Die Pilgerreise
John Bunyans Die Pilgerreise gehört zu den absoluten Klassikern der christlichen Literatur. Den allermeisten Christen wird zumindest der Titel bekannt sein und viele werden das Buch gelesen haben. Auch in freikirchlich-evangelikalen Kreisen, in denen man Romanen bzw. „imaginativer“ Literatur teilweise eher skeptisch gegenübersteht, wird Bunyans Erzählung als Erbauungsliteratur hochgeschätzt. Angesichts der theologischen Nähe dieses Milieus zum Autor ist diese überaus positive Rezeption nicht wirklich überraschend: Bunyan war Puritaner, ein nonkonformistischer Baptistenprediger, der der etablierten anglikanischen Kirche Englands mit ihrer Liturgie und ihren hierarchischen Strukturen (also den „katholischen Überresten“) kritisch gegenüberstand – kurz: ein Low Church-Protestant durch und durch, dem die Reformation in England nicht weit genug gegangen war.
Für moderne Ohren klingt diese Autorenverortung nicht gerade nach einer Leseempfehlung: Mit der Bezeichnung „Puritaner“ macht man heute niemandem ein Kompliment – man denke nur an den Satiriker und Kulturkritiker H.L. Mencken, der den Puritanismus (sinngemäß) als die quälende Furcht definierte, dass irgendwo irgendwer glücklich sein könnte. Sich von derartigen Vorurteilen von der Lektüre der Pilgerreise abhalten zu lassen, wäre jedoch ein großer Fehler. Zum einen entpuppt sich vieles, das mit dem „Schreckgespenst Puritanismus“ assoziiert wird – von Körper- und Genussfeindlichkeit bis hin zu einer verklemmten Sexualität – tatsächlich als falsches Vor-urteil, das sich, darauf hat z.B. der Kulturwissenschaftler Michael Hochgeschwender hingewiesen, erst im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat; auch die amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson hat das Bild des „düsteren Puritaners“ in einem umfangreichen Essay in der New York Review of Books vor einigen Jahren kritisiert und korrigiert.
„Der Guardian stellte vor ca. zehn Jahren eine Liste der besten 100 englischen Romane auf, in der Bunyans Werk der erste Platz zukommt.“
Zum anderen sollte man Die Pilgerreise schon aufgrund ihrer literaturgeschichtlichen Signifikanz nicht ignorieren: Der Guardian stellte vor ca. zehn Jahren eine Liste der besten 100 englischen Romane auf, in der Bunyans Werk der erste Platz zukommt. Das wohl auch deshalb, weil die 1678 erschienene Pilgerreise das im 18. Jahrhundert entstehende Genre des Romans mit vorbereitet hat: Mit Verweis auf den Literaturtheoretiker Wolfgang Iser erklärt Jörg Lauster in Die Verzauberung der Welt, seiner Kulturgeschichte des Christentums, dass Bunyan den Übergang vom Epos zum Roman einleitete und damit Romane wie Robinson Crusoe ermöglichte. Auch beschränkt sich die Rezeption dieses klar protestantischen Buches keineswegs nur auf Protestanten, wie diese positive Buchbesprechung des Katholiken Paul Krause zeigt.
Auf dem Weg zur himmlischen Stadt
Worum geht es aber konkret? Wie der Titel bereits andeutet, handelt das Buch von einer Pilgerreise, auf der sich der Protagonist namens Christ befindet. Herausgerufen aus der Stadt Verderben, befindet sich Christ auf dem Weg zur himmlischen Stadt. Seine Reise beginnt an der engen Pforte, zu der ihm Evangelist den Weg beschrieben hat und die er nach einigen Schwierigkeiten erreicht. Im weiteren Verlauf erhält er im Haus des Auslegers einige wichtige Unterweisungen und wird anschließend am Fuß des Kreuzes seine schwere Last los. Die weitere Reise ist gekennzeichnet von Kämpfen, Versuchungen und Anfechtungen, aber auch von Ruhephasen, in denen Christ sich erholen und neuen Mut schöpfen kann – was sich abzeichnet, ist das Muster eines christlichen Lebens.
Christ muss den Hügel Beschwerde meistern, darf sich von den Löwen Welt und Teufel nicht vom Weg abbringen lassen, durchwandert das Tal der Demütigung und muss mit dem drachenartigen Unwesen Apollyon kämpfen. Auch das Tal des Todesschattens bleibt ihm nicht erspart, in dem er statt zum Schwert des Geistes zur Waffe des anhaltenden Gebets greifen muss. Auf seiner Reise begegnet Christ jedoch nicht nur Schwierigkeiten: Im Haus Schön erfreut er sich an angenehmer Unterhaltung und nicht alle Wegstrecken sind beschwerlich. Auch wenn Christ zu Beginn seiner Reise allein unterwegs ist, hat er für die meiste Zeit einen Begleiter an seiner Seite: Er trifft zunächst auf Treu, der aufgrund seiner Glaubenstreue auf dem Eitelkeitsmarkt jedoch zum Tod verurteilt wird, und dann auf Hoffnungsvoll, mit dem er weitere Prüfungen besteht und schließlich die Stadt Gottes erreicht.
Bunyan und das christliche Leben
Was Die Pilgerreise so besonders macht, sind Bunyans ausgezeichnete Allegorien. Diese lassen sich sicher, liest man das Buch vor dem Hintergrund der theologischen Debatten des englischen Restaurationszeitalters, historisch deuten. Auch wenn diese Lesart durchaus legitim ist, werden christliche Leser jedoch vor allem sich selbst im Text wiederfinden: Bunyan versteht es meisterhaft, die Schwierigkeiten und Kämpfe, die einem Christen im Glaubenskampf begegnen, zu personifizieren und diese zu einer spannenden (man sollte den Abenteuercharakter des Buches nicht verkennen), herausfordernden, aber auch tröstenden Erzählung zusammenzubringen. Bunyans Sprache ist dabei durchtränkt von biblischen Bezügen; die Art und Weise, wie diese mit der Erzählung verflochten werden, macht das Werk fast schon zu einer systematischen Theologie des christlichen Lebens in narrativer Form – der Theologe J.I. Packer bemerkte einmal, dass ihm niemand erzählen solle, Die Pilgerreise sei kein theologisches Buch, denn genau das sei sie, und ein tiefsinniges und profundes noch dazu.
Wer das Buch noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt einmal nachholen. Als Klassiker gehört Die Pilgerreise zum westlichen Literaturkanon, als theologisches Werk bereichert sie außerdem das persönliche geistliche Leben. Auch als Gemeinschaftslektüre bietet sich das Buch an: Als (christlicher) Leser identifiziert man sich natürlicherweise erst einmal mit dem Protagonisten Christ; liest man das Buch jedoch (in Gemeinschaft) als Anleitung zum christlichen Leben, so wird man merken, dass man sich selbst und seine Brüder und Schwestern auch in anderen Charakteren wiederfindet. Als Christ pilgert man zur himmlischen Stadt, aber gleichzeitig ist man (zu unterschiedlichen Zeiten) auch Evangelist, Ausleger, Treu und Hoffnungsvoll für seine Mitpilger. Es kann aber auch passieren, dass man sich in Schwätzer oder Herrn Geldliebe verwandelt; da braucht es dann die Zurechtweisung anderer treuer Mitpilger. Nur gut, dass man nicht allein unterwegs ist.
J.I. Packer las Die Pilgerreise übrigens jedes Jahr – eine Angewohnheit, mit der man dieses Jahr beginnen könnte.
Buch
John Bunyan, Die Pilgerreise, Witten: SCM R.Brockhaus, 2021, 296 Seiten, ca. 20 EUR.