Wie Besucher zu Mitgliedern werden

Artikel von Thabiti Anyabwile
10. Januar 2023 — 12 Min Lesedauer

Eine praktische Herausforderung, mit der viele Gemeinden konfrontiert sind, ist die Frage, wie Gottesdienstbesucher ermutigt werden können, aktive Glieder der Gemeinde zu werden. Wie können wir Menschen helfen, die Notwendigkeit und die Freude der verbindlichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Gläubigen – einer Ortsgemeinde – zu verstehen?

Hier sind sechs Vorschläge, wie Gottesdienstbesucher zu Mitgliedern in der Gemeinde werden können. Die ersten vier zielen darauf ab, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Zugehörigkeit zur Ortsgemeinde verstanden und wertgeschätzt wird. Bei den letzten beiden geht es darum, sich um bestimmte Personen zu kümmern, die von bloßen Anwesenden zu aktiven Mitgliedern werden sollen.

1. Lerne die bestehende Gemeinde kennen

Bevor wir Menschen auf dem Weg vom Besucher zum Mitglied unterstützen können, müssen wir unsere derzeitigen Gemeindeglieder kennen. Andernfalls bleibt die Vorstellung dessen, was die Zugehörigkeit bedeutet, selbst für jene verschwommen, die dazu ermutigen.

„Wenn wir von der Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde sprechen, sollten wir die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie vor Augen haben – von Menschen, die wir kennen und lieben.“
 

Stell dir vor, du lädst einen Gast für Samstagabend bei euch zu Hause zum Abendessen ein. Der Besucher kommt bei dir daheim an und geht davon aus, dass er deinen Ehepartner und eure Kinder kennenlernt. Stattdessen führst du die Person durch das Haus und fragst alle nach ihrem Namen und ob sie auch zu Besuch sind oder dort wohnen. Dieses „Kennenlernen“ deiner Familie steht in völligem Gegensatz zu dem, was eine Familie überhaupt ausmacht.

Wenn wir von der Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde sprechen, sollten wir die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie vor Augen haben – von Menschen, die wir kennen und lieben. Wir laden die Gottesdienstbesucher ein, Teil dieser lebendigen Familie zu werden. Unsere Einladung steht im Zusammenhang mit Gesichtern und Namen. Wenn wir diese Gesichter, Namen und Leben kennen, sind wir besser in der Lage, einen Besucher in die Familie einzuführen.

2. Drücke echte Wertschätzung für deine Glaubensgeschwister aus

Offen gestanden habe ich diese Chance verpasst, als ich Pastor der First Baptist Church of Grand Cayman wurde. Ich trat meinen Posten voller Eifer an und war bereit, mich voll ins Zeug zu legen. Ich freute mich darauf, die Menschen zu lieben und ihnen zu dienen, wobei mir eine Sache jedoch nicht bewusst war: Die Mitglieder der First Baptist Church waren schon lange vor mir dort gewesen. Sie dienten dem Herrn bereits auf unzählige Arten. Sie brauchten nicht nur die Art von Liebe, die ich ihnen geben wollte. Sie brauchten die Art von Liebe, die innehält und ihren Dienst zu schätzen weiß – jene Art, die echte Dankbarkeit für die Gnade Gottes ausdrückt, die bereits in ihnen wirkt.

„Ich wünschte, ich hätte besonders die ersten Jahre meines Dienstes genutzt, um die vielen wunderbaren Menschen in der Gemeinde zu ermutigen, mich für ihre vielfältigen Dienste zu bedanken und ihre Mitarbeit zu würdigen.“
 

Stattdessen bekam die Gemeinde viel zu oft zu hören, wie ich Verbesserungsvorschläge machte und neue Ideen vorbrachte. Dies vermittelte Unzufriedenheit und einen Mangel an Wertschätzung. Ich verletzte damit einige Menschen und stieß andere vor den Kopf. Einige waren sehr nachsichtig mit mir, weil sie davon ausgingen, dass ich es gut meinte, und das tat ich auch. Der bessere Weg, diese guten Absichten auszudrücken, wäre jedoch gewesen, Dankbarkeit und Wertschätzung für alles Positive auszusprechen, das ich sah.

Ich wünschte, ich hätte besonders die ersten Jahre meines Dienstes genutzt, um die vielen wunderbaren Menschen in der Gemeinde zu ermutigen, mich für ihre vielfältigen Dienste zu bedanken und ihre Mitarbeit zu würdigen. Dort machten manche zwanzig Jahre am Stück die Kinderstunde. Andere kümmerten sich im Stillen um arme, alleinerziehende Mütter. Es gab dort Leiter, die über Jahre hinweg schwierige Stürme überstanden, und Menschen, die mit echtem Glauben gegen ihre Krebskrankheit ankämpften. Manche Ehefrauen und Ehemänner blieben ihren ungläubigen und manchmal lieblosen Ehepartnern treu. Es gab Geschwister, die fröhlich und aufopferungsvoll spendeten, und viele, die ein Christus-ähnliches Leben führten.

Hätte ich mehr darauf geachtet, die Gemeinde kennenzulernen und ihren Glauben in Aktion zu sehen, hätte ich nicht nur Illustrationen für einige Jahre meines Predigtdienstes sammeln können, sondern auch viele Gelegenheiten zum Verfassen von Dankeskarten und zum Loben von Gottes Werk gehabt. Hätte ich diese Illustrationen verwendet, diese Nachrichten geschrieben und dieses öffentliche und persönliche Lob ausgesprochen, so hätte ich eine Atmosphäre der Ermutigung, der Gnade und der Dankbarkeit geschaffen. Das hätte sowohl die bestehenden Gemeindeglieder gestärkt als auch die Zugehörigkeit zur Gemeinde für Besucher attraktiv gemacht. Menschen wollen zu Gruppen gehören, die sie ermutigen und aufrichten, und Gemeinden sollten das am besten können.

3. Vermittle eine gesunde Sicht auf das christliche Leben

Wir können davon ausgehen, dass ein Christ, der regelmäßig Gottesdienste besucht, aber nicht Teil einer Ortsgemeinde ist, eine fehlerhafte Vorstellung vom christlichen Leben hat. Können wir das wirklich annehmen? Wir können es, weil die Heilige Schrift sagt, dass die Ortsgemeinde Gottes Plan für unsere Nachfolge und geistliche Reife ist (vgl. Eph 4,11–16; Mt 28,18–20). Als soziale Wesen benötigen wir Gemeinschaft. Gott sorgt dafür in der Ortsgemeinde, wo wir uns mit denen freuen, die sich freuen, und mit denen trauern, die trauern, und uns gleichermaßen umeinander kümmern (vgl. 1Kor 12,12–27).

„Menschen wollen zu Gruppen gehören, die sie ermutigen und aufrichten, und Gemeinden sollten das am besten können.“
 

Aus Gründen, die in Gesprächen mit der Person offenbar werden, hat jemand, der die Gottesdienste nur als Gast besucht, noch keine Gemeinde-zentrierte Sicht des christlichen Lebens. Die Aufgabe von Pastoren und Ältesten ist es, so zu predigen und zu lehren, dass ein biblisches Bild der Ortsgemeinde vermittelt wird, was die Ortsgemeinde für Gottes Volk schön und erstrebenswert macht.

Wir müssen den Gottesdienstbesuchern – und den bestehenden Gemeindegliedern – helfen zu verstehen, was es bedeutet, „in“ der Gemeinde zu sein und warum es ungesund ist,  „außerhalb“ zu sein. Wenn wir das nicht tun, lassen wir sie mit ihren unvollständigen Vorstellungen von der Gemeinde zurück. Schlimmer noch, wir lassen sie vielleicht in dem Glauben zurück, dass der einzige „Vorteil“, Glied einer Gemeinde zu sein, die Gemeindezucht und einige Unannehmlichkeiten sind.

Deshalb könnten wir eine thematische Reihe über das Wesen der Gemeinde oder über gelebte Gemeinschaft predigen. Wir könnten auch den Epheserbrief oder 1. Timotheus detailliert auslegen, in denen die Bibel überzeugende Bilder vom Gemeindeleben zeichnet. Auch könnten wir bei der Auslegung anderer Bibelbücher, wo immer dies legitim ist, Zusammenhänge mit der Zugehörigkeit zur Gemeinde erschließen, damit die Mitglieder und Gottesdienstbesucher den roten Faden von verbindlicher Zugehörigkeit und gelebter Gemeinschaft in der Bibel erkennen. Bei all dem sollten wir ein positives und attraktives Bild der Ortsgemeinde mit all ihrer Herrlichkeit – und Fehlerhaftigkeit – vermitteln.

4. Verstärke die Grenzen der Gemeinde

Eine Folge davon, den Menschen zu erklären, was die Zugehörigkeit zur Gemeinde bedeutet, sollte sein, dass die Grenzen zwischen der Gemeinde und der Welt gestärkt werden, indem bestimmte Dinge den Mitgliedern vorbehalten sind.

In der gesamten Heiligen Schrift grenzt sich Gottes Bundesgemeinschaft von der Welt ab. Gott gibt seinem Volk bestimmte Praktiken wie die Beschneidung oder das Passahfest, die sie von der Welt unterscheiden sollen. Die Grenzen zwischen Israel und der Welt wurden tief gezogen und die Zugehörigkeit zur Bundesgemeinschaft bekam eine ganz bestimmte Form und Bedeutung. Es war eine schreckliche Sache, „ausgeschlossen von der Bürgerschaft Israels und fremd den Bündnissen der Verheißung“ zu sein, „keine Hoffnung“ zu haben und „ohne Gott in der Welt“ zu sein (Eph 2,12).

Sogar säkulare Organisationen und Unternehmen haben Regeln für jene, die dazugehören (oder eben nicht): Zu Weihnachten besuchte einer unserer Ältesten eine Firmenweihnachtsfeier in einem Restaurant. Ihm fiel ein Tisch mit einigen Leuten auf, die etwas tranken. Von Zeit zu Zeit reichte einer der Gäste einem anderen Mann, der draußen stand, durch das Fenster ein Glas hinaus. Später erfuhr er, dass der Mann draußen das Lokal nicht betreten durfte, weil er sich in der Vergangenheit ungebührlich verhalten hatte. Unser Ältester lachte laut auf, weil ihm bewusst wurde, dass es auch außerhalb der Gemeinde Standards für das Dazugehören gibt und bestimmte Vorteile denen vorbehalten sind, die Teil des inneren Kreises sind.

Genauso müssen die Grenzen zwischen Gemeinde und Welt gestärkt werden, damit die Gottesdienstbesucher die Bedeutung der Gemeindezugehörigkeit begreifen und damit diejenigen, die nicht zum Glauben gehören, erkennen, dass sie „von Christus getrennt“ sind. Zu diesem Zweck sollten Gemeinden festlegen, welche Elemente des Gemeindelebens nur für Mitglieder zugänglich sind. Wer darf eine Kinderstunde leiten oder dort mithelfen? Dürfen Nicht-Mitglieder Teil des Musik-Teams sein oder bei der Technik dienen? Können sie sich Kleingruppen anschließen oder bei Evangelisations- oder Missions-Einsätzen mitarbeiten? Werdet ihr bekennende Christen, die keiner Ortsgemeinde angehören, zur Teilnahme am Abendmahl einladen?

Festzulegen, welche Privilegien und Verantwortlichkeiten allein die Gemeindemitglieder betreffen, unterstreicht die Bedeutung der verbindlichen Zugehörigkeit zur Gemeinde und zeigt auf, was die Personen verlieren, die „außerhalb“ der Gemeinde bleiben.

5. Leiste Beziehungsarbeit, um Einwände zu entkräften und Menschen in die Gemeinde einzuladen

Nachdem ihr über einige Jahre ein Umfeld geschaffen habt, in dem die verbindliche Zugehörigkeit zur Gemeinde geschätzt wird und „Mitgliedschaft“ definiert ist, könnt ihr euch viel besser persönlich um eure Gottesdienstbesucher kümmern. Wir hoffen sogar, dass die Gemeinde selbst den größten Teil dieser Beziehungsarbeit übernehmen wird, wenn sie eine neue Wertschätzung für die Ortsgemeinde entwickelt hat.

Diese Beziehungsarbeit umfasst mindestens zwei Dinge:

  1. Die Entwicklung einer Strategie, um Besucher zu identifizieren und sie kennenzulernen.
  2. Die Beantwortung von Einwänden eines Besuchers gegen die Gemeindemitgliedschaft.

Als ich politisch aktiv war, verwendeten wir ein einfaches Instrument, das wir „Standpunkt-Diagramm“ nannten. Dabei handelte es sich um eine Tabelle, in der die wichtigsten politischen Entscheidungsträger in der linken Spalte und ihre aktuelle Position zu einem politischen Thema daneben in den Zeilen aufgelistet waren. In vereinfachter Form kennzeichneten wir ihre aktuelle Position von „starker Opposition“ über „neutral“ bis hin zu „starker Unterstützung“ sowie ihre Bewegung entlang des Kontinuums.

Egal ob Gemeinden ein Standpunkt-Diagramm nur in Gedanken oder eines auf Papier verwenden – sie brauchen eine Möglichkeit, um festzustellen, ob Gottesdienstbesucher „stark dagegen“ sind, „nie daran gedacht haben“ oder „nächste Woche Teil der Gemeinde werden möchten“. Hoffentlich wird die Predigt und die Gemeinde in vielen Fällen die nötige Überzeugungsarbeit leisten, vor allem bei Gottesdienstbesuchern, die bereits motiviert sind, sich der Gemeinde anzuschließen. Doch bei denen, die noch Fragen haben und zögern, ist mehr Aufmerksamkeit notwendig.

Hier kommt das Gebot der Gastfreundschaft (vgl. Röm 12,13; 1Petr 4,9) zum Tragen und hilft den Menschen, dazugehören zu wollen. Ein offenes Haus führt in der Regel zu offenen Herzen – oder zumindest zu offenen Mündern! Wir können von Unterhaltungen nach den Gottesdiensten zu absichtsvolleren Gesprächen bei gemeinsamen Mahlzeiten übergehen. Wenn wir dabei geduldig und aufmerksam sind, können wir die Menschen durch ihre Schmerzen, Enttäuschungen, Fragen und Ängste hindurch begleiten und zu einer verbindlichen Zugehörigkeit zur Ortsgemeinde führen. Das Ziel dabei ist nicht, eine Debatte zu gewinnen, sondern die Person auf praktische Weise in Wort und Tat zu lieben, bis der Herr Licht und Liebe schenkt.

6. Ermutige Besucher, Teil einer anderen Gemeinde zu werden

Schließlich müssen wir uns vor Augen halten, dass der Herr andere treue Gemeinden hat. Wir sollten uns über diese Tatsache freuen. Wir stehen nicht in Konkurrenz zu diesen Gemeinden, sondern sind mit ihnen im Evangelium verbunden.

„Besucher auf dem Weg zur verbindlichen Zugehörigkeit zur Gemeinde zu begleiten, ist eine ganz praktische Gelegenheit zu lieben – und ein wichtiger Teil unseres Dienstes.“
 

Bisweilen treffen wir vielleicht auf einen Besucher, dessen Einwände gegen die Zugehörigkeit zu unserer Gemeinde unüberwindbar scheinen. Vielleicht ist er in einer wichtigen Lehre oder Praxis anderer Meinung als wir. Vielleicht wohnt die Person auch näher an einer anderen Gemeinde und kann sich dort aktiver einbringen. In diesen Fällen kann es notwendig sein, diesem Menschen zu helfen, sich einer anderen Gemeinde anzuschließen, damit er dort Mitglied werden kann.

Das kann für manche sehr emotional sein – in erster Linie für jene, die eine Bindung an eine Gemeinde entwickelt haben, aber nie verbindlich Teil geworden sind. In solchen Situationen ist seelsorgerliche Geduld und Einfühlungsvermögen gefragt, aber wir tun dies zum Wohle des Besuchers und im Hinblick dessen, was Gott von der Person verlangt und was bei Weitem besser ist: eine aktive Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde. Wir versuchen, das Evangelium zu fördern, nicht unsere eigenen Gemeinden. Wir versuchen, Gläubige wachsen zu lassen, nicht unsere eigenen Mitgliederlisten. Manchmal bedeutet das, dass wir Geschwistern helfen, sich anderswo anzuschließen, während wir weiterhin die Herde hüten, die Gott uns anvertraut hat (vgl. 1Petr 5,1–4).

Fazit

Wir können schnell irritiert sein von Gläubigen, die zwar die Gemeinde besuchen, aber scheinbar nie offiziell dazugehören möchten. Wir können frustriert sein, wenn Dinge, die für uns grundlegend erscheinen, von anderen vernachlässigt werden, doch wir müssen unser Herz vor Ungeduld und Selbstgerechtigkeit hüten. Den Großteil unserer Zeit widmen wir zwar unseren Mitgliedern, weil wir in höherem Maße für sie verantwortlich sind, aber auch die Besucher unserer Gemeinde sind auf unseren Dienst angewiesen. Besucher auf dem Weg zur verbindlichen Zugehörigkeit zur Gemeinde zu begleiten, ist eine ganz praktische Gelegenheit zu lieben – und ein wichtiger Teil unseres Dienstes.