Die säkulare Leugnung von Evolution

Artikel von Glen Scrivener
12. Mai 2023 — 4 Min Lesedauer

Wenn es um säkulare Entstehungsgeschichten geht, ist der Kreationismus allgegenwärtig.

Ich rede nicht von der Entstehung des Lebens. Bei dieser Frage bleibt die Evolution die bevorzugte Antwort. Wenn es aber um die Entstehung unserer modernen Welt – der westlichen, freiheitlichen Weltanschauung – geht, wird die Evolution überall geleugnet. Heutzutage nimmt der durchschnittliche westliche Mensch an, dass seine Werte, Ziele und moralischen Intuitionen auf fast schon wundersame Weise aus dem Nichts entstanden seien – aus der Dunkelheit antiker Religionen und altertümlichen Aberglaubens waren sie plötzlich da. Die eigenen Überzeugungen waren auf einmal im Laufe der Geschichte da – in voller Blüte und vollkommen unabhängig von früheren Überzeugungen und Praktiken.

Ein etwas gewissenhafterer Historiker, der die kulturellen Entwicklungen im Laufe der Jahrhunderte aufmerksam verfolgt, wird einen solchen Kreationismus jedoch ablehnen. Er wird vor allem die unbestreitbar christlichen Ursprünge einer säkular-liberalen Weltanschauung erkennen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: die moderne Wissenschaft und die Aufklärung. Beide Bewegungen sind für die westliche Denkwelt von zentraler Bedeutung und beide weisen unverkennbare Anzeichen einer Evolution auf, die auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeht. Dieser gemeinsame Vorfahre ist hier natürlich das Christentum.

Die wissenschaftliche (R)evolution

Die gängige Erzählung lautet ungefähr so: Alles war Dunkelheit, bis Nikolaus Kopernikus (1473–1543) die Sonne in den Mittelpunkt des Universums rückte. In diesem genialen Moment der Erleuchtung entstand die Wissenschaft ex nihilo (aus dem Nichts). Keine primitiven Vorfahren, keine Zwischenformen – nur das Entstehen einer brandneuen Spezies in fast vollständiger Form, die sich „Wissenschaftliche Methode“ nennt.

„Wenn es um die Ursprünge der Wissenschaft geht, ist der Kreationismus weit verbreitet. Dasselbe gilt auch für moderne liberale Werte.“
 

In dieser Erzählung muss der zeitliche Kontext entweder heruntergespielt oder gar geleugnet werden. Der Fakt, dass Christen und christliche Universitäten Pioniere der Wissenschaft waren, weil sie die Natur gemäß ihren christlichen Überzeugungen erforschten, wird als zufällig angesehen. Die Vorgeschichte, in der Philosophen wie Augustinus (354–430), Wilhelm von Ockham (1285–1347) und viele ­weitere die „Naturphilosophie“ von ihren griechischen Vorannahmen loslösten, wird ignoriert. Wo sorgfältige Wissenschaftshistoriker von der Entwicklung einer Disziplin sprechen, spricht der Volksmund von einer kopernikanischen Revolution – einem glanzvollen Moment, der uns aus der Finsternis befreite. Wenn es um die Ursprünge der Wissenschaft geht, ist der Kreationismus weit verbreitet. Dasselbe gilt auch für moderne liberale Werte.

Die (R)evolution der Aufklärung

Nach den Erfolgen der wissenschaftlichen (R)evolution wurden die Denker des 16. und 17. Jahrhunderts immer zuversichtlicher, was ihre rationalen Fähigkeiten anging, die Welt zu erklären. Die daraus entstehende philosophische Bewegung bezeichnete sich selbst als „Zeitalter der Vernunft“ – im Gegensatz zum vorherigen „Zeitalter des Glaubens“. Aus dem „dunklen Zeitalter“ mittelalterlichen Christentums ausbrechend nannten sie sich „die Aufklärung“. Diese Erzählung der Geschichte ist offensichtlich durch und durch kreationistisch. Im Wesentlichen funktioniert das Narrativ dieser Schöpfungsgeschichte ungefähr so: Die Erde war wüst und leer. Finsternis beherrschte das Land, bis ... „Es werde die Aufklärung. Und es ward die Aufklärung.“ Aus dem schwarzen Nichts des „dunklen Zeitalters“ entsprangen – wie auch immer – unsere modernen liberalen Werte: Menschenrechte, Gleichheit, Freiheit, Demokratie, Trennung von Kirche und Staat – all die Bausteine der westlichen Zivilisation. Die moderne Welt wurde sozusagen in sechs Tagen erschaffen. Aber wenn wir nach Wundern Ausschau halten, sind wir ungefähr 16 Jahrhunderte zu spät.

Die eigentliche Revolution

Christen glauben an eine Revolution. Aber für uns begann die Aufklärung im 1. und nicht erst im 16. Jahrhundert. Das wahre Licht, das alle erleuchtet, kam in die Welt (vgl. Joh 1,9). Wenn wir auf die letzten 2.000 Jahre zurückschauen, sehen wir ein sich immer weiter ausbreitendes moralisches Universum, das durch einen göttlichen Urknall ins Sein gerufen wurde – als Jesus die Fesseln des Todes zerstörte. Auf der einen Seite können wir auf das Wachstum von Wohltätigkeitsorganisationen, Krankenhäusern, Waisenhäusern, Bildung, Menschenrechten, die Trennung von Kirche und Staat und schließlich auch, wie wir gesehen haben, auf die Entwicklung der modernen Wissenschaft verweisen. All dies sind Wellen der andauernden Expansion dieses „Universums“.

„Das wahrhaft schöpferische Ereignis der Weltgeschichte wurde nicht durch Kopernikus oder Kant vollbracht, sondern durch Christus.“
 

Viel direkter aber noch können wir auf die Kirche selbst hinweisen, die das größte soziologische Phänomen ist, das die Welt je gesehen hat. Ihre globale Ausbreitung schreitet immer weiter voran – genauso wie Christus es vorhergesagt hat (vgl. Mt 16,18). Wie Hefe, die sich durch den Teig arbeitet, oder wie ein Senfkorn, das zu der größten aller Pflanzen heranwächst (vgl. Mt 13,31–33), ist dies eine Art von Evolution. Eine theistische Evolution im Bereich der Geschichte.

Doch diese Evolution in der Geschichte ist in der ultimativen Revolution der Geschichte gegründet. Das wahrhaft schöpferische Ereignis der Weltgeschichte wurde nicht durch Kopernikus oder Kant vollbracht, sondern durch Christus. Ihre späteren, kleineren Bewegungen – die wissenschaftliche und aufklärerische (R)evolution – werden durch ihn erhellt und in den Schatten gestellt. Wir schreiben das „Jahr unseres Herrn“ 2023 und, wie der Historiker Tom Holland feststellt: „Wir bleiben Kinder der christlichen Revolution: der bahnbrechendsten, einflussreichsten und beständigsten Revolution der Geschichte.“