Gender

Rezension von Emil Grundmann
7. Februar 2023 — 12 Min Lesedauer

„Gender“ – ein Wort wie eine hochexplosive Mine, und zwar eine von jener Art, auf die man immer wieder tritt – in persönlichen Gesprächen, in den Sozialen Medien und nicht zuletzt auch im gesellschaftlichen Diskurs. Dass diese Mine schnell explodieren kann, hat die jüngste Debatte um die „One-Love-Binde“ bei der Fußballweltmeisterschaft gezeigt. Angesichts der mangelnden Akzeptanz der LGBTQ-Community in Katar wollten einige westliche Nationalmannschaften damit ein Zeichen für Diversität setzen. Einen Tag vor dem Eröffnungsspiel drohte die FIFA mit Sanktionen, woraufhin kein Team mit der Binde auflief.

Kein Garten, sondern vermintes Gelände

Prof. Dr. Christoph Raedel, Dozent an der FTH in Gießen, wagt mit seinem Buch, sich dieser Mine zu nähern. Schon am Anfang formuliert er die Herausforderung bei diesem Thema:

„Die geschlechtertheoretische Diskussion ist kein Garten, der mit übersichtlich angelegten Wegen zum Spaziergehen einlädt. Eher gleicht sie einem Labyrinth, in dem sich zurechtzufinden eine echte Leistung ist. Mehr noch: Dieses Labyrinth ist vermintes Gelände, politisch aufgeladen, ideologisch umkämpft.“ (S. 5)

Gerade weil man unvermeidbar und oft unfreiwillig in diese Diskussion gezogen wird, will Raedel mit seinem Buch dabei unterstützen, sprachfähig zu werden. Es ist eine Diskussion, der sich niemand – auch Christen nicht – entziehen kann. Bildlich gesprochen ist Raedels Anliegen, seinen Lesern eine Karte in die Hände zu drücken, mit der sie sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden, ohne dabei auf jede einzelne Mine zu treten.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil „Von Geschlechtertheorien und Gleichstellungspolitik“ zeichnet Raedel die ideengeschichtlichen und historischen Linien nach, die zum heutigen politischen Gender-Mainstreaming (GM) geführt haben. Im zweiten Teil „Menschen in Beziehungen – Vor Gott leben, Gemeinschaft gestalten“ bewertet er es ethisch-theologisch und gibt praktische Hilfestellungen im Umgang damit.

Teil 1: Von Geschlechtertheorien und Gleichstellungspolitik

Zunächst skizziert Raedel im ersten Kapitel die Bedingungen, die zur Frauenrechtsbewegung im 19. Jahrhundert führten, und wie sich aus dem Anliegen der Gleichberechtigung beider Geschlechter drei Ansätze herausbildeten, die sich bisweilen widersprechen: Der Differenzfeminismus war „ein Gegenentwurf zur kapitalistisch funktionierenden Gesellschaft“ (S. 13). Weiblichkeit wurde betont und man wollte auf die Bedürfnisse der Frauen eingehen. In den 1970er-Jahren löste der Gleichheitsfeminismus diese Vorstellung ab. Die französische Begründerin Simone de Beauvoir und die deutsche Feministin Alice Schwarzer stellten Geschlechterrollen grundsätzlich infrage, sodass spezifische Bedürfnisse von Frauen kein Gewicht mehr haben sollten. Der Gender-Konstruktivismus spitzt das Ganze noch zu, indem er nicht nur Geschlechterrollen infrage stellt, sondern gar die Vorstellung einer Zweigeschlechtlichkeit. Das Fundament dafür legte Simone de Beauvoir, die sex (das biologische Geschlecht) von gender (dem sozialen Geschlecht) unterschied. Darauf aufbauend, sah Judith Butler nicht nur die Geschlechtsidentität (gender) als sozial konstruiert, sondern schon den Geschlechtskörper (sex). Für sie erschafft die Sprache eine Zweigeschlechtlichkeit.

„Die französische Begründerin Simone de Beauvoir und die deutsche Feministin Alice Schwarzer stellten Geschlechterrollen grundsätzlich infrage, sodass spezifische Bedürfnisse von Frauen kein Gewicht mehr haben sollten.“
 

Darauf folgt im Kapitel „Gender-Mainstreaming“ die Erklärung, wie es vom Anliegen der Gleichberechtigung zur Gleichstellung der Geschlechter kam. Was anfangs zunächst nur geschlechterwissenschaftliche Ansätze innerhalb der feministischen Bewegung waren, legte schließlich die Grundlage für drei unterschiedliche geschlechterpolitische Ansätze: (a) Gleichberechtigung, (b) Gleichstellung und (c) Gleichbehandlung. Der eigentliche Durchbruch von GM kam erst 1995 bei der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking. Raedel beobachtet, dass das Ziel von GM ist, die „Erwerbstätigkeit beider Elternteile zu ermöglichen“, wobei „die Bedürfnisse von Kindern … nicht ansatzweise in den Blick“ genommen werden (S. 35). Nach Peking folgten viele Top-Down-Entscheidungen, dieses Anliegen auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen.

Seit den 1990er-Jahren hat sich GM mit dem Anliegen des Gender-Konstruktivismus radikalisiert. Die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten bleibt keine Theorie, sondern wird mit Bezug auf Menschenrechte gesellschaftlich eingefordert. Neben der Instrumentalisierung der Menschenrechtsidee für die Gleichstellung aller sexuellen Geschlechtsidentitäten werden auch Schlagworte wie „Antidiskriminierung“ und „Toleranz und Akzeptanz“ ins Feld geführt.

„In keinem anderen Bereich konnte sich Gender-Mainstreaming so stark durchsetzen wie im Bildungsbereich.“
 

Für Raedel ergeben sich mehrere Konfliktfelder im gesellschaftlichen Miteinander, in denen GM bereits für viel Aufsehen gesorgt hat. Im schulischen Kontext sorgt insbesondere die Sexualpädagogik für Konflikte, weil LGBTQ-Gruppen dort zunehmend großen Einfluss gewinnen. Der Fokus liegt dabei auf einem (experimentellen) Aufweichen der traditionellen Grenzen. Hierbei stehe das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, das diese Gruppen häufig als Legitimation für ihre Aufklärungsarbeit anführen, in Gefahr, da Kinder sich dem Unterricht nicht entziehen können. In keinem anderen Bereich konnte sich GM so stark durchsetzen wie im Bildungsbereich. Dass Forschungs- und Lehrfreiheit zugunsten der Genderforschung und des vermeintlichen Schutzes von Minderheiten aufgegeben wurden, sieht man etwa daran, dass die Genderforschung Deutungshoheit über naturwissenschaftliche Theorien bekommen hat. Beim Konfliktfeld Sprache ist bedenklich, dass der Versuch, eine gendergerechte Sprache durchzusetzen, den Bezug zur Realität verloren hat. Das sieht man an der Umdeutung und Politisierung von Schlagbegriffen wie „Menschenrechte“ und „Toleranz“, aber auch an „der Fehlannahme …, dass es eine notwendige Übereinstimmung zwischen dem natürlichen bzw. biologischen und dem grammatikalischen Geschlecht gebe“ (S. 131).

Teil 2: Menschen in Beziehungen – Vor Gott leben, Gemeinschaft gestalten

Im zweiten Teil des Buches beginnt Raedel, Gender-Mainstreaming aus christlicher Perspektive einzuordnen. Dabei stellt er in seinem sechsten Kapitel „In Beziehungen leben“ die grundsätzliche Überzeugung voran, die er so zusammenfasst:

„Wer den Menschen verstehen will, der muss daher nach den Beziehungen fragen, in die menschliches Leben immer schon hineingestellt ist: als verdanktes Leben ist es auf Gott, den Schöpfer, bezogen, als geborenes Leben auf die Eltern, als durch den Geist Christi neugeborenes Leben auf den Leib Christi, und als leibliches Leben auf die Formen der Gemeinschaft, unter denen Ehe und Familie besonders herausragen.“ (S. 152)

Nach christlicher Überzeugung ist der menschliche Körper eine „Vor-Gabe“ vom Schöpfer für die Bestimmung seines Lebens. Der Körper ist deswegen nicht nur die Hülle der menschlichen Seele, sondern Teil seines von Gott gegebenen Menschseins, und zwar in seiner Polarität von Mann und Frau. Da der Sündenfall nicht spurlos daran vorbeigegangen ist, sind auch „Sinne und Triebe“ davon betroffen. Das bedeutet: „In der Bibel wird keine sexuelle Empfindung, die nicht in der Verheißung des ganzheitlichen Einswerdens von Mann und Frau verankert ist, zur ‚Norm‘-Variante erklärt“ (S. 146).

„Der Körper ist nicht nur die Hülle der menschlichen Seele, sondern Teil seines von Gott gegebenen Menschseins, und zwar in seiner Polarität von Mann und Frau.“
 

Ein Graben liegt zwischen der Gegebenheit, dass wir auf Beziehungen angelegt sind, und der Tatsache, dass wir gleichzeitig das Verlangen nach Selbstbestimmung haben. Raedel unterscheidet hier zwischen der „allgemeinen Bestimmung des Menschen“, der „spezifischen Bestimmung von Mann und Frau“ und der „individuellen Bestimmung des Einzelnen“ (S. 155). Dabei ist die „biologische Konstitution“ eine Art Angebot. Es geht also nicht darum, scharfe Stereotypen auszuleben, sondern oft beschreiben diese Klischees schlichtweg, was Männern oder Frauen statistisch gesehen leichter fällt. Es gibt also eine von Gott gegebene Polarität, die biologisch vom Schöpfer gegeben ist und angenommen werden soll, die sich aber nicht in krasse Rollenmuster pressen lässt, sondern individuell gelebt werden muss. Auch wenn die Idee der „Hausfrauenehe“ sich theologisch-ethisch nicht verteidigen lässt, so gibt es doch sozialethisch gute Gründe, auf Erwerbstätigkeit gerade in der frühkindlichen Phase zu verzichten oder diese zu reduzieren. Statt GM, das unvermeidlich zu einem unschönen Kampf der Geschlechter führt, sollte eine Gesellschaft auf „Familien-Mainstreaming“ setzen.

Kapitel 8 wirft Licht auf die Frage, was Frauen und Männer sich jeweils wünschen und welche Bedürfnisse Kinder haben. Oft geht es in der Gender-Debatte nur um einzelne Akteure, statt das Zueinander in den Blick zu nehmen. Durch das mantraartige Ziel der Vollerwerbstätigkeit von Mann und Frau bringt man Ehepartner in eine Konkurrenzstellung darüber, wer mehr wegzustecken hat, um für die Kinder da zu sein. Da dies häufig sowohl dem Wunsch als auch der Realität widerspricht, sollte man Familien mehr Entscheidungsfreiraum lassen, in welchem Maß sie arbeiten wollen und wie sie die Bedürfnisse der Kinder priorisieren können.

Der radikale GM in Form des Geschlechterkonstruktivismus scheint konsequent zu sein, wenn das Ziel ist, alle Unterschiede zwischen Mann und Frau aufzulösen. Das Problem dabei ist, dass es keine Grundlage dafür in naturwissenschaftlicher Forschung gibt und es trotzdem ohne Widerstand a priori angenommen werden soll. Raedel sieht dabei folgendes Problem:

„Die Gabe der Sexualität … wird damit ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entzogen und ganz auf die sexuelle Selbstverwirklichung hin ausgerichtet. … Die Sexualpädagogik zersetzt damit das Bindegewebe der Gesellschaft, weil sie den Begriff der Freiheit überdehnt und den der Gleichheit seines Sinns beraubt, wenn wesentlich Ungleiches nicht länger ungleich behandelt werden darf.“ (S. 202)

In seinem abschließenden Kapitel stellt Raedel Frage: „Was können wir tun?“ Vor dem Hintergrund einer spannungsgeladenen, oft von Hass gezeichneten Grundstimmung, ist es für Christen wichtig, selbst feindlich gesinnte Menschen als Geschöpfe Gottes zu behandeln und einen gewinnenden Gesprächston zu wählen. Er nennt dies „einladende Apologetik“ und gibt am Ende Hilfestellung, wie diese in verschiedenen Bereiche aussehen kann.

Warum solltest du das Buch unbedingt lesen?

Ich muss zugeben, dass mein Vorhaben, das Buch an einem gemütlichen Winterabend im Sessel durchzulesen, gescheitert ist. Dafür ist das Buch zu anspruchsvoll, und doch hat sich das Durcharbeiten mehr als gelohnt. Ich möchte einige Gründe dafür nennen.

1. Das Thema ist aktueller als je zuvor (und wir brauchen Orientierung)

Mittlerweile ist das Buch schon in seiner dritten Auflage erschienen. Die Unterschiede der Auflagen halten sich in Grenzen. Raedel hat hauptsächlich das Kapitel zu Transsexualität und Transgender überarbeitet, wie er in seinem Vorwort erklärt, da sich hier „dramatischste Entwicklungen … vollzogen haben“ (S. IX-X), was ihn zunehmend besorgt. Es ist nicht nur ein Randthema, das Studenten an der Uni angeht, die sich mit Genderstudien beschäftigen, sondern es begegnet uns überall, da es ein flächendeckendes Anliegen ist. Sowohl gesellschaftlich als auch persönlich kann man sich diesem Thema nicht entziehen. Raedels Buch hilft, grundlegende Begriffe und Konzepte zu verstehen, um sie dann einordnen und Antworten von der Bibel her finden zu können.

2. Es ist auf Deutsch geschrieben (und hilft den deutschen Kontext zu verstehen)

In den vergangenen Jahren sind viele evangelikale Bücher im angelsächsischen Raum zu dem Themenkomplex erschienen. Einiges davon wurde dankenswerterweise bereits ins Deutsche übersetzt, wie das hervorragende Buch Der Siegeszug des modernen Selbst von Carl Trueman. Mir ist jedoch kein Buch bekannt, das auf Deutsch geschrieben wurde und den deutschen Kontext so gründlich beleuchtet wie Gender. Es hilft Christen in Deutschland, gesellschaftliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft aus der Perspektive eines deutschen Theologen einordnen zu können. Hinzu kommt, dass Raedel einen tollen Schreibstil hat, mit einer guten Mischung aus einprägsamen Bildern und klaren Argumentationslinien.

3. Es ist scharfsinnig (und zeigt, wie brüchig Gender-Mainstreaming ist)

Raedel gelingt es in seinem ersten Teil, zunächst verschiedene Positionen und Entwicklungen darzustellen, ohne sie zu schnell bewerten zu müssen. Man könnte meinen, dass er lange darauf wartet, eine christliche Antwort zu geben (erst auf Seite 137!). Genau darin liegt die Stärke seines Buches.

Er stellt zunächst Entwicklungen, Argumentationsketten und Weltbilder dar, sodass Unstimmigkeiten, Widersprüche und Einseitigkeiten fast von allein sichtbar werden – so wie etwa der Widerspruch zwischen Frauenquoten einerseits und Bildungsplänen, die unzählige Geschlechter lehren, andererseits. In Kapitel 4 argumentiert er beispielsweise, dass aktuelle Entwicklungen von GM letztlich entgegen dem ursprünglichen Anliegen der Gleichberechtigung von Frauen und Männern stehen. Die meisten dieser Bemühung schaden den Frauen sogar. Hierzu nennt er drei Gründe:

  1. Studien zeigen, dass „die Lebensqualität der Betroffenen nach dem Geschlechtswechsel sich weiter verschlechtert, weil die dem Unbehagen am eigenen Geschlecht zugrunde liegenden Probleme nicht angegangen wurden.“ (S. 103)
  2. Das Ziel von mehr Gerechtigkeit für Frauen kann damit nicht erreicht werden.
  3. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit werden Transmenschen vor hormonellen oder operativen Eingriffen nicht genug über die Folgen informiert. Des Weiteren sei der lukrative Markt für medizinische Leistungen nicht zu unterschätzen.

4. Es ist apologetisch (und ein guter Start für das Evangelium)

Gerade aufgrund des ersten Teils, in dem der Autor die philosophischen, gesellschaftlichen und politischen (geschichtlichen) Hintergründe von GM so nüchtern wie nur möglich nachzeichnet, eignet sich das Buch auch hervorragend für nichtchristliche Leser. Wahrscheinlich findet das Buch unter Nichtchristen keine breite Leserschaft. Hoffentlich gelangt es aber indirekt zu Arbeitskollegen, Studienkollegen oder Nachbarn, und zwar durch Christen, die die Inhalte des Buches verinnerlichen und deswegen in der Lage sind, in schwierigen Gesprächen zu zeigen, wie brüchig GM ist. Das Buch hilft ihnen, biblische Antworten zu geben und dann die gute Botschaft von Jesus weiterzugeben.

5. Es ist praktisch (und zeigt dir, was du tun kannst)

Es wäre wohl übertrieben zu behaupten, dass dies ein sehr praktisches Buch sei. Das Attribut passt trotzdem, und zwar nicht nur, weil es die Theorie zu einem aktuell wichtigen Thema liefert, sondern weil es gute apologetische Ansätze gibt. Vor allem im letzten Kapitel liefert das Buch praktische Hilfestellungen dazu, was jeder Christ in unterschiedlichen Bereichen tun kann: im gesellschaftlichen und öffentlichen Raum, im familiären und persönlichen Umfeld, in der Arbeitswelt, Schule und Ausbildung, im akademischen Bereich und in Kirchen und Gemeinden. Wenn du dich fragst: „Was kann ich tun?“, dann lohnt sich das Buch schon allein für das letzte Kapitel. Außerdem enthält die neueste Auflage am Ende jedes Kapitels Fragen zur Gruppendiskussion, um es in der Praxis zu vertiefen.

Kurz gesagt: Das Buch ist absolut lesenswert. Es wird dir helfen, dich sicher und mutig in einem „verminten Gelände“ zu bewegen.

Buch

Christoph Raedel, Gender. Von Gender-Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, Gießen: Brunnen, 3., erneut überarbeitete Auflage 2022, 258 Seiten, 20 Euro.