Anliegen, dass in Gemeinden ein Umfeld herrscht, in dem gesunde und attraktive junge Leute heranwachsen – und sich auch begegnen können. Sie möchten viertens Jugendliche ermutigen, christliche Trendsetter zu werden: „Weltlich sein? Das kann die Welt besser als wir und wir sollten es folglich auch ihr überlassen.“ Fünftens rufen sie jeden Einzelnen in der Gemeinde dazu auf, aus einem Bewusstsein für geistliche Elternschaft heraus Eltern und ihre Kinder in der formidablen Aufgabe zu begleiten, aus Kindern Jünger zu machen. So wichtig ideale Voraussetzungen jedoch sein mögen, können doch auch sie nicht gewährleisten, dass Umkehr tatsächlich erfolgt. Das Buch lädt deshalb in einem letzten Interview dazu ein, „auch dann versöhnt und einander zugewandt zu leben, wenn Umkehr nicht erfolgt oder zumindest immer noch auf sich warten lässt“ (S. 159).

Fazit

Wie anfangs angedeutet, wird durch die zahlreichen Interviews nicht immer eine völlig klare Argumentationslinie ersichtlich. Dies entspricht jedoch auch nicht dem Anliegen der Autorinnen. Vielmehr lassen sich die vielen wertvollen Erfahrungen aus der „echten Elternwelt“ eher mit den einzelnen Teilen eines Mosaiks vergleichen, das den eigenen Erfahrungsschatz hilfreich ergänzt und damit zu einem weisen Umgang mit Kindern beiträgt, die andere Wege gehen.

Buch

Regula Lehmann und Nicola Vollkommer, Wenn Kinder andere Wege gehen, Basel: Fontis Verlag, 2022, 168 Seiten, ca. 16,50 EUR.