Jesus weinte am Tag der Freude

Kummer und Hoffnung am Palmsonntag

Artikel von Jon Bloom
2. April 2023 — 7 Min Lesedauer
„Ach, HERR, hilf! … Gepriesen sei der, welcher kommt im Namen des HERRN!“ (Ps 118,25–26)

An dem Tag, welcher als Palmsonntag in die Geschichte einging, als Jesus sich Jerusalem näherte, weinte er über diese Stadt. Ein zufälliger Beobachter hätte annehmen können, dass Jesus im falschen Moment weinte.

Erst kurz zuvor hatte er am Grab des Lazarus geweint, nur um ihn wenige Augenblicke später wieder zum Leben zu erwecken (vgl. Joh 11,35–44). Nun begleitete ihn die enthusiastische Menge, die von diesem großen Wunder gehört hatte (vgl. Joh 12,17–18), wie einen König in die Stadt Davids. Dabei riefen sie die Worte aus Psalm 118,25–26: „Hosianna! Gepriesen sei der, welcher kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“ (Joh 12,13). Alle Juden wussten, dass mit diesen Worten die Begrüßung des Messias gemeint ist – und Jesus antwortete darauf mit einer tränenreichen Wehklage:

„Wenn doch auch du erkannt hättest, wenigstens noch an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde einen Wall um dich aufschütten, dich ringsum einschließen und von allen Seiten bedrängen werden; und sie werden dich dem Erdboden gleichmachen, auch deine Kinder in dir, und in dir keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast!“ (Lk 19,42–44)

Diese Antwort ist es wert, innezuhalten, um über sie nachzusinnen – ein Psalmist würde dies vielleicht als einen selah-Moment bezeichnen. Der „triumphale Einzug in die Stadt des großen Königs sollte vielen zur Freude gereichen (vgl. Lk 19,41; Sach 9,9). Der große König selbst aber weinte, bevor er durch ihre Tore einzog.

Der verworfene Stein, das Wirken des Herrn

Unserem Erlöser war Psalm 118 zu Beginn der Karwoche ganz besonders präsent. Es war die Woche der Vollendung. In dieser wurde alles erfüllt, was der Tempel und die Opferanordnungen angedeutet hatten (vgl. Hebr 10,1), und zwar mit einem einzigen, großen, endgültigen Opfer, das der große Hohepriester selbst ausführte (vgl. Hebr 4,14; 9,26).

„Es war erstaunlich, dass Jerusalem – ‚die Freude der ganzen Erde‘ – nicht erkannte, dass die Freude der Freuden ankam.“
 

Jesus hörte den Psalm in den „Hosianna“–Rufen der Menge. Er erkannte den Psalm in den mörderischen Machenschaften der jüdischen Oberhäupter: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden; vom HERRN ist das geschehen; es ist wunderbar in unseren Augen!“ (Ps 118, 22–23). Das war es, was Jesus das Herz brach, als er inmitten der wehenden Palmblätter auf einem Eselsfohlen nach Jerusalem ritt. Und es war erstaunlich.

Es war erstaunlich, dass Jerusalem – „die Freude der ganzen Erde“ (Ps 48,3) – nicht erkannte, dass die Freude der Freuden ankam, nach langen Jahrhunderten des Wartens.

Es war erstaunlich, dass der souveräne König der Könige (vgl. 1Tim 6,15), der Sohn und Herr Davids (vgl. Mt 22,44­–45), der von alters her bestimmt hatte, dass die Bauleute ihren Eckstein verwerfen würden, tiefen Kummer über ihre Blindheit und Verwerfung empfand und sich zutiefst wünschte, sie hätten erkannt, was er alles tat, um Frieden zu schaffen (vgl. Lk 19,42).

Es war erstaunlich, dass der jüdische Messias gekommen war, um die „Hosianna“–Rufe zu beantworten und nicht nur dem jüdischen Volk Frieden zu bringen, sondern auch den Heidenvölkern der ganzen Erde – das Geheimnis, „das von ewigen Zeiten her verschwiegen war“ (Röm 16,25). Dieses Geheimnis würde den Heiden bald durch einen jüdischen Pharisäer verkündet werden (vgl. Eph 3,1–6), der, falls er bei Jesu Einzug in die Stadt dabei gewesen war, alles, was dieser Festzug implizierte, leidenschaftlich gehasst hätte.

All das ist „[v]om Herrn … geschehen“ (Ps 118,23). Denn der Herr hat gesagt: „Der Sohn des Menschen muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und den obersten Priestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tag auferweckt werden“ (Lk 9,22).

Wie viel wurde für diesen Frieden getan!

Der Tag, den der Herr gemacht hat

Das Erstaunliche besteht nicht nur darin, dass die Bauleute den Eckstein verwarfen, sondern auch dass er ein Fluch wurde für alle unter uns, die ihn später anbeten würden (vgl. Gal 3,13).

Der wunderbare Psalm jubelt: „Bindet das Festopfer mit Stricken an die Hörner des Altars!“ (Ps 118,27). Wer an dem Tag der großen Ankunft des Königs hätte gedacht, dass der König gekommen war, um das Opfer aller Opfer zu sein und dass das römische Kreuz, an das er gebunden werden würde, der heiligste Altar sein würde, der je gebaut worden war? Niemand außer Jesus, dem König. Das war der Grund seines Kommens und darum war seine Seele inmitten der jubelnden Menge so bestürzt (vgl. Joh 12,27).

Aber das Jubeln der Menge war die richtige Antwort. Ja, der Psalm fordert sogar dazu auf: „Dies ist der Tag, den der HERR gemacht hat; wir wollen uns freuen und fröhlich sein in ihm!“ (Ps 118,24). Was den großen Erlöser zutiefst erschütterte, war die Aufgabe, die vor ihm lag: die Sünde einer Myriade von Sündern zu sühnen (vgl. Eph 1,7).

Dies war der Tag, den der Herr gemacht hat, ein Tag der Freude und des Jubelns für Sünder. Aber es war ein Tag des Weinens für den Herrn. Denn, ach, wie viel wurde für diesen Frieden getan!

Seine Liebe hört niemals auf

Doch Jesu Kummer war nicht hoffnungslos. Nein, er wusste, dass das Weinen nur für den Abend war und mit dem Morgen die Freude kommen würde (vgl. Ps 30,6). Er wusste, dass es der Wille des Vaters war, ihn zu zerschlagen und leiden zu lassen (vgl. Jes 53,10). Er wusste, dass, nachdem er das höchste Opfer für die Sünde vollbracht und die Schuld der vielen getragen hatte, ihnen Gerechtigkeit zugerechnet werden würde. Er wusste auch, dass er, nachdem die Qualen seiner Seele vorüber waren, seine erlösten geistlichen Nachkommen sehen und höchste Freude verspüren würde (vgl. Jes 53,10–11). Sogar durch den Tränenschleier hindurch sah Jesus die vor ihm liegende Freude (vgl. Hebr 12,2) und richtete sein Angesicht entschlossen auf das, war ihn in Jerusalem erwarten würde (vgl. Luk 9,51).

„Zur Ehre eines solchen Königs stimmen wir ein mit der Menge jener Zeit in den Jubel über den Tag, den der Herr gemacht hat.“
 

Dies war der Entschluss einer unergründlichen Liebe: eine Liebe stärker als Tod und Grab, eine Flamme des Herrn (vgl. Hld 8,6). Es war eine Liebe, die so gut, so beständig, so unveränderlich, so hoch, so weit, so lang und so tief ist, dass es die Kraft Gottes selbst erfordert, um sie zu erkennen (vgl. Eph 3,18–19). Es war die Liebe Gottes zu dieser Welt (vgl. Joh 3,16), einer Welt, die ihn verworfen hatte (vgl. Psalm 118). Diese Liebe ging ­–­ für uns – bis zum Äußersten, um das zu erreichen, was dem Frieden dient.

Darum, zur Ehre eines solchen Königs, stimmen wir ein mit der Menge jener Zeit in den Jubel über den Tag, den der Herr gemacht hat. Wir erheben unsere Hände, als hielten wir festliche Palmwedel, und verkünden:

„Heil dem, der im Auftrag des HERRN kommt! … Du bist mein Gott, und ich danke dir; mein Gott, ich will dich preisen! Dankt dem Herrn, denn er ist gut zu uns, seine Liebe hört niemals auf!“ (Ps 118,26.28–29 GNB)