Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens

Was verstehen wir darunter?

Artikel von R.C. Sproul
31. Januar 2023 — 9 Min Lesedauer

Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ist bereits in der Schöpfung verwurzelt und gegründet. Die Menschheit wird in der Bibel nicht als kosmischer Zufall angesehen, sondern als Ergebnis einer sorgfältig ausgeführten Schöpfung durch einen ewigen Gott. Die Menschenwürde ist von Gott abgeleitet. Dem Menschen als begrenztem, abhängigem, der Ungewissheit ausgeliefertem Wesen wird durch seinen Schöpfer ein hoher Wert beigemessen.

In der Schöpfung begründet

Der Schöpfungsbericht aus 1. Mose liefert den Rahmen für Menschenwürde:

„Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde, auch über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht! Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.“ (1Mose 1,26–27)

Die Erschaffung im Ebenbild Gottes ist das, was die Menschen von allen anderen Geschöpfen unterscheidet. Der Abglanz des Ebenbildes Gottes und der Ähnlichkeit zu seinem Schöpfer verbindet Gott und die Menschheit auf einzigartige Weise. Obwohl es biblisch nicht zu rechtfertigen ist, den Menschen als Gott gleich zu betrachten, ist mit seiner einzigartigen Beziehung zum Schöpfer eine hohe Würde verbunden.

„Der Abglanz des Ebenbildes Gottes und der Ähnlichkeit zu seinem Schöpfer verbindet Gott und die Menschheit auf einzigartige Weise.“
 

Der Mensch mag nicht mehr schuldlos sein, aber er ist immer noch Mensch – und insofern wir Menschen sind, tragen wir im weiteren Sinn immer noch das Ebenbild Gottes. Wir sind immer noch wertvolle Geschöpfe. Wir sind vielleicht nicht mehr würdig, aber wir haben immer noch einen Wert. Das ist die überwältigende biblische Botschaft der Erlösung. Die Geschöpfe, die Gott erschaffen hat, sind dieselben Geschöpfe, zu deren Erlösung er sich auf den Weg macht.

Im Alten Testament wiederholt

Viele Aussagen im Alten Testament sprechen von der Würde des menschlichen Lebens, die in der Schöpfung durch Gott begründet ist. Dazu gehören folgende:

„Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen erhält mich am Leben.“ (Hiob 33,4)
„Erkennt, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst, zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.“ (Ps 100,3)
„Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht wohl der Ton zu seinem Töpfer: ‚Was machst du?‘ – oder dein Werk: ‚Er hat keine Hände‘? Wehe dem, der zum Vater spricht: ‚Warum zeugst du?‘ und zur Frau: ‚Warum gebierst du?‘ So spricht der HERR, der Heilige Israels und sein Schöpfer: Wegen der Zukunft befragt mich; meine Kinder und das Werk meiner Hände laßt mir anbefohlen sein! Ich habe die Erde gemacht und den Menschen darauf erschaffen; ich habe mit meinen Händen die Himmel ausgespannt und gebiete all ihrem Heer.“ (Jes 45,9–12)
„Nun aber bist du, HERR, unser Vater; wir sind der Ton, und du bist unser Töpfer; wir alle sind das Werk deiner Hände.“ (Jes 64,7)

Von Jesus bestätigt

Interessanterweise lieferte Jesus Christus die wichtigste Erklärung zur Sichtweise des Alten Testaments über die Unantastbarkeit des Lebens:

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht töten!‘, wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder ohne Ursache zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka!, der wird dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber sagt: Du Narr!, der wird dem höllischen Feuer verfallen sein.“ (Mt 5,21–22)

Die Worte Jesu haben eine überaus große Bedeutung für unser Verständnis der Unantastbarkeit des Lebens. Hier weitet Jesus die Implikationen des alttestamentlichen Gesetzes aus. Er sprach zu religiösen Anführern, welche die Zehn Gebote eng und stark vereinfachend auffassten. Gesetzliche Menschen seiner Zeit waren zuversichtlich, dass sie, wenn sie den explizit angesprochenen Aspekten des Gesetzes gehorchen würden, sich selbst wegen ihrer großen Tugend auf die Schulter klopfen könnten. Sie verstanden die weiteren Zusammenhänge jedoch nicht. Aus Jesu Sicht war selbst das, was das Gesetz nicht ausdrücklich nannte, dennoch klar impliziert.

Diese Eigenschaft des Gesetzes sieht man in Jesu Ausweitung des Verbots des Ehebruchs:

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen!‘ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, um sie zu begehren, der hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 5,27–28)

Hier erklärte Jesus, dass ein Mensch, der vor dem physischen Akt des Ehebruchs zurückschreckt, nicht unbedingt dem ganzen Gebot gehorsam ist. Das Verbot des Ehebruchs ist komplex und umfasst nicht nur den tatsächlichen unrechtmäßigen Geschlechtsverkehr, sondern auch alles zwischen Begierde und Ehebruch. Jesus beschreibt Begierde als Ehebruch im Herzen.

Das Gesetz verbietet nicht nur gewisse negative Verhaltensweisen und Herzenseinstellungen, sondern fordert implizit gewisse positive Verhaltensweisen und Herzenseinstellungen. Das heißt: Wenn Ehebruch verboten wird, dann werden Enthaltsamkeit und Reinheit gefordert.

Zum Prinzip gemacht

Wenn wir diese von Jesus dargelegten Muster auf das Verbot von Mord anwenden, dann verstehen wir, dass wir einerseits vor den Dingen zurückschrecken sollen, die in der breiten Definition von Mord enthalten sind. Andererseits wird uns aber auf positive Weise geboten, darauf hinzuwirken, das Leben zu retten, zu verbessern und uns darum zu kümmern. Wir sollen Mord in all seinen Verästelungen meiden und gleichzeitig alles dafür einsetzen, um Leben zu fördern.

„Wir sollen Mord in all seinen Verästelungen meiden und gleichzeitig alles dafür einsetzen, um Leben zu fördern.“
 

Ebenso wie Jesus Begierde als Teil von Ehebruch betrachtete, sah er auch ungerechtfertigten Zorn und Verleumdung als Teil von Mord. Ebenso wie Begierde Ehebruch im Herzen ist, so sind Zorn und Verleumdung Mord im Herzen.

Als er den Geltungsbereich der Zehn Gebote ausweitete, damit auch Dinge wie Begierde und Verleumdung eingeschlossen würden, meinte Jesus nicht, dass es genauso böse ist, eine Person zu begehren, wie wenn man unzulässigen physischen Verkehr mit ihr hat. Ebenso wenig sagte Jesus, dass Verleumdung genauso schlimm ist wie Mord. Wer er sehr wohl sagte, ist: Zum Gebot, nicht zu morden, gehört ein Verbot von allem, wodurch ein Mitmensch ungerechterweise verletzt wird.

Auf Abtreibung angewandt

Was hat all das mit der Frage der Abtreibung zu tun? In Jesu Lehre sehen wir eine weitere starke Betonung der Unantastbarkeit des Lebens. Mord im Herzen, wie Verleumdung, kann man „potentiellen“ Mord nennen. Es ist potentieller Mord, weil Zorn und Verleumdung das Potential haben, zur vollendeten Tat des physischen Mordes zu führen. Natürlich führen sie nicht immer zu diesem Ergebnis. Zorn und Verleumdung werden nicht so sehr wegen der Dinge verboten, zu denen sie möglicherweise führen könnten, sondern wegen des tatsächlichen Schadens, den sie der Lebensqualität zufügen.

„Die negativen Verbote des Gesetzes implizieren positive Herzenseinstellungen und Handlungen.“
 

Wenn wir die Diskussion über die Unantastbarkeit des Lebens mit Abtreibung in Verbindung bringen, dann ziehen wir eine subtile, aber wichtige Verbindung. Selbst wenn nicht bewiesen werden kann, dass ein Fötus eine tatsächliche, lebendige, menschliche Person ist, so besteht doch kein Zweifel daran, dass er eine potentiell lebendige, menschliche Person ist. Anders ausgedrückt: Ein Fötus ist eine sich entwickelnde Person. Er befindet sich nicht in einem eingefrorenen Zustand dessen, was potentiell möglich ist. Der Fötus befindet sich in einem dynamischen Prozess – ohne Eingriffe von außen und ohne unvorhergesehene Tragödien wird er ganz sicher zu einer voll verwirklichten, menschlichen Person.

Jesus Christus sieht das Verbot von Mord so, dass es nicht nur den Akt des tatsächlichen Mordes umfasst, sondern auch Handlungen von potentiellem Mord. Jesus lehrte, dass es gegen das Gesetz verstößt, ein tatsächliches Leben potentiell zu ermorden. Wie wirkt sich das dann darauf aus, wenn man potentielles Leben tatsächlich vernichtet?

Die tatsächliche Vernichtung von potentiellem Leben ist nicht dasselbe wie die potentielle Vernichtung von tatsächlichem Leben. Das sind keine identischen Fälle, aber sie sind sich ähnlich genug, um innezuhalten und sorgfältig die möglichen Folgen zu bedenken, bevor ein potentielles Leben vernichtet wird. Wenn dieser Aspekt des Gesetzes die Abtreibung nicht vollständig und endgültig in das breite und komplexe Verbot des Mordes einordnet, so tut dies ein zweiter Aspekt eindeutig:

Die negativen Verbote des Gesetzes implizieren positive Herzenseinstellungen und Handlungen. Das biblische Verbot von Ehebruch fordert etwa ebenfalls Enthaltsamkeit und Reinheit. Ebenso gilt Folgendes: Wenn ein Gebot auf positive Weise formuliert wird, dann wird sein negatives Gegenteil implizit verboten. Wenn Gott uns beispielsweise gebietet, gute Verwalter unseres Geldes zu sein, dann sollten wir natürlich keine Geizhälse sein. Ein positives Gebot fleißiger Arbeit trägt ein implizites negatives Verbot von Faulheit bei der Arbeit mit sich.

„Die Bibel unterstützt beständig den überragend großen Wert allen menschlichen Lebens.“
 

Ein negatives Verbot von tatsächlichem und potentiellem Mord umfasst implizit ein positives Mandat, sich für den Schutz und den Erhalt des Lebens einzusetzen. Gegen Mord zu sein, ist gleichbedeutend mit der Förderung des Lebens. Was auch immer Abtreibung tut, sie fördert nicht das Leben des ungeborenen Kindes. Auch wenn manche Menschen argumentieren werden, dass Abtreibung die Lebensqualität jener Menschen fördert, die keinen Nachwuchs haben wollen, so fördert sie nicht das Leben des Betroffenen, nämlich des sich entwickelnden, ungeborenen Kindes.

Die Bibel unterstützt beständig den überragend großen Wert allen menschlichen Lebens. Die Armen, die Verwitweten und die Behinderten – allen wird in der Bibel ein hoher Wert beigemessen. Somit muss sich jede Diskussion über Abtreibung schlussendlich mit diesem Kernthema der Schrift auseinandersetzen. Wenn die Vernichtung oder Entsorgung selbst potentiellen menschlichen Lebens kostengünstig und einfach vollzogen wird, dann verdunkelt ein Schatten die gesamte Landschaft der Unantastbarkeit des Lebens und der Menschenwürde.