Der Götze der offengehaltenen Optionen

Artikel von Samuel Stolz
24. Februar 2023 — 10 Min Lesedauer

„P&C ist in der 1. Etage, Vero Moda liegt links neben dem Nike-Store, ganz oben findet man noch einen kleinen H&M, und dann gibt es hier noch zwanzig weitere Klamottenläden“, fasste ich den Lageplan eines mittelgroßen Einkaufszentrums in München zusammen. Ein Ehepaar auf der Suche nach einem Oberteil für sie und einer Hose für ihn. Da standen wir nun. Viele Optionen und keinen Schimmer, wo wir starten sollten.

Ganz so dramatisch war es nicht, aber etwas wurde mir deutlich: Eine Hose zu kaufen, verlangt nach vielen Entscheidungen. Es beginnt mit der Wahl des Einkaufszentrums – oder sollte ich doch lieber online schauen? Weiter geht es mit der Auswahl des hoffentlich richtigen Ladens, was dann in die Durchsicht von Größen-, Farb- und Formkollektionen mündet, die mir meine Frau nacheinander in die Umkleidekabine hievt.

Zu viele Optionen?

Es gibt viele Möglichkeiten, falsche Entscheidungen zu treffen. Bei einer Hose geht man dabei ein eher geringes Risiko ein. Immerhin kann man sie noch zurückgeben, solange man an den Kassenzettel denkt. Es gibt jedoch auch andere Wahlmöglichkeiten im Leben – gewichtigere, weitreichendere, lebensverändernde Entscheidungen. Die Wahl eines Ehepartners gehört dazu. Auch die Entscheidung für oder gegen einen Job oder ein Studium. Der Entschluss, wo ich wohne und in welcher Gemeinde ich diene.

Viele dieser Optionen werden uns im Jugendalter eröffnet. Jugendliche müssen sich mit Entscheidungen auseinandersetzen, die ihr ganzes Leben verändern. Oft fällt es diesen jungen Männern und Frauen jedoch schwer, sich festzulegen. Eine fehlende Verbindlichkeit, der häufige Wechsel von Studiengängen und Beziehungen und eine größere Angst vor Entscheidungen sind wahrzunehmen. Woran liegt das?

„Viele Optionen sind jedoch nicht allein schuld an der Entscheidungsunfähigkeit unserer Jugend. Wie so oft liegt das Hauptproblem in unseren Herzen.“
 

Einerseits hängt es mit der Zunahme potentieller Optionen zusammen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen laufen in dieselbe Richtung. Eine übergroße Auswahl an Möglichkeiten (es gibt in Deutschland mittlerweile über 20.000 Studiengänge), die Vernetzung mit Menschen aus der ganzen Welt („Wer davon soll denn jetzt mein Ehepartner werden, Gott?“) und dank BAföG die Möglichkeit zum Studium für fast jeden in ganz Deutschland sind nur einige davon.

Viele Optionen sind jedoch nicht allein schuld an der Entscheidungsunfähigkeit unserer Jugend. Wie so oft liegt das Hauptproblem in unseren Herzen. Wer keine Entscheidungen treffen kann oder dauernd zwischen getroffenen Entscheidungen wechselt, hat in erster Linie ein Anbetungsproblem: Er betet den „Götzen der offengehaltenen Optionen“ an, wie es ein Artikel von Barry Cooper nahelegt, auf den einige Gedanken meines Artikels zurückzuführen sind.

Das Problem liegt tief

Das Volk Israel hatte das gleiche Problem. Nach über drei Jahren ohne Regen standen sie auf dem Berg Karmel vor der Entscheidung: Sollen wir Gott oder dem Götzen Baal dienen? Der Prophet Elia legte ihnen diese Frage vor. Ihre Antwort spiegelt wider, was viele Jugendliche tagtäglich praktizieren: „Und das Volk erwiderte ihm kein Wort“ (1Kön 18,21b). Auf Elias Aufruf entgegnete Israel mit einem bedeutungsvollen Schweigen: „Gott oder Baal? Warum sollten wir uns festlegen? Wir halten uns lieber bedeckt und schauen, was die beste Option ist.“

Auch wenn diese Begebenheit schon fast 3.000 Jahre zurückliegt, kennen wir das Herzensproblem der Israeliten auch heute. Wir müssen nur in unsere eigenen Herzen und in die unserer Jugendlichen schauen: Anstatt uns festzulegen, erliegen wir der Annahme, durch eine nicht getroffene Entscheidung eine bessere Wahl getroffen zu haben. Dabei ist eine nicht getroffene Entscheidung auch eine Entscheidung.

Freiheit um jeden Preis

Wir werden dabei von dem Wunsch nach Freiheit getrieben. Wir meinen, wahre Freiheit würde darin liegen, alle Optionen zur Verfügung zu haben. „Vielleicht kommt noch was Besseres“ wird zum Lebensmotto. Eine kurzfristige Einladung zu einem cooleren Abendevent, eine passendere Partnerin oder ein noch besser bezahlter Job könnten jeden Moment am Horizont auftauchen.

Der Gedanke, sich durch getroffene Entscheidungen zu binden und damit „das Beste zu verpassen“, ist für viele Jugendliche unerträglich. So kommt es, dass man mit mehreren potentiellen Partnern gleichzeitig schreibt, dass man erst 20 Minuten vor dem Jugendgottesdienst entscheidet, ob man hingeht oder nicht, und dass man mit 23 Jahren immer noch keinen Plan hat, was man mit seinem Leben anstellen soll. Wir sehen oft nicht, dass dem Götzen der offengehaltenen Optionen dabei viele Opfer dargebracht werden: unsere Verbindlichkeit, unsere Zugehörigkeit und ein geordnetes Leben zur Ehre Gottes.

Wir stehen vor einer Wahl

Was ist wahre Freiheit? Offensichtlich ist sie nicht in der allgegenwärtigen Unverbindlichkeit zu finden. Gott muss unseren falschen Gott demaskieren und uns zeigen, dass es wahre Freiheit nur bei ihm gibt. Diese beiden Schritte – das Aufzeigen der Machtlosigkeit des Götzen und den Erweis seiner Macht – wandte er auch beim Volk Israel an: Zuerst lässt er sie erkennen, wie falsch ihr Götze ist: Die Baalspriester tanzen sich in Trance und ritzen sich blutig, doch Baal gibt keinen Laut von sich. Er kann und wird Israel nicht die Hilfe bringen, die sie sich von ihm erhofft haben.

Gott belässt es jedoch nicht bei diesem traurigen Spektakel. Er stellt seine eigene Macht der Machtlosigkeit Baals gegenüber, indem er ein großes Wunder tut. Das ist der zweite Schritt: Er lässt das Volk erkennen, dass nur er allein der wahre Gott ist.

„Wir sehen oft nicht, dass dem Götzen der offengehaltenen Optionen viele Opfer dargebracht werden: unsere Verbindlichkeit, unsere Zugehörigkeit und ein geordnetes Leben zur Ehre Gottes.“
 

Auch wir brauchen diese beiden Schritte. Zuerst müssen wir den Götzen der offengehaltenen Optionen und seine Machtlosigkeit erkennen. Das lächelnde und „Freiheit“ rufende Gesicht ist nur eine Maske vor einem hässlichen Nichts der Freiheitsberaubung. Wir werden nicht freier, sondern durch unser Offenhalten der Optionen gebunden. Anstatt gute und weise Entscheidungen zu treffen, unser Leben in Gottes Ordnungen zu leben und dadurch Freiheit zu erfahren, enthalten wir uns und verpassen viele gute Möglichkeiten, geistlich heranzuwachsen.

Im zweiten Schritt müssen wir Gottes Definition von Freiheit verstehen. Denn wahre Freiheit beschreibt Jesus als das von ihm abhängige Leben in der Gegenwart Gottes (vgl. Joh 8,31ff.). Nicht das Offenhalten aller Optionen ist Freiheit, sondern das tägliche Wandeln vor Gott selbst. Gottes Gebote zu befolgen, bringt wahre Freiheit. Ein Leben zu leben, das Gott ehrt, wird der Bestimmung unserer Erschaffung gerecht. Wer Jesus hat, hat wahre Freiheit gefunden.

Wenn das Gute zu viel wird

„Dieses Oberteil ist gut, aber vielleicht gibt es noch ein schöneres?“ – Diese Frage meiner Frau kann bei mir verschiedene Reaktionen hervorrufen. Wenn wir erst fünf Minuten im Laden sind, werde ich nett lächeln und bereitwillig ins nächste Geschäft folgen. Stellt sie dieselbe Frage aber nach zweieinhalb Stunden, werde ich ihr mit ziemlicher Sicherheit dringend zu dem gerade anprobierten Teil raten.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Sich verschiedene Optionen anzuschauen und insbesondere große Entscheidungen abzuwägen und gut zu durchdenken, ist gut und weise. Wer nach einer dreitägigen Kennenlernphase heiratet, kann höchstwahrscheinlich mit bösen Überraschungen in der Ehe rechnen. Weise zu entscheiden, benötigt oft ein gewisses Maß an Optionen, Zeit und guten Ratgebern.

Es kann jedoch auch hier ein „zu viel des Guten“ geben – wie bei allen Dingen. Einen Partner gut kennenzulernen kann innerhalb einiger Monate oder spätestens weniger Jahre gelingen. Ein Jobangebot zu prüfen, benötigt keine 37 weiteren Angebote. Auch die Wahl der Gemeinde sollte sich nicht über Jahre hinziehen.

Unsere von Gott anvertrauten Jugendlichen sollten diese Lektion auf ihrem Weg ins Erwachsensein lernen. Absolute Sicherheit wird nicht im Götzen der offengehaltenen Optionen gefunden, ebenso wenig wie letztendliche Freiheit. Diese Sicherheit finden wir auch nur bei unserem Gott. Seine Souveränität ist unser Ruhekissen!

Das falsch verstandene Ziel

Was ist das Beste für unser Leben? Oft kommt uns das Bild eines „gutbürgerlich-christlichen Lebens“ in den Sinn: Das Beste zu erreichen ist gleichbedeutend mit einem Ehepartner, der mich perfekt ergänzt; mit einem Job, der meiner Ausbildung und Vorstellung entspricht, und einer Gemeinde, die theologisch und gemeinschaftlich (und musikalisch und vom Predigtstil und der Kinderarbeit her und und und …) meinen Kriterien entspricht. Dabei vergessen wir aber etwas: Gottes Definition vom Besten für unser Leben sieht anders aus.

Gott hat uns als seine Kinder in erster Linie dazu berufen, heilig zu leben. Wir sollen in den Werken wandeln, die er zuvor bereitet hat. Sein Wille für unser Leben ist unsere Heiligung (vgl. 1Thess 4,3). Das kann natürlich bedeuten, dass wir im eben beschriebenen Lebensstil in dieser Heiligung wachsen, aber das muss es nicht! Im Gegenteil: Paulus erklärt den Christen in Rom, dass wir durch Leiden zur Herrlichkeit eingehen (vgl. Röm 8,17).

Gerade hier sollten wir als Gesamtgemeinde aufpassen, keine falschen Bilder zu vermitteln (oder ihnen sogar selbst zu folgen). Es kann schnell passieren, dass wir dem Götzen der offengehaltenen Optionen folgen, weil wir zuerst dem Götzen des „hürdenlosen Lebens“ aufgesessen sind. Wir verehren das Leben ohne Leid und Probleme mehr als ein geheiligtes Leben. Dann wird es kein Wunder sein, dass unsere Jugendlichen sich danach sehnen, möglichst solch ein glatt gebügeltes Leben zu erhalten. Das ist hingegen nicht Gottes Plan und oberstes Ziel mit uns.

„Gott verwirklicht auch durch unsere unvollkommenen Entscheidungen sein Bestes mit uns. Es geht nicht um die perfekte Entscheidung, sondern um den perfekten Gott.“
 

Schauen wir uns das Leben von Paulus und anderen Männern und Frauen aus der Kirchengeschichte an, dann merken wir schnell: Gott hat viel mehr Mittel und Wege, um uns sein Bestes zu geben. Er benutzt Dinge, die für uns nicht immer angenehm sind. Geheiligt zu werden, wird mit Schwierigkeiten verbunden sein, mit holprigen Wegen und Ergebnissen, die man selbst mit der besten Planung seines Lebens nicht vorhersehen kann.

Gott verwirklicht auch durch unsere unvollkommenen Entscheidungen sein Bestes mit uns. Das darf uns im Meer der Optionen beruhigen: Es geht nicht um die perfekte Entscheidung, sondern um den perfekten Gott. Er benutzt meine unperfekten Entschlüsse zu meinem Besten. Im Vertrauen auf seine Souveränität können wir (nach einer angemessenen Abwägung) mündige Entscheidungen treffen.

Der Blick auf Gott

Vielleicht erkennen wir unseren Götzen der offengehaltenen Optionen an. Vielleicht gehen wir sogar gegen ihn vor und wollen Entscheidungen treffen, die Gott ehren. Trotzdem kann uns die Angst lähmen. Gerade hier hilft uns der Blick auf Gott, unsere Wahl im rechten Licht zu sehen. Drei kurze Ermutigungen hierzu:

  1. Als mündige Kinder unseres himmlischen Vaters hat er uns bereits versprochen, uns in Jesus alles zu schenken (vgl. Röm 8,32). Auch eine „falsch“ getroffene Entscheidung dient uns also zum Besten!
  2. Gott hat viel mehr Zeit und Optionen, als wir uns je ausdenken könnten. (Wer hätte beim Kreuz gedacht, dass diese großartigste aller Rettungen dabei herauskommt?)
  3. Gott kommt immer an sein Ziel. Als der souveräne Herrscher hat er bereits in seiner Vorsehung bestimmt, wie diese Erde zu ihrem letzten Ziel kommt – ihrer Erneuerung. Auch dein kleines Leben und das deiner Jugendlichen ist hierbei eingeschlossen!

Wer dem Götzen der offengehaltenen Optionen dient, hat in erster Linie ein Anbetungsproblem. Vermeintliche Freiheit und Sicherheit werden suggeriert, aber Gott zeigt uns, dass wir etwas Besseres brauchen – ihn selbst. Wir dürfen die kleinen und großen Entscheidungen unseres Lebens mutig angehen. Nicht weil wir immer weise entscheiden, sondern weil er uns als guter Vater führt und selbst unsere schlechten Entscheidungen zu seinem und unserem Besten nutzt!