Zum 80. Todestag von Hans und Sophie Scholl
Für ihren Widerstand gegen die Diktatur des Nationalsozialismus bezahlten die Geschwister Hans und Sophie Scholl als Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose am 22. Februar 1943, heute vor genau 80 Jahren, mit ihrem Leben.
Die mutige Gruppe, deren Bedeutung erst in der Nachkriegszeit gewürdigt werden konnte, bestand im innersten Kern aus sechs Personen: Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willy Graf. Sie verfassten Flugblätter, die unter Geheimhaltung verbreitet wurden, und beschrieben die Wände im Universitätsbereich der Universität München mit Parolen wie „Freiheit“ und „Nieder mit Hitler“ oder „Hitler Massenmörder“ inklusive durchgestrichener Hakenkreuze. Am 18. Februar 1943 flog die Gruppe auf, als Sophie Scholl Flugblätter in den Lichthof der Münchener Universität warf und sie und ihr Bruder entdeckt und verhaftet wurden. Vier Tage später wurden sie durchs Fallbeil hingerichtet. Das Urteil lautete „landesverräterische Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Wehrkraftzersetzung“.
Leitmotive des Widerstands
Welche Überzeugungen und Motive bewegten Hans und Sophie Scholl? Ihr Protest fand mitten im Ausnahmezustand einer gewaltsamen, tyrannischen Kriegsmaschinerie statt, die auch nicht vor der Betreibung brutaler Vernichtungslager Halt machte. Sie müssen von vornherein gewusst haben, dass ihre Aktionen riskant waren. Aber welche Überzeugungen brachten sie an den Punkt, selbst das Todesurteil in Kauf zu nehmen?
Ich möchte vier Triebkräfte ihres Handeln skizzieren:
1. Solidarität mit ihrer Familie und ihren Freunden
Augenzeugen berichten auch noch nach vielen Jahrzehnten, dass sich die im Schwäbischen (Region Künzelsau) beheimatete Familie Scholl in einer beeindruckenden Weise einig war und überzeugend vorlebte, wie ein tiefgreifender, enger Familienzusammenhalt aussehen kann. Das war trotz unterschiedlicher Gewichtungen bezüglich der glaubensmäßigen Ausrichtung der Eltern möglich. Während der Vater dem christlichen Glauben distanziert begegnete, hatte die Mutter bis zur Heirat als Diakonisse gelebt und hielt am christlichen Glauben fest. Die Schollkinder waren zu fünft, nachdem das sechste Kind im ersten Lebensjahr verstorben war. Die Blutsbande sowie eine tiefe innere Bindung prägten ihre Familie und flossen über in ihrem Engagement in der Weißen Rose und für ihr Volk.
2. Intensives Fragen nach Wahrheit
Erziehung, Freunde, Einflüsse gebildeter Mitmenschen, anspruchsvolle, aber damals verbotene Literatur halfen den Geschwistern Scholl, die verführerische Nazipropaganda mit der Zeit zu durchschauen. Sie erkannten, dass sich die hohle, ideologisierte, machtgierige, aber inhaltsleere und dämonisierte Feindschaft gegen den Menschen als Geschöpf Gottes richtete. Das war das grundlegende Problem, nicht die Politik. Ihr Widerstand war damit letztlich von einem intensiven Fragen nach den tieferen Zusammenhängen des Lebens motiviert und von dem Wunsch, Wahrheit gegen die Lügen ihrer Zeit zu richten. Das führte zu der Bereitschaft, eine Überzeugung – wenn einmal als richtig erkannt – auch ins Leben zu übersetzen. In ihrer jugendlichen Hingabe und Begeisterungsfähigkeit ließen sich Hans und Sophie Scholl anfangs zwar von den Nationalsozialisten beeindrucken. Aber das Ringen um die grundlegenden Fragen drehte ihren bedingungslosen Gehorsam später in eine andere Richtung: Gott, der Wahrheit und einem davon geprägten Gewissen statt den Forderungen einer Ideologie sollte gehorcht werden! Barbara Beuys schreibt in ihrer Biographie über Sophie Scholl, sie habe ihre Hoffnung darauf gesetzt, „dass es Menschen gibt, die ihr ‚ganzes Denken und Wollen auf eines ungeteilt richten‘ – wie einst Mose für sein Volk Israel“[1]. Hier deutet sie an, dass die Frage nach Wahrheit und eine daraus folgende, ungeteilte Hingabe von ihr als wichtige Bedingungen erachtet werden, damit jemand in den Widerstand tritt.
3. Ihr christlicher Glaube
Das intensive Fragen nach Wahrheit und die Solidarität mit dem Nächsten wurzelten bei den Scholls in einem Weltbild, das sich zwar nicht ausschließlich, aber doch sehr konkret und klar aus einer christlichen Sicht heraus formte, wenn auch in einem intensiven Ringen um Klarheit. Die Kirchen standen dem Nationalsozialismus anfänglich nicht in grundsätzlicher Ablehnung gegenüber. Aber es gab andere Traditionen, die auch von gebildeten Kreisen vertreten wurden – und es gab Literatur. Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit, eine von den Nationalsozialisten verbotene Lektüre, wurde von Hans Scholl geliebt. Augustinus’ Gottesstaat taucht in den Flugblättern auf. Blaise Pascal und andere Wegbereiter für erneuertes katholisches Denken, wie der katholische Schriftsteller Georges Bernanos und sein Tagebuch eines Landpfarrers wurden für Sophie Scholl zur prägenden Lektüre. Hans Scholls Kontakt mit den Religionsphilosophen Theodor Häcker („der katholische Kierkegaard“) und Karl Muth mit ihrer radikalen Sicht und Kulturkritik gaben Denkanstöße, die für Hans zu Leitlinien seines Handelns wurden. Die Bezüge zum christlichen Glauben durchzogen deshalb ihre Argumentation in den Flugblättern.
„Gott, der Wahrheit und einem davon geprägten Gewissen statt den Forderungen einer Ideologie sollte gehorcht werden!“
Ihr Glaube blieb dabei nicht auf einer abstrakten Ebene stehen, sondern zeigte sich im persönlichen Ringen. Sophie Scholl schrieb z.B. im Dezember 1941 in ihr Tagebuch: „Ich habe keine, keine Ahnung von Gott, kein Verhältnis zu ihm … Und da hilft wohl nichts anderes als Beten.“
Im September 1942 betete sie: „Hilf mir einfältig werden, bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir. Doch kann ich Dich kaum mit ‚Du‘ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. Lehre mich beten.“
Hans erklärte im Januar 1942: „Ich habe endlich nach vielen, fast unnütz verflossenen Jahren das Beten wieder gelernt. Welche Kraft habe ich da gefunden! Endlich weiß ich, an welcher unversieglichen Quelle ich meinen fürchterlichen Durst löschen kann.“
In einem Brief an ihren Freund Fritz Hartnagel schrieb Sophie: „Ja, könntest Du dort einmal in einer Kirche am Abendmahl teilnehmen. Welche Trost- und Kraftquelle könnte Dir das sein. Denn gegen die Dürre des Herzens hilft nur das Gebet, und sei es auch noch so arm und klein.“ Aber nur wenige Zeilen weiter konnte sie auch schreiben: „Ich bin Gott noch so fern, dass ich ihn nicht einmal im Gebet spüre. … Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.“
Alles in allem lässt sich zugespitzt konstatieren, dass die Geschwister Scholl und auch einige Vertreter der Weißen Rose die Radikalität des in konsequente Taten des Glaubens umgesetzten christlichen Weltbildes als Gegenprogramm zur nationalsozialistischen Rassen- und Blut-und-Boden-Ideologie verstanden. In ihren Abschiedsworten liegt allerdings auch die ganz persönliche, verinnerlichte Überzeugung, dass letztlich alles in die Hände Gottes gegeben werden muss. Ihr Glaube zeigt sich nicht als politische Tat, sondern als persönliche Vertrauensüberzeugung in einen von Gott geschenkten guten Ausgang. Vielsagend und doch eindeutig sind die Trostworte, die ihre Mutter Magdalena Scholl nach dem Tod ihrer Kinder in einem Brief vom 25. Februar 1943 an Sophies Freund, den Offiziersanwärter und späteren Ehemann der älteren Schwester Elisabeth Scholl, Fritz Hartnagel, zitierte: „Aber, immer steht eine lichte Gestalt, die nun bei Gott ist. Ich sagte in den letzten Minuten, als ich ihrem lächelnden Gesicht ganz nahe war: Aber gelt, Jesus, da sagte sie überzeugend: Ja, aber Du auch.“[2]
4. Beflügelnde Freiheit, die geschleppt werden muss
Ein Abschnitt aus dem IV. Flugblatt deutet ein weiteres Leitmotiv der Bewegung an:
„Überall und zu allen Zeiten haben die Dämonen im Dunkeln gelauert auf die Stunde, da der Mensch schwach wird, da er seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung im ordo eigenmächtig verläßt, da er dem Druck des Bösen nachgibt, sich von den Mächten höherer Ordnung loslöst und so, nachdem er den ersten Schritt freiwillig getan, zum zweiten und dritten und immer mehr getrieben wird mit rasend steigender Geschwindigkeit – überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten. Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst.
Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, daß ein anderer die Waffen erhebt, um Dich zu verteidigen? Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.“
(Hervorhebungen durch den Verfasser)
Am 20. Jahrestag des Todes der Geschwister Scholl fasste der Hamburger Pastor und Theologieprofessor Helmut Thielicke zusammen, worum es der Gruppe letztlich ging: „Die Freiheit, ein Mensch zu sein, das war alles, was sie begehrten – und was sie zu bezahlen bereit waren“ (Hervorhebung im Original).[3] Die Mitglieder der Weißen Rose erkannten, dass der Mensch im Ringen um Wahrheit und Lüge im Dritten Reich in der Gefahr stand, seine von Gott gegebene Freiheit aufzugeben. Sie wurden angetrieben von der Überzeugung, dass Freiheit bedeutete, „den Anruf zu je eigener Entscheidung vernehmen dürfen und von diesem Anruf zum eigenen Wollen und Handeln ermächtigt zu werden“[4]. Freiheit wurde für sie dadurch einerseits zu einer „schwingentragenden Macht, die in offene Bewegungsräume führte“, aber auch zu „einem Gewicht, das geschleppt werden musste“.[5] Hans Scholls Aufruf „Es lebe die Freiheit!“, bevor das Senkbeil fiel, gewinnt vor diesem Hintergrund an Bedeutungsschwere.
„Einer muss doch anfangen“
Wie lässt sich das Erbe der Geschwister Scholl und der Weißen Rose heutzutage einordnen? Die vier aufgezeigten Leitmotive geben erste Hinweise:
Erstens ist festzuhalten, dass Hans und Sophie Scholl sich nicht einfach als Individuen verstanden, die sich selbst verwirklichen wollten, sondern als Teil einer Verantwortungsgemeinschaft. Nur auf dieser Grundlage kann ihr Handeln verstanden werden. Es stellt sich wohl die berechtigte Frage, ob der expressive Individualismus unserer Tage eine solche Triebkraft entfalten könnte.
„Hans und Sophie Scholl verstanden sich nicht einfach als Individuen, die sich selbst verwirklichen wollten, sondern als Teil einer Verantwortungsgemeinschaft.“
Zweitens zeigt sich, dass ihr Engagement nicht primär politisch zu verstehen ist, sondern vor dem Hintergrund ihres Ringens um die Frage, welche Verantwortung der Mensch vor Gott hat. Die Kirche sollte sich deshalb nicht vor Theologie und tiefer liegenden Fragen scheuen. Nur auf diese Weise wird sie Menschen befähigen können, sich dem Bösen entgegenzustellen. Zudem muss sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich heutzutage nicht genau umgekehrt primär von politischen Themen treiben lässt.
Drittens zeigt sich, dass die christliche Weltanschauung die Triebfeder war und der persönliche Glaube die Tragkraft bot für den Widerstand der Weißen Rose. Es erstaunt vor diesem Hintergrund, wenn beim Gedenken an den Widerstand der Weißen Rose gerne unter den Tisch fällt, dass ihre Aktionen stark im christlichen Glauben verwurzelt waren. Damit verdeckt man ein wichtiges Leitmotiv der Widerstandsgruppe.
Zuletzt zeigt sich, wie der christliche Glaube in der Tat sichtbar werden kann. Die Überzeugung, dass eine höhere Gerechtigkeit maßgebend für die Bewertung diesseitiger Entwicklungen ist, muss nicht zwingend dazu führen, erlittenes Unrecht direkt zu bekämpfen. Wenn eine fundamentale, allein Gott zustehende Autorität okkupiert wird, stellt sich aber die Frage, ob der Aufschrei eines an der Offenbarung Gottes geeichten Gewissens nicht auch unter Opferbereitschaft hörbar gemacht werden muss. Dies war für die Geschwister Scholl der Auslöser für ihr Handeln. Für Sophie Scholl war es im Sommer 1942 der Grund, sich ihrem Bruder und der Weißen Rose anzuschließen, als sie für ihr Biologiestudium nach München kam. „Einer muss doch anfangen“, waren Worte Sophie Scholls bei der Vernehmung. Für Christen heute stellt sich die Frage, ob wir bereit wären, einen Preis für die Freiheit zu bezahlen, die es uns ermöglicht, im Gehorsam vor Gott und in der Nachfolge Christi zu leben?
Der 80. Todestag von Hans und Sophie Scholl dient uns als mahnende Erinnerung, unsere Verantwortung vor Gott wahrzunehmen.
[1] Barbara Beuys, Sophie Scholl Biographie, Carl Hanser 2010/2012, S. 267–268.
[2] Hartnagel, Thomas (Hrsg.). Sophie Scholl. Fritz Hartnagel. Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937–1943. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag. 2005 (2. Aufl), S. 467.
[3] Helmut Thielicke, Von der Freiheit ein Mensch zu sein, Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag, 1963, S. 6.
[4] Ebd., S. 16f.
[5] Ebd.