Ein häufig missbrauchtes Wort

Buchauszug von A. Craig Troxel
8. Mai 2023 — 11 Min Lesedauer

Das häufigste Wort

Das Wort „Herz“ kommt knapp 1.000 Mal vor und wird damit in der Bibel mehr als jedes andere Wort für das innere Selbst verwendet[1]. Das Alte Testament verwendet den hebräischen Ausdruck לֵב (leb) 589-mal und לבֵָב (lebab) 252-mal. Im Neuen Testament taucht das griechische Wort καρδια (kardia) 156-mal auf[2]. Ein Wort, das in der Bibel derart oft vorkommt, verdient eine Wortstudie, die seiner würdig ist. Man denke an das Wort „heilig“, das mehr als jedes andere Wort verwendet wird, um Gott zu beschreiben. Ist das bedeutsam? Selbstverständlich. In gleicher Weise sollte die häufige Verwendung des Wortes „Herz“ in der Bibel ernst genommen werden. Das Herz wird oft in den Mittelpunkt gestellt, weil es eine entscheidende Rolle spielt für das,

  • was wir wertschätzen und sagen (vgl. Mt 6,21; Lk 6,45),
  • für innere Schönheit (vgl. 1Petr 3,4),
  • für die Buße (vgl. 5Mose 30,2.10; 1Sam 7,3; 1Kön 8,48; Jer 24,7),
  • für den Glauben (vgl. Spr 3,5–6),
  • für den Dienst (vgl. 5Mose 10,12; 1Chr 28,9),
  • für den Gehorsam (vgl. Ps 139,34),
  • für die Bundestreue (vgl. 1Kön 2,4),
  • für den Lobpreis (vgl. Ps 86,12; Zef 3,14),
  • für die Liebe (vgl. 5Mose 10,12; Mt 22,37),
  • für den täglichen Wandel (vgl. Jes 38,3),
  • für das Trachten nach dem Herrn (vgl. 5Mose 4,29; 2Chr 15,12; Jer 29,13).

Das sind fast alles Dinge, die wir „von ganzem Herzen“ tun sollen (vgl. Mt 22,37). Sich Gott zu nahen, „ohne mit dem Herzen dabei zu sein, bedeutet, Hingabe zu heucheln“, denn Gott wird nichts von uns annehmen, wenn es nicht von Herzen kommt[3].

Das am häufigsten missbrauchte Wort

Os Guinness vertritt die Ansicht, dass das biblische Verständnis des Herzens und unser modernes Verständnis des Herzens nahezu entgegengesetzt sind. Heute versteht man unter „Herz“ die Emotionen eines Menschen. In der Bibel bezieht sich das Wort auf die ganze Person, die Denkfähigkeit eingeschlossen[4]. Viele moderne Leser haben wahrscheinlich den (falschen) Eindruck, dass ein Gläubiger mehr vom Gefühl als von der Vernunft bestimmt wird[5]. Schon die griechischen Philosophen haben die westliche Kultur mit der Ansicht geprägt, dass zwischen dem Herz und der Vernunft eine große Kluft besteht. Auch der Anti-Intellektualismus der Popkultur hat in evangelikalen Gemeinden Einzug gehalten. Viele Christen verbinden das Herz mit der warmen und emotionalen Seite der Spiritualität im Gegensatz zur vermeintlichen Kälte der Theologie. Manche Christen behaupten, sie sprächen „aus dem Herzen“, um ihre Aufrichtigkeit zu untermauern (nicht zu verwechseln mit Unschuld). Manche sagen Dinge wie „Wie könnte ich verleugnen, was ich fühle? Wie könnte ich mein eigenes Herz verleugnen? Ich muss mir selbst treu bleiben!“ Man denke nur daran, wie uns die Popkultur gelehrt hat, all den pubertären Unsinn mit der unantastbaren Maxime „Folg deinem Herzen“ zu rechtfertigen[6]. Solche Aussagen sind nicht nur sehr weit verbreitet. Sie sind zu moralischen Grundsätzen geworden, die in den kulturellen Granit gemeißelt sind und systematisch dazu benutzt werden, alle Arten von Faulheit, Ungehorsam, Antinomismus, ehebrecherischem Vergehen und Selbstverliebtheit zu entschuldigen, die nach Lust und Laune die Beziehungen und das Leben anderer Menschen zerstören. Es gibt nicht viel, was dem Widerstand leisten kann. Doch die Bibel befürwortet das nicht. Und wir brauchen ihre Klarheit.

Das treffendste Wort

Gott gab uns Wörter wie „Seele“, „Geist“ und „Gewissen“, um aufzuzeigen, wer wir als Gottes Ebenbilder sind. Diese Worte vermitteln im Allgemeinen eine Idee oder einen Aspekt unseres inneren Wesens. Der Begriff „Herz“ unterscheidet sich davon. Er hat in der Bibel eine vielschichtigere Bedeutung. Dies geschieht jedoch, ohne die Identität unseres inneren Selbst zu verschleiern. Die innere Natur des Menschen ist sowohl eindeutig als auch komplex, wie folgender Vergleich unterstreicht: Die englischsprachigen Völker verwenden nur ein Wort, nämlich „Schnee“, um das zu beschreiben, was im Winter vom Himmel fällt – unabhängig von seiner Beschaffenheit (flockig oder verkrustet, dünn oder tief, fein oder nass, weich oder schwer). Im Gegensatz dazu verwenden die Yup'ik im Norden Alaskas und Kanadas mehrere Lexeme, um die verschiedenen Arten und Beschaffenheiten von Schnee zu beschreiben[7]. Das Wort „Herz“ in der Bibel tut beides. Es spiegelt unseren einzigartigen Kern wider, und doch hat es eine Vielzahl nuancierter Bedeutungen. Die Bibel verwendet den Begriff „Herz“, um unsere einheitliche und vielseitige innere Natur zu beschreiben[8].

Einheit

Wann immer wir das Wort „Herz“ in der Bibel lesen, sollten wir es zunächst als einen umfangreichen Begriff verstehen, der die Gesamtheit und Einheit unserer inneren Natur erfasst. Für John Owen bezeichnete das Herz alle Bereiche des geistlichen Lebens des Menschen und das einzige Zentrum unserer moralischen Handlungen[9]. Hier ist die Quelle „der Motive, der Sitz der Leidenschaften, das Zentrum der Denkprozesse, die Grundlage des Gewissens“[10]. Es ist wie eine „versteckte Schaltzentrale“ in jeder Person[11]. Alles, was wir denken, wünschen, entscheiden und ausleben, wird in dieser „Steuerstelle“ entwickelt und von diesem Ort aus bestimmt[12]. Abraham Kuyper sagte, das Herz sei „der Ort in unserem Bewusstsein, an dem unser Leben noch ungeteilt ist und in seiner Einheit erfasst liegt, ... die gemeinsame Quelle, aus der die verschiedenen Ströme unseres menschlichen Lebens entspringen“[13].

„Das, was das physische Herz im Körper für die Gesundheit bedeutet, bedeutet das geistige Herz in der Seele für die Heiligkeit.“
 

Vom Herzen „geht das Leben aus“ (Spr 4,23). Das, was das physische Herz im Körper für die Gesundheit bedeutet, bedeutet das geistige Herz in der Seele für die Heiligkeit. Wie das Herz ist, so ist der Mensch. Es ist das Ruder des Schiffes[14].

Komplexität

Die Schrift stellt das Herz nicht nur als eine Einheit dar, sondern auch als eine Dreieinigkeit geistlicher Funktionen: der Verstand, das Verlangen und der Wille[15]. Anders ausgedrückt umfasst das Herz alles, was wir wissen (unser Wissen, Gedanken, Absichten, Ideen, Überlegungen, Erinnerungen, Vorstellungen), alles, was wir lieben (was wir wollen, suchen, fühlen, wonach wir uns sehnen), und was wir wählen (ob wir widerstehen oder nachgeben, ob wir schwach oder stark sind, ob wir Ja oder Nein sagen)[16]. Kein anderes Wort „vereint das komplexe Zusammenspiel von Verstand, Empfindung und Wille“[17]. Dieses dreiteilige Konzept des Herzens (Verstand, Verlangen, Wille), das die Grundlage für dieses Buch bildet, ist keineswegs revolutionär. Es ist das wichtigste Element der puritanischen Theologie. Die Puritaner verstanden vielleicht besser als die meisten, wie wichtig es ist, auf das Herz zu achten[18]. Ihre geistigen Nachfahren und Verfechter haben das gleiche Konzept übernommen[19]. Dieses Paradigma hat sich im Laufe der Zeit bewährt und wird auch von einem Großteil der zeitgenössischen Bibellehre vertreten[20]. Für die Zwecke dieses Buches werden wir also mit der folgenden Definition arbeiten: Das Herz ist das regierende Zentrum des Menschen. Wenn es einfach verwendet wird, spiegelt es die Einheit unseres inneren Wesens wider, und wenn es umfassend verwendet wird, beschreibt es die Komplexität unseres inneren Wesens, das aus Verstand (was wir wissen), Wünschen (was wir lieben) und Willen (was wir wählen) besteht. Wenn es stimmt, dass das „Herz“ in der Bibel einfach genug ist, um unsere innere Einheit widerzuspiegeln, und umfassend genug, um unsere dreifache Komplexität zu erfassen, dann sollte sich dies auch in der Sünde des Herzens und seiner Erlösung widerspiegeln. Wir sollten erwarten, dass die Bibel den gleichen Reichtum und die gleiche Differenziertheit widerspiegelt, wenn es um die Auswirkungen der Sünde auf das Herz und das Erlösungswerk Christi im Herzen geht. Dies ist der Fall. Die Heilige Schrift spricht von der Sünde in ihrer Einheit und Kontinuität. Die Sünde enthält Schichten von wissentlichem Tun des Falschen, der Pervertierung des Reinen und der Rebellion gegen das Gute, und die Schrift verwendet eine Reihe von Begriffen, um diese zu benennen[21]. Das Gleiche sehen wir im Werk Christi. Seine drei Ämter des Propheten, des Priesters und des Königs bilden ein einheitliches Amt. Als dreifaltiges Amt ergänzt es die komplexen Vorgänge in unserem Herzen, ohne jedoch seine einheitliche Integrität zu beeinträchtigen. Das erinnert uns einmal mehr daran, dass es nichts in unserem Herzen gibt, was der Herr unseres Herzens nicht in Ordnung bringen könnte[22].

Weiterlesen

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch With All Your Heart: Orienting Your Mind, Desires, and Will toward Christ von A. Craig Troxel.


[1] Bruce Waltke, An Old Testament Theology: An Exegetical, Canonical, and Thematic Approach, with Charles Yu, Grand Rapids: Zondervan, 2007, S. 225.

[2] Hans Walter Wolff, Anthropology of the Old Testament, übers. von Margaret Kohl, Philadelphia: Fortress, 1975, S. 40; Alex Luc, „לב†“, in: Willem A. VanGemeren (Hrsg.), New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids: Zondervan, 1997, S. 749; Theo Sorg, „Heart“, in: Colin Brown (Hrsg.), The New International Dictionary of New Testament Theology, Grand Rapids: Zondervan, 1986, 2:182; Abraham Even-Shoshan (Hrsg.), A New Concordance of the Bible, Jerusalem: Kiryat Sefer, 1989, S. 582–588.

[3] Thomas Watson, Heaven Taken by Storm, in: Joel Beeke (Hrsg.) (1810; nachgedruckt, Ligonier, PA: Soli Deo Gloria, 1992), S. 108; John Owen, Spiritual-Mindedness, überarbeitet von R.J.K. Law, Edinburgh: Banner of Truth, 2009, S. 133.

[4] Os Guinness, Doubt: Faith in Two Minds, Herts: Lion, 1976, S. 124.

[5] Wolff, Anthropology, S. 40 und 47.

[6] A.O. Scott, „Once a Prom Queen, Still a Spoiled Princess“, in: New York Times, 08.12.2011, online unter: http://movies.nytimes.com/2011/12/09/movies/charlize-theron-in-young-adult-review.html?src=dayp (Stand 28.03.2023).

[7] Steven A. Jacobsen (Hrsg.), Yup’ik Eskimo Dictionary, 2. Ausg., Fairbanks: University of Alaska, 2012.

[8] Andrew Bowling, „Heart“, in Theological Wordbook of the Old Testament, R. Laird Harris (Hrsg.), Chicago: Moody Press, 1980, 1:466.

[9] John Owen, The Nature, Power, Deceit, and Prevalency of the Remainders of Indwelling Sin in Believers, in Temptation and Sin, Bd. 6 von The Works of John Owen, William H. Goold (Hrsg.), Edinburgh: Banner of Truth, 1967, S. 170.

[10] O.R. Brandon, „Heart“, in: Walter E. Elwell (Hrsg.), Evangelical Dictionary of Theology, Grand Rapids: Baker, 1984, S. 499.

[11] John W. Cooper, Body, Soul, and Life Everlasting, Grand Rapids: Eerdmans, 1989, S. 42. Vgl. Peter Hubbard, Love into Light: The Gospel, the Homosexual and the Church, Greenville: Ambassador International, 2013, S. 32; C.S. Lewis, The Screwtape Letters (1942; nachgedruckt in New York: HarperCollins, 2001), S. 28.

[12] John Flavel, Keeping the Heart: How to Maintain Your Love for God, Fearn: Christian Focus, 2012, S. 8. Vgl. Murray Capill, The Heart Is the Target: Preaching Practical Application from Every Text, Phillipsburg: P&R, 2014, S. 97; Herman Ridderbos, Paul: An Outline of His Theology, übers. von John Richard De Witt, Grand Rapids: Eerdmans, 1975, S. 120.

[13] Abraham Kuyper, Calvinism, Grand Rapids: Eerdmans, 1943, S. 20.

[14] Owen, Spiritual-Mindedness, S. 134.

[15] Sorg, „Heart“, 2:181; Waltke, Old Testament Theology, S. 225; Owen, Temptation and Sin, S. 169–176; Jerry Bridges, The Pursuit of Holiness, Jubiläumsausgabe, Colorado Springs: NavPress, 2003. Platon und Sigmund Freud beschrieben ein komplexes dreifaltiges inneres Selbst, aber mit Modellen, die weitgehend hierarchische Trinitäten von Spannung und Konflikt sind, ohne ein vereinigendes Zentrum. Patrick Downey, Desperately Wicked: Philosophy, Christianity and the Human Heart, Downers Grove: InterVarsity Press, 2009, S. 14.

[16] Vgl. 1Mose 6,5; Ps 19,14; 49,3; 77,6; 139,23; Spr 15,14.18; Mt 5,19; Lk 2,19; 6,45; Röm 10,9; Eph 1,18; 4,18; Hebr 4,12; 8,10.

[17] Waltke, Old Testament Theology, S. 225.

[18] Z.B. Jonathan Edwards, The Religious Affections, 1746; nachgedruckt in Edinburgh: Banner of Truth, 1986, S. 24–25; Sinclair B. Ferguson, John Owen on the Christian Life, Edinburgh: Banner of Truth, 1987, S. 134–36; Richard Sibbes, Bruised Reed, Edinburgh: Banner of Truth, 2005, S. 89; Westminster Larger Catechism, S. 99; Stephen Charnock, „Sermon XIX“, in Puritan Sermons, 1659–1689, 1674, nachgedruckt in Wheaton: Richard Owen Roberts, 1981, 2:387–88.

[19] Waltke, Z.B., A.A. Hodge, The Westminster Confession: A Commentary, Edinburgh: Banner of Truth, 2002, S. 174; Charles Spurgeon, The Treasury of David, Peabody: Hendrickson, o.A., 1:295; Louis Berkhof, Systematic Theology, Grand Rapids: Eerdmans, 1984, S. 233; C.R. Vaughan (Hrsg.), Discussions of Robert L. Dabney, Bd. 3, Philosophical (1892; nachgedruckt, Harrisonburg: Sprinkle, 1996), S. 281; Bridges, Pursuit of Holiness; Elyse Fitzpatrick, Idols of the Heart: Learning to Long for God Alone, Phillipsburg: P&R, 2001, S. 93–98; Kris Lundgaard, The Enemy Within: Straight Talk about the Power and Defeat of Sin, Phillipsburg: P&R, 1998, S. 38.

[20] Brandon Waltke, „Heart“ S. 499; Sorg, „Heart“, 2:181; B.O. Banwell, „Heart“, in: J. D. Douglas (Hrsg.), New Bible Dictionary, 2. Ausg., Wheaton: Tyndale, 1982, S. 465; Bowling, „Heart“, 1:466; Daniel I. Block, Deuteronomy, NIV Application Commentary, Grand Rapids: Zondervan, 2012, S. 183. Vgl. die Anmerkung zu Prediger 1,13 in der ESV (Wheaton, IL: Crossway, 2007).

[21] Bruce Milne Waltke, Know the Truth: A Handbook of Christian Belief, rev. ed., Downers Grove: InterVarsity Press, 1998, S. 14, 130; Cornelius Plantinga Jr., Not the Way It’s Supposed to Be: A Breviary of Sin, Grand Rapids: Eerdmans, 1995, S. 13–14.

[22] J.C. Ryle, Old Paths, Edinburgh: Banner of Truth, 1999, S. 355.