Die Druckmacher

Rezension von Holger Lahayne
19. Januar 2023 — 16 Min Lesedauer

Technologische Entwicklungen sind eng mit der Kirchen- und Heilsgeschichte verbunden. Letztlich hat dies auch einen theologischen Grund: Gott benutzt menschliche Kommunikationstechnologien, um sich zu offenbaren. Als die Hebräer in Ägypten waren, lernten sie offensichtlich das protosemitische Alphabet kennen. Die Erfindung dieser Technik, um gesprochene Sprache durch Buchstaben zu Papier zu bringen, ist eine der wichtigsten in der ganzen Kulturgeschichte, die Gott selbst sogleich nutzte: Nach dem Auszug, beim Bundesschluss am Sinai, sagte Gott zu Mose: „Steige zu mir herauf auf den Berg und bleibe dort, so will ich dir die steinernen Tafeln geben und das Gesetz und das Gebot, das ich geschrieben habe“ (2Mose 24,12, Hervorh. d. Verf.). Das Gesetz wurde „beschrieben mit dem Finger Gottes“ (2Mose 31,18).

Eine Medienrevolution und Printing Natives

Die frühen Christen nutzten dann bevorzugt eine ebenfalls noch recht junge Medientechnologie, den Kodex. Die heiligen Schriften wurden nicht mehr – wie in Israel und auch noch zu Jesu Zeiten – in Rollen aufbewahrt, sondern als einzelne Bögen zu Büchern zusammengebunden. Über eintausend Jahre lang mussten diese Bücher zur Vervielfältigung mühsam abgeschrieben werden. Einen weiteren Einschnitt stellte erst die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg um 1450 dar. In Die Druckmacher: Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte stellt Thomas Kaufmann die Reformation als mediengeschichtliches Ereignis dar. Der Professor für Kirchengeschichte in Göttingen beschreibt in seinem neuen Buch ausführlich die enge Verzahnung von Produktionsvorgängen, theologischen Inhalten, verlegerischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Folgen.

Die Idee hinter Gutenbergs Erfindung war ebenso einfach wie genial. Plötzlich konnten interessante Texte in deutlich höherer Zahl als früher dauerhaft verfügbar gemacht werden. Die nach Bildung Strebenden griffen diese Erfindung sofort auf, da ihr Eigenstudium deutlich erleichtert wurde. Kaufmann spricht von der „Autonomisierung der Bildungsprozesse“ und nennt als Beispiel Ulrich Zwingli, der gerade einmal ein halbes Jahr Theologie studiert hatte, sich aber dank der gedruckten Bücher ständig autodidaktisch weiterbilden konnte. Der spätere Zürcher Reformator war „ein leidenschaftlicher Buchkäufer und -besitzer und ein emsiger Leser“. Er gehörte zu den ersten, die Kaufmann in Anspielung an die Digital Natives von heute „Printing Natives“ nennt. Etwa eine Generation nach der Erfindung Gutenbergs geboren, wuchsen sie schon in einer Kultur des gedruckten Buches auf und nutzten die neuen Möglichkeiten zielorientiert aus.

Teures Papier und römische Zensur

Im Vergleich zu heute muten die Anfänge des Buchdrucks natürlich bescheiden an. Meist wurden in den ersten Jahrzehnten nur wenige Hundert Exemplare eines Werkes gedruckt. Vor allem das Papier war noch recht teuer und machte rund die Hälfte der Produktionskosten aus. Dennoch entwickelte sich zügig ein „gemeinsamer kultureller Kommunikations- und Erfahrungsraum“, so Kaufmann, denn nun konnte recht zeitnah über Politisches, Entdeckungen oder Naturereignisse berichtet werden. Auch die „Türkenfurcht“, die Bedrohung durch die Osmanen, wurde durch den Buchdruck verstärkt bzw. als europaweites Phänomen erst geschaffen. Diese wiederum regte den Absatz von Ablassbriefen an:

„Große Ablasskampagnen … setzten eine starke Nachfrage nach Druckaufträgen in Gang: Ablassbriefe, päpstliche Bullen, Summarien und Instruktionen in kürzeren und längeren, lateinischen oder volkssprachlichen Versionen, Werbeplakate und anderes mehr wurden benötigt … Der Ablassvertrieb brachte den Buchdruck in Schwung und förderte den Ausbau einer typographischen Infrastruktur.“

Die Kirche Roms nutzte also den Buchdruck auf allen Ebenen. Auch im katholischen Europa wurden von Anfang an zahlreiche Bücher gedruckt. Die Beziehung der Kirche zum gedruckten Wort blieb jedoch ambivalent. Einerseits, so Papst Leo X. in der Bulle Inter sollicitudinis aus dem Jahr 1515, sei die Buchdruckkunst „durch Gottes Gnade und Wohlwollen“ erfunden worden und schaffe großen Nutzen, doch stehen dem andererseits unabsehbare Gefahren gegenüber, da gerade Übersetzungen in die Volkssprache größte „Verirrungen“ im Glauben und Leben anrichten können. Noch im 15. Jahrhundert setzten die Bestrebungen des Papsttums zur Zensur ein.

In den Augen der deutschen Humanisten wie Conrad Celtis gereichte die Erfindung des Buchdrucks vordergründig Deutschland zur Ehre: „Mit dem Buchdruck … habe das viel geschmähte ‚Barbarenland‘ nördlich der Alpen den Anschluss an das Kulturniveau der Antike und seiner zeitgenössischen Erben gefunden“, so Kaufmann. Johannes Cochläus war stolz darauf, dass die Deutschen nun als „nicht stumpfer und weniger erfinderisch scheinen als irgendein Volk“.

Gottes Geschenk und Sprache als Schlüsselkompetenz

Martin Luther ging noch weiter und rückte laut Kaufmann „die technische Errungenschaft der mechanischen Textreproduktion in einen heilsgeschichtlichen Horizont: Ohne den Buchdruck sei keine Erkenntnis und Wissenschaft, keine Kunst, kein Fortbestand der Kultur und der Sprachen möglich. Auch das Evangelium sei an Buch und Schrift gebunden.“ In den Worten des Reformators:

„Der Buchdruck ist das letzte und zugleich größte Geschenk, durch das Gott dem ganzen Erdkreis die Sache der wahren Religion am Ende der Welt bekannt gemacht und in alle Sprachen ausgegossen hat. Er ist gewiss die letzte, unauslöschliche Flamme der Welt.“

In diese Richtung äußerten sich auch Konrad Pellikan in Basel oder Theodor Bibliander in Zürich:

„Christus habe in Straßburg durch Gutenberg das Druckhandwerk erfinden lassen, um ‚den Anschlägen des päpstlichen Antichristen mit der gewiss göttlichen Kunst, Bücher zu drucken‘, entgegenzutreten.“

Auch für das konfessionelle Luthertum des 17. Jahrhunderts bestand „in dem bald erwarteten Niedergang des Papsttums … der eigentliche Sinn des Buchdrucks“. Kaufmann teilt dieses vereinfachende „konfessionspolemisch-antikatholische Narrativ“ jedoch nicht und versucht stattdessen, den breiteren Kontext zu erläutern, der dann im Ergebnis dem Protestantismus starken Auftrieb gab. Eine wichtige Rolle spielte die Tatsache, dass sich das Erlernen von Latein, Griechisch und Hebräisch schon vor Beginn der Reformation als Schlüsselkompetenz etablierte. 1506 erschien die lateinische Grammatik der hebräischen Sprache De rudimentis hebraicis des großen Humanisten Johannes Reuchlin. Mit ihr lernten Luther wie auch Karlstadt und Zwingli als Autodidakten das Hebräische; durch Reuchlins Hebraica-Werke konnte sich die biblische Sprache als Lehrfach an den Universitäten durchsetzen.

Heilige Texte und singende Bauern

Für die Reformation war natürlich auch Erasmus von Rotterdams Novum Instrumentum, die griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments von 1516, von grundlegender Bedeutung. Schon die erste Ausgabe dieses neuartigen Werkes war ein enormer Erfolg; nur drei Jahre später folgte eine überarbeitete Neuauflage. Die eigene Übersetzung des griechischen Textes ins Lateinische in parallelen Kolumnen, exegetische Kommentare und Textkritik, d.h. Angaben zur Überlieferung des Textes, machten, so Kaufmann, „diese Neuausgabe der heiligsten Texte der Christenheit zu einem verwegenen, fundamental autoritätskritischen und insofern spektakulären Buch“. Der damals übliche lange Titel des Buches mündete in einen Appell des Humanisten an den Leser:

„Du, der du die Theologie liebst, lies, erkenn und dann urteile. Wenn du auf etwas Geändertes stößt, nimm nicht sogleich Anstoß, sondern ermesse, ob nicht zum Besseren geändert wurde.“

Erasmus schrieb für seine Ausgabe des Neuen Testaments mehrere Vorreden wie z.B. die Paraclesis oder „Ermahnung“, die später in deutscher Übersetzung einzeln gedruckt wurde und die, wie Kaufmann schreibt, „alle Christenmenschen, Kleriker wie Laien beiderlei Geschlechts, zur Bibellektüre aufforderte“. Erasmus wünschte:

„Wenn doch der Bauer mit der Hand am Pflug etwas davon [d.h. von der Bibel] vor sich hin sänge, der Weber etwas davon mit seinem Schiffchen im Takt vor sich summte und der Wanderer mit Erzählungen dieser Art seinen Weg verkürzte.“

Erste Medienevents und je ein Druckbogen

„Dass man durch das Lesen gedruckter Bücher Gottes- und Heilserfahrung machen konnte, war ein der lateineuropäischen Christenheit schon vor der Reformation geläufiger Gedanke“, fasst Kaufmann zusammen. Das Medium gedrucktes Buch machte aber auch lebhafte literarische Kontroversen möglich. Der Historiker schildert ausführlich den „Judenbücherstreit“ um Reuchlin, den der Konvertit Johannes Pfefferkorn mit seinem Handspiegel von 1511 entzündete – im Heiligen Römischen Reich „das erste Medienevent der Gutenberg-Ära“.

„Ohne die Druckerpresse wäre der Reformationsfunke wohl sogleich erloschen.“
 

Viel Aufmerksamkeit widmet Kaufmann natürlich dem Beginn der Reformation und dem Zeitraum bis 1525. Mit seinen 95 Thesen vom Oktober 1517 suchte Luther selbst wohl noch keine Breitenwirkung. Die frühen Thesendrucke in Nürnberg und Basel machten den Streit um den Ablass aber zum Gespräch im Reich und auch in anderen europäischen Ländern (so schickte Erasmus die Baseler Ausgabe nach England). Ohne die Druckerpresse wäre der Reformationsfunke wohl sogleich erloschen. Ob Zufall oder nicht – hilfreich war in jedem Fall, dass die 95 lateinischen Thesen genau auf einen Druckbogen passten.

Ablassprediger Johannes Tetzel antwortete auf Luther mit seiner Replik, den 106 Thesen. Im Frühjahr 1518 folgte Luthers Sermon von Ablass und Gnade, dessen geringer Umfang (der Satz passte auch auf einen Druckbogen) eine hohe Auflage und weite Verbreitung begünstigte. In den Augen Kaufmanns hat der Sermon als „ein in publizistischer Hinsicht geniales Werk“ zu gelten. „Mit dieser ersten Erfolgsschrift hat Luther gewiss weitaus mehr Menschen erreicht als jeder seiner Zeitgenossen.“ Tetzel reagierte darauf ebenfalls mit einem volkssprachlichen Traktat.

Akademische Debatten und mündige Laien

Luthers Werke erreichten auch Rom, wo Sylvester Prierias sich in die Debatte einschaltete. Luthers Reaktion war prompt und ohne falschen Respekt. Schon 1520 hatte die publizistische Auseinandersetzung mit Vertretern Roms eine große Schärfe erreicht. Schon zuvor hatten Johannes Eck und Luthers Wittenberger Kollege Andreas Bodenstein von Karlstadt eine literarische Debatte geführt, in die sich dann auch Luther selbst einschaltete. Die Leipziger Disputation im Sommer 1519, an der die drei teilnahmen, war so publizistisch vorbereitet wie noch keine akademische Debatte zuvor.

Ganz anders als Rom zielten die Reformatoren schon damals auch auf den mündigen Laien, dem auch in theologischen Fragen Kompetenz zugesprochen wurde. Dabei gingen sie noch viel weiter als Erasmus und andere Humanisten. Kaufmann führt aus:

„Die theologische Überzeugung der Wittenberger, dass die Laien als Urteilsinstanz nicht übergangen werden durften, ließ es als geradezu zwingend erscheinen, permanent zu publizieren. Die theologische Idee des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ war exakt die Kirchen- und Sozialtheorie, die dem durch das Printmedium herausgeführten kommunikationskulturellen Wandel entsprach.“

Ein produktives Jahr und die Vorladung nach Worms

In publizistischer Hinsicht war 1520 ein entscheidendes Jahr für die Reformation. Insgesamt 28 Schriften aus Luthers Feder mit einem Gesamtvolumen von 1004 Seiten gingen in den Druck, darunter die sogenannten „reformatorischen Hauptschriften“. In diesem Jahr „schrieb Luther geradezu um sein Leben“, so Kaufmann. Ohne die großen Texte des Jahres „wäre ‚die reformatorische Bewegung‘ und schließlich die Reformation selbst schwerlich zustande gekommen“. Vor allem De captivitate Babylonica ecclesiae war ein Schlüsseldokument, da sich an Luthers Sicht der Sakramente die Geister schieden.

„Luthers Standhaftigkeit wurde schon damals durch das Druckmedium zum Gespräch in weiten Teilen Europas.“
 

Im kommenden Jahr folgte seine Vorladung zum Wormser Reichstag. Luthers Standhaftigkeit vor Kaiser und Kardinal Aleander wurde schon damals durch das Druckmedium zum Gespräch in weiten Teilen Europas. Kaufmann schreibt über Luther in Worms:

„Mehr als hundert Drucke sind aus diesem Anlass erschienen; durch keinen anderen Sachverhalt ist Luther so bekannt geworden wie durch diesen. Niemals seit Gutenberg war über ein Ereignis zeitnäher und dichter geschrieben, berichtet, publiziert worden. In Worms stand neben der Person des Ketzers sein gedrucktes Schrifttum vor dem Gericht des Reiches.“

Aleander war bewusst, dass vor allem Luthers Ideen aus der Welt geschafft werden mussten, weshalb die vielleicht wichtigste Anordnung des Wormser Edikts auf die Vernichtung der Bücher Luthers und das Druckverbot abzielte. Doch wirkungsvolle Mechanismen für die Umsetzung dieser Maßnahmen gab es nicht. Im föderal gegliederten Reich waren neue Ideen nicht mehr aufzuhalten.

Andere Reformatoren und Imageschäden

Der Titel von Kaufmanns Buch spricht bewusst von der „Generation Luther“, betrachtet also auch das publizistische Wirken anderer Reformatoren wie z.B. im Kapitel „Lagerbildung in der reformatorischen Bewegung“. Kaufmann geht näher auf Luthers Kollegen Karlstadt ein, der während Luthers Monaten auf der Wartburg der natürliche Anführer der Reformbewegung in der Stadt war. Der Professor legte Anfang 1522 in einer dann auch gedruckten Predigt eine umfassende Begründung für die Entfernung der Bilder aus den Kirchen dar, die von der Obrigkeit angeordnet worden war. Zu einem „Bildersturm“, wie das Ereignis oft genannt wird, war es in der Stadt also gar nicht gekommen, weshalb eher von „Bilderentfernung“ zu reden ist.

Luther kehrte im März zurück und nutzte die Situation, so Kaufmann, um den „zur Subordination nicht bereiten Kollegen Karlstadt zu inkriminieren und zu isolieren“. Luthers Version der Vorgänge setzte sich durch und fand natürlich wieder in gedruckten Texten Niederschlag. „Der ordnungsstiftende Reformator sei chaotisch-aufrührerischen Fehlentwicklungen, zu denen es unter der Führung Karlstadt in seiner Abwesenheit gekommen sei, kraftvoll entgegengetreten und habe das Ruder herumgeworfen.“ Kaufmann hält dieses Narrativ so nicht für haltbar. Luthers „literarischer Vernichtungsschlag gegen Karlstadt“, seinen in Luthers Worten „höchsten Feind“, stellte dann die Schrift Wider die himmlischen Propheten aus dem Jahr 1525 dar.

Das Druckwesen führte aber unweigerlich zu einer dauerhaften Pluralität der Auslegungen und Lehrauffassungen. Auch die Zahl der Autoren, „die nun die publizistische Bühne betraten, vermehrte sich sprunghaft“, so Kaufmann. Karlstadt wurde zwar in Wittenberg, das er bald verlassen musste, gleichsam geächtet, erzielte aber mehr Wirkung im Süden Deutschlands. In Zürich veröffentlichte Ludwig Hätzer (bald ein wichtiger Vertreter der Täuferbewegung) 1523 die am weitesten verbreitete Schrift zur Bilderfrage. In diesen Jahren veröffentlichte in der Schweiz auch Zwingli zahlreiche Werke, allein 1522 sieben Schriften.

Kaufmann geht auch auf Thomas Müntzer und den radikalen Flügel der Reformation sowie die Bauernaufstände ein. Er weist darauf hin, dass die Zwölf Artikel gemeiner Bauernschaft „einer der meistgedruckten Texte der Zeit überhaupt“ waren. Seine breite Rezeption schufen „erst jenen Zusammenhang, der es sinnvoll und möglich macht, von dem Bauernkrieg zu sprechen“. Anfangs dem Anliegen der Bauern wohlwollend gegenüber, verschärfte Luther wegen Gewaltausbrüchen seinen Ton und sprach in Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern vom „Werk des Teufels“. „Luthers eigenes Agieren im Bauernkrieg erzeugte vor allem unter den oberdeutschen Anhängern der Reformation den Eindruck, dass Gott ihm wegen seiner Hoffart ‚den wahrhaftigen geyst entzogen‘ habe“, so Kaufmann. Dieser „publizistisch induzierte Imageschaden“ war nicht mehr zu korrigieren.

Der Buchdruck führte die Streitkultur auf ein neues Niveau, was in Kaufmanns Buch gut deutlich wird. Der Autor schreibt zusammenfassend:

„Der unablässige literarische Wortwechsel, die gleichsam auf bedrucktem Papier geführte Dauerdisputation wurde im Zuge der Reformation zu einem Kennzeichen der theologischen Diskurskultur – zwischen den sich ausformenden konfessionellen Lagern, aber auch innerhalb derselben.“

Eine Volksbibel und ungewohnte Resonanz

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der ersten Medienrevolution war der Auftrieb für nationale Sprachkulturen. Volkssprachliche Drucke erlangten immer höheren Anteil an der Gesamtproduktion. Damit verbunden stieg der des Lesens kundige Bevölkerungsanteil. Als neues Genre entstanden Gesangbücher für die Gemeindeglieder. Sie und zahlreiche Katechismen, von denen in der Reformationsepoche über 700 deutsche und knapp 800 lateinische Ausgaben erschienen, gelangten in die Häuser der Gläubigen. Auf ein breites Lesepublikum zielte auch Luthers Übersetzung des Neuen Testaments von 1522. Seine Vorreden zu den einzelnen Büchern darin zielten ebenfalls auf die Laien. „Bis zu Luthers Todesjahr lagen dann über vierhundert Voll- und Teilausgaben seiner Übersetzung vor – etwa eine halbe Million Exemplare“, so Kaufmann. Die Bibel wurde zu einem religiösen Volksbuch.

„Ein wichtiges Ergebnis der ersten Medienrevolution war der Auftrieb für nationale Sprachkulturen.“
 

Gedruckte Bücher sind Wissensspeicher. In Kompendien und Enzyklopädien, Predigtsammlungen und Traktaten, Flugblättern und theologischen Kommentaren wurden Ideen verschiedenster Art – ob orthodox oder häretisch, traditionell oder fremdartig – verschriftlicht und aufbewahrt. „War das Fremde erst bibliothekarisch eingelagert, konnte es allerlei unerwartete, eigenständige Wirkungen entfalten“, stellt Kaufmann fest. Er nennt das Beispiel von Calvins Zeitgenossen und Gegner Sebastian Castellio, der in seiner Schrift gegen die Ketzerverfolgung von 1554 Texte zusammenstellte, die die Tötung von Ketzern zurückwiesen – darunter Zitate aus Luthers Von weltlicher Obrigkeit oder auch von Calvin. Einmal gedruckte Ideen bleiben in der Welt und können jahre- oder gar jahrhundertelang ungewohnte Resonanz in neuen Kontexten finden. Dies gilt für die Idee der Toleranz oder des „allgemeinen Priestertums“ wie auch für Luthers antijüdische Schriften, die bald in Vergessenheit gerieten und dann erst wieder Ende des 19. Jahrhunderts auf breites Echo stießen.

Abgehobenes Lesevergnügen und steiles Tempo

Kaufmanns Buch ist – dem Thema entsprechend – sehr ansprechend gestaltet. Zahlreiche Illustrationen zeigen die im Text besprochenen Werke. Hat man sich an die manchmal etwas abgehobene Sprache des Professors gewöhnt, ist Die Druckmacher ein echtes Lesevergnügen. Ich hätte mir gewünscht, dass Kaufmann sich ein wenig ausführlicher zur Frage äußert, welche Erkenntnisse für die Gegenwart und das Leben in der zweiten, der digitalen Medienrevolution zu gewinnen wären. In Einleitung und Epilog bleibt der Autor nur sehr skizzenhaft.

In Wir amüsieren uns zu Tode grenzt Neil Postman das „Zeitalter der Erörterung“, das der Buchdruck hervorbrachte, scharf vom „Zeitalter des Showbusiness“ ab, das durch das Fernsehen entstand. Kaufmann hilft, diesen Eindruck des radikalen Kontrastes zu verfeinern, denn bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen den Medienzeitaltern zeigen sich auch nicht wenige Parallelen und überraschende Kontinuitäten. So verbinden wir heute Geschwindigkeit mit dem blitzschnellen Internet und der digitalen Revolution. Doch schon im 16. Jahrhundert publizierten die Reformatoren und andere teilweise rasant. Luther etwa gab (wie Kaufmann selbst nachwies) manchmal Manuskriptteile schon in den Satz, bevor er ein Werk abgeschlossen hatte, d.h. die Produktion des Buchs in der Druckerei begann schon vor der Fertigstellung des eigentlichen Textes. Die Generation Luther fühlte genau den Puls der Zeit und reagierte möglichst zügig auf die immer neuen Herausforderungen. Von der ersten Medienrevolution gibt es heute noch viel zu lernen. Die Druckmacher hilft dabei.

Buch

Thomas Kaufmann, Die Druckmacher: Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte, München: C.H. Beck, 2022, 350 Seiten, ca. 28 EUR.