Trösten oder Ermahnen?

Tendenzen und Dynamiken biblischer Seelsorge

Artikel von Curtis Solomon
22. März 2023 — 5 Min Lesedauer

Die Narbe auf Joels Gesicht war noch frisch – die sichtbare Hinterlassenschaft eines kürzlichen Suizidversuchs. Joels Leben wirkte selbst auf flüchtige Beobachter völlig chaotisch und außer Kontrolle geraten. Je genauer man die Situation beschaute, desto schlimmer schien sie.

Joel war Kriegsveteran, der im Kampf enge Freunde verloren hatte. Er konnte kaum schlafen, Albträume und erhöhte Wachsamkeit hielten ihm die Augen offen. Zudem hatte Joel seine Frau mehrfach betrogen und war fast immer high oder betrunken.

Er wollte dem Schmerz ein Ende machen. Er wollte seinen Freunden und seiner Familie nicht länger zur Last fallen. Er dachte, eine Kugel im Kopf würde alle seine Probleme lösen. Durch Gottes Gnade erfüllte die Kugel ihren Zweck nicht. Sie ließ Joel mit Narben auf Gesicht und Seele zurück.

Und jetzt sitzt Joel – oder jemand wie er – dir für ein Seelsorgegespräch gegenüber. Er will deine Hilfe und du fragst dich: „Wo soll ich anfangen?“ Bevor du seine Probleme angehst, ist es vielleicht hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und einige allgemeine Faktoren zu betrachten, die jedes Seelsorgegespräch beeinflussen.

Seelsorger müssen die vorhandenen Dynamiken in solchen Situationen verstehen – ihre eigenen Neigungen, die Perspektive der hilfesuchenden Person, die objektive Realität und die Botschaft des Wortes Gottes. Leider ist es möglich, dass in unserem Denken die Realität der Sünde mit der des Leidens verschmilzt, wenn wir uns dieser Dynamiken nicht bewusst sind. Doch mit Gottes Weisheit können wir die stürmischen Gewässer der Sünde und des Leids in unseren wie auch in anderen Herzen und der Welt, in der wir leben, umschiffen.

Die Tendenzen des Seelsorgers

Jeder Seelsorger neigt dazu, seine Klienten entweder als Sünder oder als Leidende zu behandeln. Jede dieser Tendenzen hat ihre Stärken und ihre Schwächen.

Seelsorger, die ihre Klienten primär als Leidende sehen, neigen dazu, einfühlsam zu sein. Sie weinen mit den Weinenden (vgl. Röm 12,15). Möglicherweise übersehen sie aber auch Sünde im Leben einer Person oder rechtfertigen diese sogar wegen des Leides, das sie sehen. Diese Art Seelsorger würde Joel viel Trost spenden und ihn auf Gottes Liebe, Güte und Fürsorge verweisen, womöglich aber niemals die Sünde in Joels Herzen ansprechen.

Seelsorger, die ihre Klienten primär als Sünder sehen, verstehen sich üblicherweise bestens darauf, sündige Verhaltensweisen wie auch zur Sünde führende, fehlgeleitete Sehnsüchte in einem Herzen zu identifizieren. Doch an ihren schlechtesten Tagen spielen sie vielleicht das Leid ihrer Klienten herunter, scheitern daran, Jesu mitfühlende Liebe zu verkörpern, und ignorieren unter Umständen die Notwendigkeit, bedeutende Verluste zu betrauern. Würde Joel sich einem solchen Seelsorger anvertrauen, hätte er möglichweise keine Gelegenheit, seine erfahrenen Verluste zu verarbeiten. Diese Verluste rechtfertigen seine Sünde nicht, hatten aber sicherlich großen Anteil daran, ihn in ihre Arme zu treiben. Seine Verluste müssen unserem leidenden Erlöser zu Füßen gelegt werden.

Das Selbstbild des Hilfesuchenden

Jemand, der ein Seelsorgegespräch sucht, sieht sich ebenfalls entweder als Sünder oder als Leidender.

Manche suchen ein Gespräch, weil sie sich in einem Kreislauf der Sünde gefangen fühlen. Sie möchten bekennen, umkehren und Rechenschaft ablegen. Doch sich selbst primär als Sünder zu sehen, kann dazu führen, dass man gesetzlich wird, seinen Glaube nach seiner eigenen Leistung beurteilt und von übermäßigen Schuld- und Schamgefühlen geknechtet wird. Auch echtes Leid, das das eigene Leben beeinflusst, kann so leicht übersehen werden.

Jemand, der sich selbst vorwiegend als Leidender sieht, mag seinen Schmerz korrekt beurteilt haben und ihn als Resultat einer Prüfung oder Drangsal sehen. Vielleicht gefällt er sich aber auch in der Rolle des Opfers, macht andere für seine Sünden verantwortlich und vergräbt sich tief in seiner eigenen Hoffnungslosigkeit.

Den ganzen Menschen sehen

Was passiert, wenn die Neigungen eines Seelsorgers und das Selbstbild des Hilfesuchenden aufeinandertreffen?

Jemand, der sich zuerst als Leidender wahrnimmt und auf einen Sünder-orientierten Seelsorger trifft, könnte sich übermäßig hart gerichtet, unverstanden und ungeliebt vorkommen. Im Gegensatz dazu könnte sich ein Leidender bei einem leidorientierten Seelsorger geliebt fühlen, sich aber gleichsam im Selbstmitleid suhlen und Probleme damit bekommen, nach vorne zu schauen und Fortschritte zu machen. Trifft jemand, der sich zuerst als Sünder wahrnimmt, einen gleichgesinnten Seelsorger, gelingt es ihm vielleicht, sündige Verhaltensweisen schnell zu ändern. Lernt er dabei aber nicht, Verluste in seiner Vergangenheit angemessen zu verarbeiten, liegt seinem Wachstum möglicherweise eine von Leistung getriebene Motivation zugrunde.

„Menschen sind gleichzeitig Sünder und Leidende (und noch viel mehr).“
 

Eines der größten Probleme unseres Sünder/Leidender-Musters ist, dass es die Dinge zu sehr vereinfacht und ein falsches Dilemma darstellt. Menschen sind gleichzeitig Sünder und Leidende (und noch viel mehr). Sünder leiden und Leidende sündigen. Manchmal gehen Leid und Sünde Hand in Hand. Sünde schafft schmerzhafte Folgen. Manchmal sündigen wir als Reaktion auf unser Leid und manchmal gibt es zwischen beiden gar keine direkte Verbindung.

Als Seelsorger müssen wir die Person vor uns in ihrer Gänze sehen – ihre Sünde, ihren Schmerz und alles, was sonst noch dazugehört. Und wir müssen Menschen dabei helfen, sich ebenfalls so zu sehen.

Es wird Joel ein großer Segen sein, wenn er auf einen Seelsorger trifft, der ihn nicht als Sünder oder als Leidenden, sondern als ganzen Menschen behandelt. Ein weiser Seelsorger wird in jeder Situation alle Faktoren einbeziehen – seine eigenen Neigungen, das Selbstbild des Hilfesuchenden und die zwischen den beiden bestehenden Dynamiken. So werden Probleme eines Klienten, gleich welcher Art, nicht außer Acht gelassen und ihm kann besser mit Rat und Tat zur Seite gestanden werden.