Genesis in Raum und Zeit

Rezension von Andreas Münch
5. Januar 2023 — 11 Min Lesedauer

Keine Frage wird von uns Menschen so dringend gestellt wie die nach unserer Herkunft und damit nach dem Sinn des Lebens. Sind wir und die Welt um uns herum nur ein Produkt des Zufalls oder verdanken wir unsere Existenz einem Schöpfer?

Warum ist unsere Welt so, wie sie ist? – Einerseits faszinierend schön, andererseits extrem brutal. Warum ist der Mensch sowohl zu radikalen Taten der Liebe als auch zu unvorstellbarer Grausamkeit fähig? Und, um eine andere, aktuellere Frage aufzugreifen: Hat der Mensch durch seinen Umgang mit der Erde seinen eigenen Untergang eingeläutet?

Solche Fragen werden immer wieder gestellt und verlangen nach einer Antwort. In seinem Buch Genesis in Raum und Zeit beantwortet der Theologe und Apologet Francis A. Schaeffer (1912–1984) diese und ähnliche Fragen anhand der ersten elf Kapitel der Bibel, der sogenannten Urgeschichte.

Kompakt und damals wie heute relevant

Schaeffer veröffentlichte das Buch 1972, aber seine Ausführungen haben nichts an Aktualität verloren. Die Grundaussagen der Bibel gelten für alle Generationen, auch wenn inzwischen – 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches – sogar einige evangelikale Bildungseinrichtungen die Historizität der biblischen Urgeschichte leugnen.

Umso hilfreicher und wichtiger ist Schaeffers gründliche, aber leicht verständliche Auslegung von 1. Mose 1–11.

Schaeffer verliert sich auf den knapp 120 Seiten des Buches nicht in Details, sondern behandelt die wichtigsten theologischen Themen der Urgeschichte. Dabei behält er stets den modernen Leser mit seinen Fragen und Bedürfnissen im Blick. Auch wenn er nicht für ein theologisches Fachpublikum schreibt, können auch ausgebildete Theologen hier noch Neues entdecken, denn Schaeffer schreibt eher als Philosoph und weniger als Exeget. Das Buch ist in 8 Kapitel unterteilt, die sich mit der Schöpfung des Menschen sowie seiner Beziehung zu Gott, zu seinen Mitmenschen und zu der übrigen Schöpfung befassen.

Die Schöpfung

Anstatt mit 1. Mose 1 beginnt Schaeffer seine Ausführungen mit Psalm 136, einem Loblied auf die Schöpfung. Er schlussfolgert:

„Psalm 136 zeigt uns auf diese Weise das biblische Konzept der Schöpfung als einer Tatsache der Geschichte in Raum und Zeit, denn wir finden hier eine völlige Parallelität zwischen der Schöpfung und anderen Abschnitten der Geschichte: den geschichtlichen Ereignissen in Raum und Zeit während der Gefangenschaft der Juden in Ägypten, in der Zeit, als der Psalm geschrieben wurde, und in unserer eigenen Zeit, wenn wir den Psalm heute lesen. Nach Auffassung der ganzen Schrift, nicht nur dieses einen Psalmes, ist die Schöpfung ebenso reale Geschichte wie die Geschichte des Judenvolkes und unser eigener Zeitabschnitt.“ (S. 8–9)

Schaeffer befasst sich dann mit dem biblischen Text und stellt zunächst die Frage, was vor dem Anfang unseres Universums war. Tatsache ist, dass jetzt etwas da ist! Auf die Frage, woher es kommt, gibt es seiner Meinung nach nur wenige Antwortmöglichkeiten: ein unpersönlicher Anfang, ein persönlicher Anfang oder ein ewiger Dualismus. Schaeffer spielt diese Gedanken durch und kommt zu dem Schluss, dass am meisten für die jüdisch-christliche Sicht eines persönlichen Schöpfergottes spricht, wie wir sie in der Bibel lesen.

„Der Schöpfer hat sich uns so mitgeteilt, dass wir ihn verstehen können. Es findet eine tatsächliche Kommunikation statt.“
 

In 1. Mose 1,26 („Laßt uns Menschen machen“) sieht Schaeffer einen ersten Hinweis auf die Lehre der Dreieinigkeit Gottes, wie sie sich im Laufe der Bibel weiter entfaltet. Schaeffer betont, wie wichtig dieser Aspekt ist, da er bedeutet, dass Liebe und Kommunikation innerhalb der Dreieinigkeit bereits vor der Erschaffung des Universums existierten und daher wesensmäßig zu uns Menschen gehören:

„Und deshalb können die Christen dem modernen Menschen, wenn er (wie das so oft geschieht) nach Liebe und Kommunikation schreit, eine Antwort geben: Liebe hat Geltung und Kommunikation hat Geltung, weil beide in dem verwurzelt sind, das immer schon wesensmäßig da war.“ (S. 17)

Differenzierung der Schöpfung und Erschaffung des Menschen

Im 2. Kapitel befasst sich Schaeffer konkret mit der Schöpfung des Menschen sowie mit den Fragen, die damit zusammenhängen.

Zunächst geht er auf die Frage ein, ob wir überhaupt sinnvoll über die Schöpfung sprechen können, da es sich um Ereignisse handelt, die in der fernen Vergangenheit liegen und von keinem Menschen selbst beobachtet werden konnten. Schaeffer argumentiert, dass der biblische Schöpfungsbericht die Offenbarung Gottes an uns ist. Der Schöpfer hat sich uns so mitgeteilt, dass wir ihn verstehen können. Es findet eine tatsächliche Kommunikation statt.

„Als Christen behaupten wir, dass die Bibel, sofern alle Fakten angemessen berücksichtigt werden, uns wahres Wissen, jedoch nicht erschöpfendes Wissen vermittelt … Was uns die Bibel sagt, ist logisch verständliche, faktische Wahrheit, aber immer mit Bezug auf den Menschen. Sie ist insofern ein naturwissenschaftliches Textbuch, als ihre Aussagen über den Kosmos wahr sind, wahr im Sinne der klassischen Logik.“ (S. 24–25)

Schaeffer hat damit die Grundlage für die weitere Diskussion gelegt. Ja, die biblischen Aussagen zur Urgeschichte berichten uns faktische Wahrheiten, was allerdings nicht heißt, dass alles wörtlich – im buchstäblichen Sinn – verstanden werden muss oder darf (z.B. zeigt Schaeffer bei der Frage, wie das Wort „Tag“ in 1. Mose 1 zu verstehen ist, dass es mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt).

„Aus dem biblischen Gesamtzusammenhang heraus ist Schaeffer überzeugt, dass Adam und Eva als historische Personen verstanden werden wollen, so wie Abraham oder Mose.“
 

Aus dem biblischen Gesamtzusammenhang heraus ist Schaeffer überzeugt, dass Adam und Eva als historische Personen verstanden werden wollen, so wie Abraham oder Mose. Der Mensch ist als Mann und Frau nach dem Bilde Gottes geschaffen. Schaeffer schlussfolgert:

„Der Unterschied des Menschen zur Maschine liegt darin, daß der Mensch wesensmäßig nach oben statt nach unten oder horizontal orientiert ist. Er ist für die Gemeinschaft mit Gott geschaffen, wie dies für kein anderes erschaffenes Wesen zutrifft.“ (S. 35)

Das bedeutet, dass der Mensch die Verantwortung für die Erde übertragen bekommen hat (vgl. S. 36).

Der Sündenfall und seine Folgen

Schaeffer widmet mehrere Kapitel dem Sündenfall und seinen Auswirkungen. Um den Fall wirklich verstehen zu können, müssen wir verstehen, wovon der Mensch eigentlich abgefallen ist. Schaeffer erklärt:

„Er [der Mensch] soll Gott lieben, aber nicht mechanisch, sondern aufgrund seiner freien Entscheidung. Hier steht ein unprogrammiertes Teil der Schöpfung – weder chemisch noch psychologisch programmiert – wahrer Mensch in einer wirklichen Geschichte, ein Wunder inmitten einer Welt von Naturkausalität.“ (S. 52–53)

Anschließend behandelt Schaeffer das Verbot, vom Baum in der Mitte des Gartens zu essen. Über den Eintritt des Bösen in diese Welt schreibt er:

„Gewiß, indem Gott den Menschen auf diese Weise schuf, schuf er auch die Möglichkeit zum Bösen. Doch die bloße Möglichkeit des Bösen ist vom Vollzug des Bösen zu unterscheiden. Und nur indem Gott dem Menschen die Freiheit ließ, sich auch für das Böse zu entscheiden, gab er ihm eine wirkliche Entscheidungsmöglichkeit, machte ihn damit wirklich zu einem Menschen, zu einem Wesen nämlich, das die Geschichte beeinflussen kann. Hätte Gott dem Menschen die freie Wahl vorenthalten, wäre alles Reden vom Menschen als Menschen, d.h. vom Menschen als signifikantes Wesen, nichts als sinnloses Geschwätz.“ (S. 53)

Für Schaeffer ist klar, dass unsere ersten Eltern zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte vor eine konkrete Wahl gestellt und von Gottes Widersacher versucht wurden und dabei eine folgenschwere Entscheidung trafen, die katastrophale Konsequenzen in Raum und Zeit hatte.

Seit dem Sündenfall ist der Mensch ein Rebell, der sich gegen seinen Schöpfer auflehnt und unter dessen Gericht steht. Ein wesentliches Merkmal sieht Schaeffer in der Schuld des Menschen: „Wenn ein Mensch gegen Gott sündigt, hat er nicht nur Schuldgefühle, er ist wirklich schuldig; ja, er ist schuldig, selbst wenn er keine Schuldgefühle hat“ (S. 69).

„Der Mensch steht immer noch da als Abbild Gottes – verzerrt, zerbrochen, abnorm und doch Träger von Gottes Bild. Der Mensch hat nicht aufgehört, Mensch zu sein.“ 
 

Seit dem Sündenfall leben wir nach Schaeffer in einem „abnormalen Universum“, das von Trennungen gekennzeichnet ist. Der Mensch ist sowohl von Gott getrennt als auch von sich selbst und von der Beziehung zu seinen Mitmenschen und schlussendlich von der übrigen Schöpfung, für die er eigentlich sorgen sollte. Schaeffer betont jedoch: „Eines aber hat er nicht verloren: sein Menschsein. Der Mensch steht immer noch da als Abbild Gottes – verzerrt, zerbrochen, abnorm und doch Träger von Gottes Bild. Der Mensch hat nicht aufgehört, Mensch zu sein“ (S. 77).

Die Bibel liefert uns also eine Erklärung für den Ist-Zustand des Menschen: Einerseits ist er zu allem Erstaunlichen fähig, andererseits finden wir hier den Grund, warum der Mensch weder mit sich selbst noch mit seinen Mitmenschen und der Schöpfung in Frieden leben kann.

Die beiden Menschheiten

Die Kapitel 6–8 behandeln die Geschichte nach dem Sündenfall, beginnend mit dem sogenannten Protoevangelium in 1. Mose 3,15 und endend mit der Berufung Abrahams. Schaeffer fasst die weiteren Ereignisse unter der Überschrift „Die beiden Menschheiten“ zusammen, weil diese Unterscheidung den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte bestimmt.

Nach dem Sündenfall spricht Gott das Urteil über den Satan, den Menschen und den Erdboden, gibt dem Menschen jedoch die Hoffnung, dass er selbst errettend eingreifen wird, was sich in Christus erfüllt, „dem zweiten Adam“. Schaeffer erklärt:

„Aufgrund des Falles und unserer eigenen Sünde können wir nicht mehr im Rahmen dieses Bundes [der Werke] zu Gott kommen. Christus aber vollbrachte das erforderliche Werk für uns in seinem stellvertretenden Tod und wurde dadurch der zweite Adam – der zweite Gründer der Menschheit.“ (S. 80)

Auch wenn Christus das geforderte Opfer erst viele Jahrtausende später brachte, wurde sein Werk bereits in 1. Mose 3,15 angekündigt. Von diesem Zeitpunkt an hatte der Mensch die Wahl, Gott und seinen Verheißungen zu glauben oder nicht.

Am Beispiel von Kain und Abel und ihren Nachkommen bis zu Noah und seinen Nachkommen nach der Sintflut zeichnet Schaeffer dieses Konzept der beiden Menschheiten nach. Dass dies keine theoretische Spielerei ist, sondern praktische Bedeutung für uns heute hat, macht Schaeffer nur zu deutlich, wenn er schreibt:

„Der erste Auftrag der Christen ist der, von der Linie Kains auf die Linie Abels zu wechseln; aufgrund des vergossenen Blutes des Lammes Gottes zum ersten Gebot zurückzukehren und Gott zu lieben, die Brüder zu lieben und den Nächsten wie sich selbst zu lieben.“ (S. 91)

Dieser Satz ist typisch für den Autor und sein Anliegen. Genesis in Raum und Zeit ist keine exegetische Auslegung der Urgeschichte, und Schaeffer verliert sich nicht in den Details. Es geht ihm in erster Linie um die theologisch-philosophische Komponente, also um die großen Fragen der Menschheit und welche Antworten uns die Bibel gibt.

Das bedeutet nicht, dass er exegetische Fragen, die sich dem Leser der ersten 11 Kapitel der Bibel aufdrängen, unter den Tisch fallen lässt. So erklärt er etwa überzeugend aus dem biblischen Text, dass die Chronologien nicht lückenlos sind und eine genaue Datierung der Menschheitsgeschichte vor Abraham nicht möglich ist.

Sein Hauptanliegen ist jedoch, dass wir erkennen, wer wir selbst als Menschen sind und warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Deshalb wehrt er sich abschließend auch gegen eine Vergeistlichung der Urgeschichte. Er schlussfolgert:

„Gewisse Leute nehmen an, man könne die Geschichte der ersten elf Genesiskapitel spiritualisieren, ohne daß ein Unterschied entstünde. Sie nehmen an, daß sie die Verläßlichkeit dieser Kapitel in bezug auf Geschichte und Kosmos unbeschadet in Frage stellen können, daß sich damit nichts ändern würde. Es würde aber eben alles ändern. Diese Kapitel enthüllen uns das ‚Warum‘ all der Geschichte, die der Mensch erforscht hat, einschließlich des ‚Warum‘ für die persönliche Geschichte jedes Menschen. Aus diesen Gründen ist 1 Mose 1–11 wichtiger als alles andere, das wir haben könnten.“ (S. 123)

Fazit

Über die ersten Kapitel der Bibel wurden schon viele andere Bücher geschrieben. Dabei hat der interessierte Leser die Wahl zwischen technischen Bibelkommentaren, die sehr ins Detail gehen, und Büchern, bei denen es den Autoren nur darum geht, ihre Sicht der „Schöpfung-Darwin-Debatte“ darzulegen (die oftmals recht polemisch ist). Schaeffer passt in keine dieser Schubladen. Da, wo es angebracht ist, hält er inne und vertieft bestimmte Aspekte, ohne jedoch den Blick für das große Ganze zu verlieren.

Daher ist das Buch meiner Meinung nach sowohl für Christen geeignet, die ihr Bibelwissen auffrischen wollen, als auch für Menschen, die sich für die Antworten auf die großen Fragen des Lebens interessieren, die der christliche Glaube zu bieten hat. Ich würde mir wünschen, dass Genesis in Raum und Zeit wie einige andere Titel von Francis Schaeffer neu aufgelegt wird.

Buch

Francis A. Schaeffer, Genesis in Raum und Zeit: Der Anfang der biblischen Geschichte und seine Bedeutung für unser Welt- und Menschenbild, Wuppertal: R. Brockhaus Verlag/Genf: Haus der Bibel, 1976, 128 Seiten.