Vom Text zur Predigt
Ein Beispiel einer Predigtvorbereitung
Viele Reisen sind schwierig und herausfordernd: vom Bett zur Apotheke, wenn man erkältet und erschöpft ist; vom Auenland nach Mordor, wenn man einen Ring zerstören muss; vom Bibeltext zur Kanzel, wenn man predigen soll.
Dieser Artikel soll als Reisebegleiter und Ermutiger auf der letztgenannten Reise helfen. Zusammen wollen wir exemplarisch vom Text aus Haggai 2,1–9 bis auf die Kanzel zu einer Predigt darüber pilgern, und auf dem Weg hoffentlich einiges für unsere Predigtreisen mit anderen Bibeltexten lernen. Ich lade den Leser ein, mir in meine Gedankenwelt zu folgen – sei also darauf vorbereitet, dass die Gedanken, wie bei einer echten Predigtvorbereitung, manchmal zunächst sortiert und gegeneinander abgewogen werden müssen.
1. Worum geht es in Haggai 2,1–9?
Das Buch Haggai besteht aus vier Predigten. Der Abschnitt 2,1–9 bildet dabei die zweite Predigt. Haggai gibt uns eine genaue Datierung: „Am einundzwanzigsten Tag des siebten Monats [im zweiten Jahr des Königs Darius; 1,15]“ (2,1) predigt er zum Volk. Wir erhalten somit als exaktes Datum den 17. Oktober 520 v.Chr.
Vers 2 gibt uns Aufschluss darüber, an wen die Predigt gerichtet war: „Rede doch zu Serubbabel, dem Sohn Schealtiels, dem Statthalter von Juda, und zu Jeschua, dem Sohn Jozadaks, dem Hohenpriester und zu dem Überrest des Volkes.“ Haggai predigte zu den Leitern und zum Volk Gottes, die aus dem Exil zurückgekehrt waren.
Das ermutigt mich. Gott gab Haggai dieses Wort als Predigt. Ich muss sie also nur weiterpredigen. Denn Gott will dieses Wort zu seinem ganzen Volk sprechen.
2. Wie ist der Text aufgebaut?
Wie hat Haggai seine Predigt organisiert? Besteht die Predigt aus Poesie, einem Gesetzestext, einem Brief, enthält sie Zitate? Wie ist ihr Charakter: Werden Drohungen, Verheißungen, Befehle, Zusagen gegeben?
2.1 Struktur
Die Verse 1–2 bilden eine Art Einleitung, der der Haupttext der Predigt folgt.
Beim Durchlesen suche ich nach strukturellen Elementen, die mir auffallen. Mir fällt auf, dass Gott die Zuhörer in dieser Predigt auf drei verschiedene Weisen anspricht: erstens durch Fragen: „Wer? Wie? Ist es nicht so viel wie?“ (Vers 3); zweitens durch Befehle: dreimal sagt er „sei stark“, dann „arbeitet“ und schließlich „fürchtet euch nicht“ (Vers 4–5).
Die Verse 6–9 dagegen sind anders. Wir finden hier weder Fragen noch Befehle, sondern nur Zusagen und Verheißungen. Ziemlich viele sogar.
Die Fragen drehen sich um zwei Häuser bzw. Tempel: Salomos Tempel und der Tempel, an dem der Überrest des Volkes gerade baut.
Die Befehle „sei stark“ und „fürchtet euch nicht“ hängen mit dem zentralen Befehl „arbeitet“ zusammen. Das überrascht nicht. Das haben wir schon in Haggai 1,7 gehört. Gott möchte von seinem Volk sehen, dass es sein Haus baut. Die Zusagen hängen also mit dem Tempelbau zusammen.
Somit ist jetzt klar: Der Tempelbau ist der rote Faden durch den Text. Das ist das Thema der Predigt. Das wird das Thema meiner Predigt.
Der Text gibt also eine Struktur und einen Schwerpunkt vor. Aber gibt es noch andere Schwerpunkte?
2.2 Schwerpunkte
Die drei Fragen in Vers 3 zielen auf eine Antwort: Alles ist gerade sehr enttäuschend. Wenige haben das Haus in seiner früheren Herrlichkeit gesehen. Was die jetzige Generation zu sehen bekommt, ist wenig wert. Gott spricht diese Enttäuschung direkt an. Wieso macht Gott das?
Weil Gott sein Volk kennt. Gott weiß, wann wir entmutigt sind. Er will mit uns darüber reden. Das ist eine erste Anwendung. Wenn es damals vorkam, dass Gottes Volk in seinem Dienst entmutigt war, dann kommt es auch heute vor.
„Wenn es damals vorkam, dass Gottes Volk in seinem Dienst entmutigt war, dann kommt es auch heute vor.“
Die Enttäuschung der Juden liegt einerseits in dem, was sie sehen, und andererseits in dem, was sie nicht sehen. Was sie sich wünschen, sehen sie nicht. Was sie sehen, wünschen sie sich nicht. Genau wie heute, oder?
Dann kommen die drei Wiederholungen in Vers 4: „Sei stark … sei stark … seid stark.“ Das Alte Testament betont durch Wiederholungen. „Sei stark“ ist hier also keine Nebenfloskel, sondern zentral.
Warum muss Gottes Volk das dreimal hören? Weil sie offensichtlich schwach waren. Der Statthalter, der Hohepriester, der Überrest. Jeder wusste, dass sie schwach waren. Die Versuchung aufzugeben, war fast unwiderstehlich. Alle kannten diese Versuchung. Alle mussten hören: „Sei stark“.
Vers 4 endet mit dem Ausdruck „spricht der Herr der Heerscharen“. Das kommt in den folgenden Versen weitere fünf Mal vor (Verse 6–9). In Vers 1 schwingt ein ähnlicher Gedanke mit: „das Wort des Herrn“, und am Anfang von Vers 4 „spricht der Herr“.
Betont Haggai Gottes Reden, um die Zuverlässigkeit seiner Botschaft zu unterstreichen? Soll ich jetzt über die Inspiration der Schrift predigen? Oder darüber, dass Gott nicht schweigt, sondern spricht? Oder dass der Gott, der spricht, himmlische Armeen befehligt?
Diese Wiederholungen sind Tanzpartner für den wiederholten Ausspruch „ich werde“ in den Versen 6–9. Es geht hier also um Gottes Allmacht. Gott spricht über die Zukunft, weil Gott über der Zukunft steht. Eine Anwendung über die Inspiration der Schrift wäre hier eher ablenkend.
Vielleicht greife ich dieses Thema nach der Predigtreihe in Haggai in einer Themenpredigt wieder auf. Dann kann ich diese Stelle im Zusammenhang der Beziehung zwischen Gott und seinem Wort noch mal erklären. Wenn die Gemeinde von Gottes Zusagen lebt und nicht von dem, was sie mit ihren Augen sehen kann, muss sie Gottes Wort vertrauen können. Die „ich werde“-Aussagen sind Zukunftsverheißungen. Gott sagt, was er tun wird.
Gott wird Himmel und Erde erschüttern, alle Heidenvölker werden erbeben. Gott sorgt dafür, dass die letzte Herrlichkeit des Hauses größer sein wird als die erste. Gott wird Frieden geben.
Meine kleine Tochter ist zwei Jahre alt. Manchmal macht sie das, was Daddy sagt. Gott hat unzählige Engel. Die machen immer das, was Gott sagt. Der Gott, der Engelarmeen befiehlt, ist nicht bloß der Gott, der die Zukunft kennt. Er ist der Gott, der die Zukunft bestimmt.
Gott ist nicht ratlos, überfordert oder überwältigt. Gott weiß, wie die Weltgeschichte ausgeht, die Geschichte des Planeten, der Nationen und seines Volkes, weil Gott diese Geschichte schon geschrieben hat. Gott verkündet sie uns jetzt. Das könnte eine weitere Anwendung sein.
Diese Aussagen in Vers 6 sind durch ein „denn“ mit den Befehlen in den Versen 4–5 gekoppelt. Wenn Gottes Volk stark und furchtlos dienen soll, muss es wissen, dass Gott den Anfang vom Ende schon bestimmt hat. Die Zukunft ist kein offenes Buch. Gott hat alles schon geschrieben, wie er es will.
Jetzt habe ich eine gewisse Struktur und einige Schwerpunkte. Aber es gibt noch viel zu entdecken.
3. Wie passt Haggai 2,1-9 ins gesamte Buch?
Haggai spricht wie bei der ersten Predigt zu Serubbabel und Schealtiel. Dieses Mal ist der Überrest des Volkes auch mit eingeschlossen (vgl. 2,1).
Einige Elemente kommen in beiden Predigten vor. Zunächst werden die Zuhörer aufgefordert, Gottes Haus zu bauen, sodass Gott verherrlicht wird (vgl. 1,8). Doch jetzt ist keine Herrlichkeit zu sehen (vgl. 2,3). Sie gehorchen schließlich dem Befehl zum Bauen (vgl. 1,14). Doch jetzt muss Gott den Befehl nochmals geben: „arbeitet“ (2,4). Er gibt dem Volk auch dieselbe Verheißung: „ich bin mit euch“ (1,13 und 2,4).
Lesen wir weiter im Buch, dann entdecken wir weitere Ähnlichkeiten.
In 2,10–19 geht es ebenfalls um den Bau des Hauses und darum, wie Gott trotz Israels Sündhaftigkeit den Bau segnet. In den Versen 20–23 wiederholt sich der Ausspruch aus Haggai 2,6 über die Erschütterung von Himmel und Erde wieder. Gott steht also zu einhundert Prozent hinter dem Bau seines Hauses.
Jetzt haben wir genügend Puzzleteile, um das Gesamtbild zu erkennen. Was ist das Gesamtbild, die Hauptbotschaft des Buches? Sie lautet: „Baut Gottes Haus zu Gottes Ehre, denn Gott baut sein Haus.“
Haggai 2,1–9 spricht zu denen, die bereits mit dem Bau angefangen haben, aber noch einiges vor sich haben. Ein Wort, das Gottes Volk zu nichts Neuem auffordert. Es hat keine neuen Wege einzuschlagen, sondern den Weg weiterzugehen, den Gott schon befohlen hat. Auch wenn es sinnlos aussieht. Auch wenn es Angst davor hat.
Wie motiviert man entmutigte Christen zum Weitermachen? Mit Empathie (vgl. 2,2–3) und Befehlen (vgl. 2,4–5), aber vor allem mit Gottes gnädigen Verheißungen (vgl. 2,6–9), mit mehr Verheißungen als Befehlen.
Die Botschaft von Haggai 2,1–9 sitzt also sehr nah am Herzschlag des ganzen Buches: „Baut weiter an Gottes Haus, denn Gott baut sein Haus.“ Das wird jetzt der Leitsatz für meine Predigt sein.
Tatsächlich bildet diese Botschaft die Wende von der ersten Hälfte des Buches zur zweiten. In der dritten Predigt kommen keine Befehle für Gottes Volk. Die Priester sollen lediglich einige Fragen beantworten und darüber nachdenken. In der letzten Predigt kommen gar keine Befehle vor, nur Zusagen.
„Der Gott, der Engelarmeen befiehlt, ist nicht bloß der Gott, der die Zukunft kennt. Er ist der Gott, der die Zukunft bestimmt.“
Das muss ich mir merken. Die letzte Predigt in der Reihe soll wie eine Überdosierung an Ermutigungen und Zusagen sein. Wenn wir über den Bau von Gottes Haus zu seiner Ehre nachdenken, soll der bleibende Nachgeschmack in unserem Mund folgender sein: Gott macht’s. Gott macht’s.
Was auch immer in unseren Augen schiefgeht: Gott macht’s.
Jetzt sehen wir das Gesamtthema des Buches klar, ebenso wie die Botschaft des Predigttextes. Wir haben schon einige Ideen für Anwendungen. Wir müssen nur noch schauen, wie Haggai in den gesamtbiblischen Kontext passt.
4. Wie passt Haggai 2,1–9 in den gesamtbiblischen Kontext?
Gott hat schon früher „Ich bin mit euch“ zu seinem Priester und zu seinem Volk gesagt: zu Josua und zu Israel mitten im Exodus (vgl. Jos 1,9; 2Mose 25,8). Haggai 2,6 verstärkt die Exodusverbindung: „Ich werde noch einmal schüttern“ – wann hat Gott schon einmal erschüttert? Beim Exodus: In 2. Mose 19,18 kommt Gott auf den Berg Sinai herab und „der ganze Berg erbebte heftig“. Stellen wir beide Zitate zusammen, erkennen wir, dass Gott wieder einen Exodus durchführen möchte.
Gott nimmt sein Volk aus der Sklaverei heraus und bringt es an einen neuen Ort mit einem Tempel, wo er als Retter und Gott bei ihnen wohnt.
Blickt man in das Neue Testament, so entdecken wir weitere Verbindungen. Was ist aus dem Tempel geworden? Er ist in Jesus erfüllt (vgl. Joh 2,21), der seine Gemeinde mit sich selbst verbindet und mit Gottes Gegenwart erfüllt (vgl. Eph 2,20–22). Was baut Gott im Neuen Testament? Die Gemeinde Jesu (vgl. Mt 16,18; Eph 2,20–22). Seit Jesu Tod bedeutet Tempelbau Gemeindebau.
In Matthäus 27,51–54 bebt die Erde bei Jesu Kreuzigung. Ist das Zufall oder hat Matthäus Haggai 2 im Kopf, als er darüber berichtet? Direkt nach der Erschütterung der Erde kommt der römische Hauptmann zum Glauben. Als ob Matthäus uns sagen möchte: Gott fängt an, die Nationen zu erschüttern und in seinen Tempel zu bringen.
Hebräer 12,26–29 zitiert Haggai 2,9 wortwörtlich und legt den Vers auf die kommende neue Schöpfung in Gottes Reich aus. Interessanterweise zieht der Autor dieselbe Anwendung aus dem Vers wie Haggai: Weiter bauen bedeutet weiter dienen (vgl. Hebr 12,28).
Man könnte noch weitere Querverweise aufzeigen (vgl. z.B. Mt 28,19–20 und Eph 2,14). Aber wir haben bereits jetzt zu viele Querverweise für eine einzelne Predigt. Welche davon sind also unverzichtbar und welche nur Salatdressing?
Mir scheint, dass 2. Mose 19,18 und Hebräer 12 auf alle Fälle Erwähnung finden müssen. Die Erschütterungsaussage gehört zum Kern unserer Stelle. Der Hebräerbrief lehrt uns, wie wir das Alte Testament zu verstehen haben. Was ist mit den anderen Querverbindungen? Sie sind sicher auch wertvoll, aber für die Predigt kein absolutes Muss, müssen also in meinen Gedankenskizzen schlummern bleiben.
Heute sind wir nicht im Jerusalem des Jahres 520 v.Chr. Was bedeutet es also im Licht der ganzen Bibel, wenn Gott uns sagt: „Baut weiter an Gottes Haus, denn Gott baut sein Haus”?
Nun, die Botschaft als solche bleibt gleich. Aber die oben erwähnten Verse aus dem Neuen Testament lehren uns, dass der Tempel die Gemeinde ist, die durch die Evangeliumsverkündigung gebaut wird. Irgendein neutestamentlicher Bezug ist also unverzichtbar, um diese Nuance klar für die Zuhörer zu machen. Ansonsten müssen wir nach Jerusalem fliegen und Spaten und Zement kaufen.
Wir sind jetzt fast am Ende der Reise. Ich muss nur noch überlegen: Wie bringe ich meine Entdeckungen am Sonntag auf den Tisch?
5. Predigtstruktur
Für die Struktur der Predigt bieten sich, wie ich meine, zwei offensichtliche Möglichkeiten an (das Thema bleibt dabei gleich):
Thema: Baut weiter an Gottes Haus, denn Gott baut sein Haus
A Was Gottes Volk getan hat
B Was Gott getan hat
B Was Gott tun wird
A Was Gottes Volk jetzt tun soll
Oder:
A Was Gottes Volk getan hat
A Was Gottes Volk jetzt tun soll
B Was Gott getan hat
B Was Gott tun wird
Beide Gliederungen haben Vor- und Nachteile. Ich habe die Struktur ABBA für die Predigt in meiner Gemeinde gewählt. Wenn ich irgendwann wieder über die Stelle predigen sollte, würde ich eventuell AABB wählen, weil das die Predigtstruktur von Haggai besser widerspiegelt.
6. Anwendungen
Ich stelle jedem Predigttext drei Fragen, die mir helfen, die Anwendung im Text selbst zu beherzigen und zu den Herzen der Zuhörer zu predigen:
- Wie ermutigt dieser Text uns, Jesus anzubeten?
- Wie tröstet dieser Text uns in unserem Leid?
- Wie befreit dieser Text uns von unserem Selbstgerechtigkeitsdrang?
Die Antworten auf diese Fragen sollen der Hauptanwendung des Textes dienen. Denn jeder biblische Text ist schon angewendet. Gott hat ihn inspiriert, um etwas zu bewirken. Wir müssen nur herausfinden, was das ist. Die Hauptanwendung von Haggai 2,1–9 kennen wir schon: „Baut weiter.“
Alle müssen diese eine Botschaft hören. Unsere Versuchungen sind oft nicht so individualistisch, wie wir denken. Das ganze Volk geht durch die gleichen Schwierigkeiten und braucht dasselbe Wort. Ich habe Vers 4 aus Kapitel 2 nicht recht verinnerlicht, wenn ich übersehe, dass jeder in meiner Gemeinde manchmal – vielleicht sogar häufig? – versucht ist, Gott nicht mehr zu dienen.
Gott baut sein Haus. Er tut es durch sein Wort. Er tut es durch dieses Wort. Mit dieser Zuversicht kann ich vom Text zur Predigt, vom Büro zur Kanzel schreiten. Gottes Wort wird Herzen erreichen, genau wie damals (vgl. 1,14).