Die leeren Versprechungen eines vollen Terminkalenders

Artikel von Justin Perdue
17. April 2023 — 7 Min Lesedauer

Oft höre ich von Besuchern meiner Gemeinde die ein oder andere Version folgender Frage: „Welche Angebote habt ihr für …? Gibt es etwas für Kinder? Jugendliche? Singles? Männer? Frauen? Senioren?“ Man nimmt an, dass eine gute Gemeinde vielfältige Angebote für diverse Personengruppen hat. Programmangebote ermöglichen es, Teil der Gemeinde zu werden und zu wachsen. Unter der Oberfläche einer gesunden Gemeinde muss sich doch das Gerüst eines vollen Gemeindeterminkalenders befinden, oder?

In Wirklichkeit ist es so, dass das vielfältige Angebot an Gemeindeaktivitäten die Gläubigen mehr ablenken und erschöpfen kann, als dass es sie in ihrem Glauben stärkt und den Auftrag der Gemeinde vorantreibt.

Ziel dieses Artikels ist nicht, Gemeinden zu entmutigen, Angebote oder Aktivitäten durchzuführen. Stattdessen sollen die Kernanliegen betont werden, die uns in der Schrift offenbart wurden und die sich über die Zeit hinweg bewährt haben.

Zuerst möchte ich zwei theologische Probleme aufzeigen, die uns dazu verleiten zu glauben, dass ein voller Angebotskalender zur Reife in Christus führt. Danach gebe ich drei Anregungen zur Gestaltung der Gemeindeangebote.

Theologisches Problem Nr. 1: Wir konstruieren unsere Identität aus dem, was wir tun.

Als Pastor frage ich Menschen oft, wie es ihnen geht, und es ist auffällig, wie viele sofort mit einer Liste von Dingen antworten, die sie tun. Anstatt zu erfahren, wie es ihnen damit ergeht, Christus als Pilger in dieser gefallenen Welt zu vertrauen, bekomme ich ein Update über die Häufigkeit ihrer Stillen Zeit, welche Bücher sie lesen und welche Gemeindegruppen sie in letzter Zeit besuchen. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass wir glauben, unsere christliche Identität läge in dem, was wir tun.

„Alles, was wir tun, tun wir unter dem Schirm von Gottes Barmherzigkeit und nicht in der Hoffnung, diese erst zu erlangen.“
 

Biblisch betrachtet ist unser christliches Leben ein empfangenes Leben. Wir erhalten Christi Gerechtigkeit und die Begleichung unserer Schuld durch Glauben (vgl. Röm 3,21–26; 5,12–21; Phil 3,1–11). Wir sind mit ihm vereint und leben aus unserer Verbindung mit Christus und unserem Status als Gerechtfertigte. Wir jagen nichts nach (vgl. Röm 5,1–11; 6,1–23; 8,1–4; 8,15–17). Alles, was wir tun, tun wir unter dem Schirm von Gottes Barmherzigkeit und nicht in der Hoffnung, diese erst zu erlangen.[1]

Theologisches Problem Nr. 2: Wir glauben nicht, dass die ordentlichen Gnadenmittel ausreichen.

In der Vergangenheit hat die Kirche verstanden, dass der Herr sein Volk durch den Dienst am Wort und durch die Sakramente erhält und stärkt, ebenso durch Gebet und Gesang.[2] Heute neigen wir dazu, nicht mehr zu glauben, dass ein gewöhnliches Leben in der Gemeinschaft der Heiligen, die an den ordentlichen Gnadenmitteln teilhaben, zur Reife in Christus führt.

Vielleicht liegt es aber auch nicht daran, dass wir den ordentlichen Gnadenmitteln nicht trauen. Vielleicht sind wir eher gelangweilt von ihnen und suchen nach dem nächsten großen Ding. Wir sind ständig auf der Suche nach geistlichen Erfahrungen oder dem ultimativen Schlüssel, der uns die Tür zur wahren Nachfolge öffnet. Und oft denken wir, dass wir ihn in irgendeinem der Dienste in der Gemeinde finden.

Lasst mich nun drei Ermutigungen für die Dienste in euren Gemeinden geben.

Ermutigung Nr. 1: Wagt es, die gemeinsamen Versammlungen am Tag des Herrn zu betonen und zu priorisieren.

Wenn wir uns als Volk Christi am Tag des Herrn versammeln, tun wir das, um den Dienst, den Christus an uns getan hat, und seine Gaben zu empfangen. Wir kommen als Sünder; er vergibt uns. Wir kommen befleckt; er reinigt uns. Wir kommen hungrig; er gibt uns Nahrung. Wir kommen leer; er füllt uns.

„Der gemeinsame Gottesdienst ist eine Gelegenheit, Gott zu hören und von ihm verändert zu werden.“
 

Der gemeinsame Gottesdienst ist eine Gelegenheit, Gott zu hören und von ihm verändert zu werden. Er hat gesprochen und sich uns offenbart. Er hat gehandelt und unser gedacht. Er hat uns gerettet. Und darauf reagieren wir. Das ist das Heilsamste, was wir jede Woche tun können. Gott hat versprochen, bei uns zu sein, uns geistlich zu dienen und uns alles zu geben, was unserem Glauben und unserer Liebe fehlen mag.[3]

In Anbetracht dessen sollte das Angebotsprogramm unserer Gemeinden der sonntäglichen Versammlung untergeordnet sein. Die Angebote sollten sich aus der Versammlung ergeben, was mich zu meiner zweiten Ermutigung führt.

Ermutigung Nr. 2: Die Sonntagsversammlung soll die Gläubigen für den Dienst ausrüsten. Führt einen Angebotskalender, der den Gläubigen erlaubt, einander und dem Nächsten zu dienen.[4]

Es ist heutzutage normal, sein Leben in halsbrecherischem Tempo zu führen. Unser Leben ist voll, und wir müssen zugeben, dass wir uns das oft selbst antun – aber nicht immer. Ich bin dankbar, einer Gemeinde anzugehören, in der viele ein einfaches Leben zu führen suchen, das sich an der Ortsgemeinde orientiert. Aber selbst so sind wir schnell von all dem überwältigt, was unsere Familienkalender füllt. Ich nehme an, dass unsere Gemeinde hier keine Ausnahme ist.

Das wirft eine wichtige Frage auf: Dient es unseren Mitgliedern, wenn wir ihre Kalender mit zahlreichen Gemeindeaktivitäten füllen? Während das moderne Leben ein Hetzen von A nach B ist, fühlt sich das christliche Leben oft wie ein Hamsterrad an. Wir rennen wie verrückt, wir tun alles Mögliche, doch wenn wir erschöpft aufschauen, sind wir uns nicht sicher, etwas erreicht zu haben.

Es ist gut, unter der Woche Raum für die Gläubigen zu schaffen, sich auf einen Kaffee oder zu einer Mahlzeit zu treffen, einen Spaziergang zu machen oder mit den Kindern in den Park zu gehen. Es sollte Zeit bleiben, Gastfreundschaft zu üben. Diese Art von Interaktion ermutigt die Gläubigen, einander die Sünden zu bekennen, die Lasten des anderen zu tragen, sich gegenseitig zu korrigieren, einander zu ermutigen, zu ermahnen und das Heil ihrer Familien, Freunde und Nachbarn zu suchen.

Fördert euer Gemeindekalender diese Art von Aktivitäten oder verhindert er sie?

Ermutigung Nr. 3: Abgesehen von den sonntäglichen Versammlungen ist alles andere eine Frage der Weisheit.

Unsere Gemeinden sündigen nicht, wenn sie Jugendgruppen haben bzw. wenn sie keine haben. Ebenso ist es mit Seniorengruppen, Hauskreisen oder Frauenbibelstunden. Bezüglich der verschiedenen möglichen Programmangebote gibt es viel Spielraum und Freiheit.

„Dient dieses Angebot eindeutig dem Auftrag der Gemeinde?“
 

Den Ältesten in meiner Gemeinde erscheint es sinnvoll, zusätzlich Zeiten für Gebet und Lehre außerhalb des Sonntaggottesdienstes einzurichten. Deswegen haben wir zwei Mittwochabende im Monat, an denen wir uns mit der christlichen Lehre befassen, eine Gebetstunde am Sonntagabend, und Katechismusunterricht jeden Sonntagmorgen. Die anderen Gemeindeaktivitäten dienen den Gläubigen als Gelegenheit, Beziehungen untereinander zu stärken, und sind dementsprechend aufgebaut.

Wir sollten uns bezüglich jedes Angebots unserer Gemeinde folgende Frage stellen: Dient dieses Angebot eindeutig dem Auftrag der Gemeinde? Wenn nicht, kann man es getrost abschaffen. Angebote und Programme kommen und gehen – das sollten wir verinnerlichen und lehren, und unser Budget entsprechend gestalten.

Ein letztes Wort der Ermutigung

Die primäre Aufgabe jedes Gemeindemitgliedes ist es, zur sonntäglichen Versammlung zu erscheinen. Alles andere ergibt sich daraus. In den sieben Jahren, in denen meine Gemeinde besteht, habe ich unzählige Male zu wohlmeinenden Gläubigen gesagt: „Vertraue Christus. Beruhige dich und komm zum Gottesdienst.“ Manchmal füge ich noch hinzu: „Lass uns in einem Jahr noch mal drüber sprechen.“

Diese einfache Ermahnung war für meine Gemeinde bemerkenswert fruchtbar. Warum? Weil der Herr seine Gemeinde mit den Mitteln baut, die er uns gegeben hat. Wir können ihm vertrauen.


[1] So schreiben es die Apostel in den neutestamentlichen Briefen. Diese gründen die Gläubigen in ihrer Einheit mit Christus, bestätigen ihren Status als Adoptierte und Gerechtfertigte, und beschreiben dann, wie die Geretteten leben. Dies finden wir insbesondere in den Briefen an die Römer, die Epheser, die Kolosser und im 1. Johannesbrief.

[2] Vgl. Mt 26,26–28; Lk 22,19–20; Joh 6,47–51; Röm 6,3–5; 10,14–17; 16,25–27; 1Kor 10,16; 11,23–26; Eph 4,1–16; Kol 2,11–12; 3,16; 2Tim 3,16–4,2; 1Petr 3,20–22.

[3] Siehe die Bibelstellen zu den ordentlichen Gnadenmitteln (oben) sowie Mt 11,28–30, 2Kor 3,5–6; 16–28, usw.

[4] Siehe Eph 4,7–16, Röm 12,3–8, 1Kor 12,1–31. Bezüglich der Wichtigkeit des Dienstes aneinander und am Nächsten, siehe auch Röm 13,8–10, Gal 6,1–2 usw.