Welche Gemeindeleiter wir uns wünschen

Vier Facetten christlicher Leiterschaft

Artikel von David Mathis
19. April 2023 — 9 Min Lesedauer

Jesus sagte, er wird seine Gemeinde bauen (vgl. Mt 16,18). Wir erwarten vielleicht große Kirchengebäude, Prunk, Fanfaren und Feuerwerke. Womöglich halten wir nach starken Winden, Erdbeben und Feuer Ausschau, aber ähnlich wie Elia werden wir Christus im sanften Säuseln finden (vgl. 1Kön 19,11–13). Jesus verfolgte einen vergleichsweise stillen Weg, indem er seiner Gemeinde nach der Himmelfahrt und dem Tod seiner Apostel irdische Leiter gab, um zu zeigen, dass die überragende Kraft in ihm und nicht in uns liegt.

Das ist sein Plan: lokale Teams, die aus nüchtern gesinnten Leitern bestehen. So kann die neutestamentliche Vision für Gemeindeleiterschaft zusammengefasst werden – und das ist recht unspektakulär. Der funkelnde Traum einer einzelnen, weltweit bekannten Persönlichkeit bleibt aus. Wir hatten vielleicht beeindruckende Berühmtheiten erwartet, angesehene Intellektuelle und schneidige Führungskräfte. Christus verfolgt jedoch eine schlichte – manche würden sagen peinliche – Strategie. Derselbe Christus, der nicht viele Weise, Mächtige oder Vornehme, sondern die Törichten, Schwachen und Verachteten der Welt in die Gemeinde berufen hat (vgl. 1Kor 1,26–28), sah auch für die Leiter der Gemeinde vor, was nur wenige von uns natürlicherweise erwartet hätten.

Betrachten wir vier überraschende und unserer Kultur entgegengesetzte Aspekte von Christi Ansatz für seine Unterhirten.

Lokalität: Mittendrin, nicht weit entfernt

Zunächst einmal braucht die Gemeinde Christi kein neues globales Oberhaupt. Das hat sie bereits. Wäre es nicht tragisch, wenn wir den Bräutigam tatsächlich mit irgendeinem „Papst“ ersetzen würden? Das wäre völliger Irrsinn! Christus selbst ist das Haupt der Gemeinde. Um seine Leiterschaft in den Ortsgemeinden zu verkörpern, gab er ihnen „etliche als Hirten und Lehrer“ (Eph 4,11).

„Die Ältesten sind mitten unter der Gemeinde, und die Gemeinde ist mitten unter den Ältesten. Die Ältesten sind in erster Linie selbst Schafe und selbst Teil der Herde.“
 

Sowohl Paulus als auch Petrus betonen den Aspekt des Beisammenseins an einem konkreten Ort. Paulus tut dies in Ephesus („Ihr wißt, wie ich mich vom ersten Tag an, als ich Asia betrat, die ganze Zeit unter euch verhalten habe“, Apg 20,18, Hervorh.d.Verf.) und Petrus schreibt an die Ältesten unter seinen Lesern vor Ort: „Die Ältesten, die unter euch sind, ermahne ich …: Hütet die Herde Gottes bei euch“ (1Petr 5,1–2, Hervorh.d.Verf.). Die Ältesten sind mitten unter der Gemeinde, und die Gemeinde ist mitten unter den Ältesten. Die Ältesten sind in erster Linie selbst Schafe und selbst Teil der Herde. Danach erst, durch die Einsetzung des Heiligen Geistes und durch die Bestätigung der Gemeinde, sind die Ältesten „Unterhirten“ unter dem „obersten Hirten“ (vgl. 1Petr 5,4).

Die Ältesten sind nicht weit weg, sondern nah – sogar so nah, dass sie mitten unter den Menschen sind und die Menschen mitten unter ihnen. Solche Ältesten folgen dem Ruf gern, ihre Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit ganz auf eine einzelne Ortsgemeinde zu lenken. Sie sind nicht durch Nachrichten von Geschehnissen von weit, weit weg abgelenkt. Die Ältesten verwechseln die Welt nicht mit ihrer Gemeinde, sondern übernehmen Verantwortung für die Gläubigen, die Gott ihnen anvertraut hat.

Pluralität: Teamarbeit, nicht Einzelgänger

Zweitens sieht der Plan Christi vor, dass seine einzigartige Stellung als Haupt der Gemeinde durch eine Vielzahl von Ältesten in jeder Ortsgemeinde begleitet wird. Mit anderen Worten: Er ruft seine Unterhirten zur Teamarbeit auf. So wie auch seine Apostel gleich zu Beginn mehrere waren, so soll es auch bei den Ältesten sein. Sogar in kleinen Ortsgemeinden, wo Teamarbeit unrealistisch scheint, gilt das ambitionierte Ideal des Neuen Testaments zur Pluralität. Zweifach adressiert Petrus in 1. Petrus 5,1–5 die Ältesten in der Mehrzahl. Auch in der Apostelgeschichte lesen wir von den Ältesten im Plural (vgl. Apg 14,23; 20,17). Gleiches finden wir in den Hirtenbriefen (vgl. 1Tim 4,14; 5,17; Tit 1,5) und in Jakobus 5,14. Jedes einzelne Beispiel, das wir im Neuen Testament diesbezüglich finden, impliziert Teamarbeit.

Jesus gebührt die Ehre als Haupt und Herr der Gemeinde. Unter ihm dienten mehrere Apostel nach der Himmelfahrt als sein Sprachrohr. Diese bestehen in den erhaltenen Schriften, dem Neuen Testament, fort. Und unter dieser Schrift dienen Älteste (im Plural) als offizielle Lehrer dieses Wortes in den Ortsgemeinden. Doch bevor wir uns mit diesen Ältesten in ihrer Rolle als Lehrer befassen, sollten wir die Aspekte der Leitung in ihrer Arbeit und die damit verbundenen benötigten Tugenden wertschätzen.

Scharfsinn: Besonnen, nicht unausgeglichen

Von den 15 genannten Qualifikationsmerkmalen für Älteste in 1 Timotheus 3,1–7 werden Nüchternheit und Besonnenheit wahrscheinlich am meisten vernachlässigt. Die zentrale Aufgabe eines Ältesten ist neben der Lehre und Predigt auch das Hüten der Herde Gottes (vgl. 1Petr 5,2). Die Ältesten sind es, die „an euch arbeiten“ und „euch im Herrn vorstehen“ (1Thess 5,12, Hervorh.d.Verf.). Ein Ältester ist „einer, der seinem eigenen Haus gut vorsteht“, da die Gruppe von Ältesten damit beauftragt wurde, Gottes Haus, der Gemeinde, vorzustehen (1Tim 3,4–5.15). Älteste sind nicht nur als Prediger und Lehrer ehrenwert (und sogar der „doppelten Ehre“ bzw. Entlohnung würdig, wenn der Gemeindedienst ihr Broterwerb ist), sondern auch als Leiter, die der Gemeinde „gut vorstehen“ (1Tim 5,17). Älteste lehren und stehen vor, d.h. sie leiten. Das erfordert eine Art geistlichen Scharfsinn, die das Neue Testament „Nüchternheit“ oder „Besonnenheit“ nennt.

„Sie erkennen, welche Anliegen und Akzente die Erbauung im Glauben – und damit das Herzstück ihres Dienstes – kompromittieren würden und halten an den Dingen fest, die von größter Wichtigkeit und bleibender Dauer sind.“
 

Männer, die nüchtern sind, sind besonnen und ausgeglichen. Sie sind empfänglich, aber nicht reaktiv. Sie neigen nicht zu Extremen und sind nicht anfällig für Mythen, Spekulationen und Verschwörungstheorien. Sie lassen sich auch nicht in sinnlose Kontroversen hineinziehen. Sie erkennen, welche Anliegen und Akzente die Erbauung im Glauben – und damit das Herzstück ihres Dienstes – kompromittieren würden (vgl. 1Tim 1,4) und halten an den Dingen fest, die von größter Wichtigkeit und bleibender Dauer sind. Außerdem behalten sie das Evangelium „zuallererst“ im Mittelpunkt (1Kor 15,3), und bleiben „nüchtern in allen Dingen“ (2Tim 4,5) – eine Fähigkeit, die immer weniger junge Erwachsene haben.

Eine solche Nüchternheit wird zweifellos auch für das Lehren benötigt – um zu entscheiden, was, wann und wie gelehrt wird. Für die Berufung zum Leiten und die unermüdliche Wachsamkeit, die dies erfordert, ist sie jedoch von essentieller Bedeutung: „Seid nüchtern und wacht!“ (1Petr 5,8; vgl. 1Thess 5,6). „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat“ (Apg 20,28, Hervorh.d.Verf.). Die Ältesten „wachen über eure Seelen als solche, die einmal Rechenschaft ablegen“ (Hebr 13,17, Hervorh.d.Verf.). Dafür müssen sie nüchtern sein (vgl. 1Tim 3,2), und zwar „nüchtern in allen Dingen“ (2Tim 4,5).

Didaktik: Lehrer, nicht Streithähne

Das griechische Adjektiv didaktikos wird in einigen deutschen Bibeln mit „lehrfähig“ wiedergegeben. Damit ist aber nicht nur „fähig zu“ im Sinne einer Kompetenz gemeint, sondern auch „begierig nach“ im Sinne einer Vorliebe. So ist die Person, die „fähig zu lehren“ ist, nicht nur „fähig, wenn nötig“ sondern „begierig, wenn möglich“. Sie ist dem Lehren zugeneigt – von Herzen ein Lehrer. Da die deutsche Sprache kein Wort hat, das dies zum Ausdruck bringt, könnten wir den Begriff der „Lehrfreudigkeit“ erschaffen. Wenn das Wort „experimentierfreudig“ bedeutet, dass jemand gern Neues ausprobiert, dann meint „lehrfreudig“, dass jemand gern lehrt.

Älteste müssen Lehrer sein, denn das Christentum ist eine lehrende Bewegung. Jesus war der vollkommene Lehrer. Er berief seine Jünger und machte sie selbst zu Lehrern, die andere lehrten (vgl. Mt 28,19; 2Tim 2,2). Nach seiner Himmelfahrt sprachen die Apostel im Namen Jesu und leiteten die erste Gemeinde, indem sie lehrten. Als ihre Stimmen verstummten, wurden ihre Schriften gemeinsam mit dem Alten Testament zur bleibenden Richtschnur für die Unterweisung der Gemeinde. So beruft Christus ganz dem Wesen des christlichen Glaubens entsprechend Männer, die lehrfreudig sind (vgl. 1Tim 3,2; 2Tim 2,24). Er beauftragt Männer, die nicht nur in der gesunden Lehre geschult wurden und damit ausgerüstet sind (vgl. 1Tim 4,6), sondern auch effektiv lehren können (sodass die Widersprechenden überführt werden, vgl. Tit 1,9) und dies auch eifrig und gern tun.

Der auferstandene Christus baut seine Gemeinde nach seinen Vorstellungen, nicht nach denen der Welt. Er beauftragt Lehrer mit der Leitung der Gemeinde, was sowohl überraschend ist (weil Lehrer idealistisch und ineffizient sein können) als auch angemessen (weil das Christentum eine lehrende Bewegung ist). Dass Christus Lehrer zu Ältesten macht, zeigt, dass er weitaus mehr an der Effektivität einer Gemeinde interessiert ist als an ihrer Effizienz.

Bekleidet mit Demut

Wenn wir mit einer Eigenschaft enden möchten, die das Ganze zusammenfasst, so wäre das wohl Demut. Christi gegenkultureller, kontraintuitiver Plan für Lokalität, Pluralität, Scharfsinn und Didaktik bei der Leitung seiner Gemeinden verlangt nach Demut:

  • Die Demut, den weltweiten Ruhm Christi (nicht meinen eigenen) durch einen treuen Fokus auf meinen Ort zu suchen und die Grenzen meines Verantwortungsbereichs und meiner Kraft zu kennen.
  • Die Demut, in einem Team zu arbeiten, mit den dazugehörigen Beschränkungen der eigenen Behaglichkeit, Bequemlichkeit und Berühmtheit.
  • Die Demut, Herz und Kopf ganz der Souveränität Christi zu unterwerfen, von seinem Wort geformt zu werden und einen ungewöhnlichen geistlichen Scharfsinn an den Tag zu legen, der daher rührt, dass unsere Füße fest im Evangelium stehen, und nicht in nebensächlichen und ausgefallenen Trends.
  • Die Demut, die Botschaft eines anderen zu verwalten und darum nicht für innovativ, sondern für treu befunden zu werden.

In 1. Petrus 5 ruft der alternde Apostel Petrus seine Mitältesten nicht nur dazu auf, die Herde Gottes zu hüten und Aufsicht zu üben, sondern dabei auch Demut zu üben:

„Ebenso ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter; ihr alle sollt euch gegenseitig unterordnen und mit Demut bekleiden!“ (1Petr 5,5)

Nicht nur die „Jüngeren“ sollen sich in Demut vor der Gemeinde unterordnen. Auch die Ältesten („ihr alle“) fordert er auf, sich mit Demut zu bekleiden. Schließlich leiten sie nicht aus Zwang, sondern freiwillig; nicht nach schändlichem Gewinn strebend, sondern mit Hingabe; nicht als Herrschende, sondern als Vorbilder (vgl. 1Petr 5,2–3). Das heißt, sie sind „Gehilfen eurer Freude“, zur Freude der Gemeinde (2Kor 1,24; vgl. Hebr 13,17).

Das macht ein Team aus lokalen, nüchternen Lehrern, die der Autorität Christi unterstehen und einander Rechenschaft ablegen, zu genau der Art von Ältesten, die wir uns alle wünschen – und genau zu der Art von Männern, unter deren Leitung wir richtig aufblühen können.