The Pastor and the Modern World
Gemeindearbeit ist lange nicht so herausfordernd gewesen wie heute. Wie kommt das? Aktuell kommen so viele ernste Themen und auch gesellschaftliche Fragen zusammen, dass einem schwindelig werden kann. Das belastet vielerorts den Glauben, das Miteinander, den Alltag. Pastoren, Gemeindehirten und Älteste fragen sich: Wie kann man der Gemeinde zielgerichtet dienen? Welche Baustellen müsste man jetzt besonders angehen, neben den „üblichen“ Herausforderungen des Gemeindedienstes?
The Pastor and the Modern World bündelt drei Vorträge, die erfahrene Dozenten des Westminster Theological Seminary gehalten haben. So unterschiedlich die Beiträge auf den ersten Blick auch sind, eint sie das klare Anliegen, Menschen für einen reflektierten und treuen Dienst zuzurüsten.
Sind wir wirklich so säkular?
Den Auftakt macht William Edgar mit dem Themenfeld von Apologetik, Evangelisation und Kultur. Mit seiner Frage, ob wir wirklich so säkular sind, scheint er zunächst das Offensichtliche zu beleuchten. Mit Beispielen unterstreicht er dann jedoch, dass Menschen heutzutage seelische und geistliche Hilfe nicht mehr bei der Kirche, sondern an anderen Stellen suchen. Er macht deutlich, dass Säkularisierung viele Gesichter hat, wenngleich der Fokus durchweg auf das eigene Ich gerichtet bleibt. So verweist Edgar auf verschiedene Definitionen des Begriffs und erklärt, wie sich die gängige Säkularisierungstheorie entwickelt hat.
„Menschen suchen heutzutage seelische und geistliche Hilfe nicht mehr bei der Kirche, sondern an anderen Stellen.“
Stimmt es, dass die Religion mit wachsendem Wissen, Fortschritt und Wohlstand langsam, aber sicher verschwindet? Tatsache ist, dass die Welt außerhalb des westlichen Kulturkreises hochgradig religiös ist und das Christentum wächst. Auch wird der Westen nicht einfach nur atheistischer, sondern pluralistischer. Und nun?
Edgar vermeidet jeglichen Triumphalismus. Stattdessen mahnt er zur differenzierten Vorsicht. Ja, das Christentum wächst weltweit. Zugleich schreitet aber auch die Säkularisierung fort, die oft unterschwellig unser Weltbild, unser Selbstbild und unser Gottesbild prägt. Religion wird zwar nicht einfach ausgemerzt, aber oftmals ersetzt – etwa durch Wissenschaft und technologische Möglichkeiten, durch den Sinn und Wert der Sexualität, auch durch neue Ausdrucksformen von Identität und Zugehörigkeit.
Mit Verweis auf den marxistischen Intellektuellen Terry Eagleton unterstreicht Edgar, dass besonders Kunst und Kultur das Zepter der Religion geerbt haben. Hier lassen sich noch transkulturelle Werte, transzendente Wahrheiten, bedeutungsschwere Traditionen und Rituale entdecken und erleben. Diese ersetzen Gott und bieten den Menschen etwas Tiefes, Existentielles, ja, fast Göttliches.
Zur Veranschaulichung lädt Edgar dann auf eine kunstgeschichtliche Reise ein. Anhand acht ausgewählter, historischer Gemälde denkt er über die kulturellen Entwicklungen nach, die dahinterliegen und deren Folgen wir bis heute spüren. Mit Impulsen aus der Bibel erinnert er schließlich daran, dass Christen in diesen komplizierten Zeiten geistlich-nüchtern und realistisch sein dürfen.
Keine Frage: Eine pluralistische, säkularisierte Gesellschaft bietet uns unheimlich viele Optionen. Sie suggeriert, Gott sei nicht nur unnötig, sondern auch verschwunden. Doch er war nie weg! Er handelt und redet noch immer, selbst wenn viele das nicht sehen oder wahrhaben wollen.
„Religion wird nicht einfach ausgemerzt, aber oftmals ersetzt – durch Wissenschaft und technologische Möglichkeiten, den Sinn und Wert der Sexualität, auch durch neue Ausdrucksformen von Identität und Zugehörigkeit.“
Zu Recht unterstreicht der Professor: „Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Säkularisierung nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine emotionale Alternative ist“ (S. 51). Angesichts einer mal sanften, mal harschen Säkularisierung ermutigt er zu zweierlei: Einerseits sollten unser Leben und Reden von der Realität des kommenden Gerichts geprägt sein. Auch wenn es unpopulär klingt, ist es schließlich eine gute und lebensverändernde Nachricht: Christus wird wiederkommen. Zu ihm dürfen Menschen umkehren. Andererseits sollten wir nach Edgars Überzeugung das Evangelium der Gnade umso kerniger weitergeben. Es ist immerhin Gottes Kraft und rettet jeden, der ihm glaubt (vgl. Röm 1,16). Das alles darf wiederum aus echter Liebe zu Gott und den Menschen geschehen, die aus der Gemeinschaft mit Christus fließt:
„Es ist seltsam, aber auf wunderbare Weise wahr: Der Gott, dessen Vertrauen wir gebrochen haben, dessen Fluch auf der Welt liegt, will sich mit uns versöhnen. Das letzte Heilmittel gegen die Säkularisierung ist keine erneute Verzauberung, sondern die Gemeinschaft!“ (S. 55)
Trotz der komplexen Themen sind Edgars Denkwege nachvollziehbar, theologisch fundiert und kultursensibel. Auch lässt er Autoren aus unterschiedlichsten Richtungen zu Wort kommen und bindet manche losen Fäden zusammen. Einige seiner Kerngedanken kennt man bereits von anderen Autoren, doch setzt der Theologe und Kulturliebhaber ganz eigene Akzente. Edgar zeigt, weshalb sich in einer säkularen Kultur für uns so vieles so normal anfühlt, und wirbt dabei für eine gesunde, ganzheitliche Christusnachfolge.
Das Herz eines Pastors und die Predigt
In zweiten Beitrag des Buches fragt R. Kent Hughes pastoraltheologisch: Wie passen der Predigtdienst und das Herz des Predigers zusammen? Um das zu beantworten, greift er auf Jonathan Edwards‘ Klassiker Sind religiöse Gefühle zuverlässige Anzeichen für wahren Glauben? zurück. Der Mensch hat einen Verstand, Emotionen und einen Willen, zugleich aber ist er ein Ganzes. Somit sind Prediger als Komplettpaket gefordert – im Bibelstudium wie auch auf der Kanzel. Hier ist Charakter gefragt, und es wird schnell einseitig, wenn wir nur unserem Temperament folgen: „Tatsächlich predigen viele moderne Prediger sich selbst mit ihrer geübten Inszenierung und ihrer Flut von persönlichen Anekdoten und nach innen gerichteten Erkundungen“ (S. 66–67).
In Sachen Predigtvorbereitung spricht sich Hughes für 20 heilige Stunden aus, in denen die Erkenntnis von Gottes Wahrheit das eigene müde oder kalte Herz weich macht. Seine Überzeugung ist: Es gibt keine wahre Liebe ohne wahres Wissen des Wortes. Ebenso wichtig ist für Prediger die Vorstellungskraft. Erst wenn sie die biblische Originalsituation durchdringen, sich in das Leben ihrer Zuhörer hineinversetzen und die Predigt in eine passende Form bringen, können sie das Wort der Wahrheit angemessen auf das Leben und die Herzen der Menschen anwenden.
„Erst wenn Prediger biblische Originalsituation durchdringen, sich in das Leben ihrer Zuhörer hineinversetzen und die Predigt in eine passende Form bringen, können sie das Wort der Wahrheit angemessen auf das Leben und die Herzen der Menschen anwenden.“
Um bei der Verkündigung mit ganzem Herzen dabei zu sein, reflektiert Hughes schließlich weitere Schlüsselthemen: das Gebet, die Frage nach Authentizität, Leidenschaft, die Rolle des Heiligen Geistes, die Herzenshaltung der Zuhörer und Christus als Mitte unserer Predigt und Persönlichkeit.
Blickt man zurück, so hat die Predigtlehre in den vergangenen Jahren eine kleine Renaissance erlebt. Hughes greift viele Impulse davon auf, doch wendet er sich vorrangig Grundsatzthemen zu. In seinen Worten spiegeln sich die Erfahrungen aus 50 Jahren (!) Gemeindedienst wider, doch ohne Besserwisserei. Man spürt seine leidenschaftliche Last für die Gemeinde, für das gepredigte Wort und für Menschenleben, die neu vom Evangelium gepackt sind.
Der Pastor als Seelenarzt
Auch der letzte Beitrag von Alfred Poirier ist hochinteressant. Er hat einen kirchengeschichtlichen Schwerpunkt und fragt danach, was Pastoren und Prediger von Gregor von Nazianz (329–390 n.Chr.) lernen können. Gregor kam aus einer christlichen Familie und war später ein immens wichtiger Theologe und Kirchenleiter – einer der sogenannten drei kappadokischen Väter. Als er jedoch (gegen seinen Willen) zum Priester geweiht wurde, floh er. Das ist nichts Alltägliches.
Nach viel Gebet und Gesprächen mit seinem Kollegen Basilius von Caesarea kehrte Gregor nach einigen Monaten wieder heim. Was alles in ihm vorging, erklärte er schließlich in einer besonderen Predigt, die Poirier mit viel Gespür auswertet.
Gregors Gedanken über den Gemeinde- und Pastorendienst, sein Ringen um die eigenen Begrenzungen, sein Zögern vor der großen Verantwortung gegenüber Gott und seiner Gemeinde, und wie er die Seelsorge mit der Medizin vergleicht – das alles zeugt von einer hohen Berufung, die man nicht leichtfertig ablehnen oder annehmen sollte. So gesehen, durchzieht Poiriers Beitrag eine melancholische Zuversicht mit einem sehr ernsten und ermutigenden Ansporn an seine Leser. Auch sie sollen am Ende mit Gregor sagen können: „Hier bin ich, meine Hirten und Mithirten. Hier bin ich, heilige Herde, die du Christi, des Hohenpriesters, würdig bist.“
Ein kleines Buch mit viel Gewicht
The Pastor and the Modern World bietet nicht die perfekte Lektüre. An einigen Stellen ähnelt es einem Tagungs- und Sammelband, mit entsprechenden Vorworten und kurzen Laudationes. Stellenweise scheint im Buch der amerikanische, presbyterianische Kontext hervor. Zusätzlich spürt man beim Lesen eine gewisse Spannung – einerseits einen akademischen Anspruch, andererseits sind die Beiträge für den Gemeindedienst geschrieben. So hätte man sich mancherorts noch mehr Tiefgang gewünscht, an anderen Stellen hingegen mehr Nähe zur Praxis.
Trotzdem trifft die besondere Kombination von Perspektiven auf Kultur und Apologetik, auf Predigt, Gemeindedienst und Kirchengeschichte den richtigen Nerv. Gemeindearbeit ist schon lange nicht mehr so herausfordernd gewesen, und das liegt nicht zuletzt an der Kombination von komplexen Fragestellungen, für die es nicht die eine, pragmatische Zauberlösung gibt. Hier konzentrieren sich Edgar, Hughes und Poirier – in aller Komplexität – auf das Wesentliche. Sie laden zum Weiterdenken und Weiterdienen ein und bieten echtes Schwarzbrot für Pastoren, Prediger und Gemeindeälteste. Davon können wir in diesen Zeiten mehr gebrauchen.
Buch
William Edgar, R. Kent Hughes, Alfred Poirier, The Pastor and the Modern World: Reformed Ministry and Secular Culture, Glenside: Westminster Seminary Press, 2022, 120 Seiten, ca. 19 EUR.
Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.