
Die Bibel erklärt: Galater
Die Zentralität des Evangeliums für den christlichen Glauben ist über alle Denominationsunterschiede hinweg unstrittig. Dass die frohe Botschaft von Jesus Christus die Grundlage unserer Beziehung zu Gott ist, ist eine der wenigen Aussagen, auf die sich Christen aus allen Kirchen und Gemeinden einigen können. Wenn es nun aber darum geht, dieses Evangelium auch zu definieren – zu sagen, was diese frohe Botschaft im Kern nun wirklich ist –, werden tiefe Gräben im Christentum erkennbar.
Diese beiden Elemente bedingen einander: Gerade weil die grundlegende Qualität des Evangeliums so unstrittig ist, ist seine Definition auch so umkämpft. Beim Evangelium geht es um alles oder nichts. Wer hier in die Irre geht, verfehlt die frohe Botschaft von Jesus Christus.
„Gerade weil die grundlegende Qualität des Evangeliums so unstrittig ist, ist seine Definition auch so umkämpft.“
Ebendieses Problem veranlasste auch den Apostel Paulus, seinen Brief an die Galater zu schreiben. Es ist nicht so, dass die Gemeinden in Galatien die Zentralität des Evangeliums bestritten hätten. Vielmehr begannen falsche Lehrer in diesen Gemeinden, die frohe Botschaft von Jesus Christus zu verkehren. Dies, so schreibt der Apostel Paulus, stellt keine Bereicherung interpretativer Möglichkeiten dar, sondern bedeutet den Verlust des Evangeliums sowie der Gnade Christi:
„Mich wundert, dass ihr euch so schnell abwenden lasst von dem, der euch durch die Gnade des Christus berufen hat, zu einem anderen Evangelium, während es doch kein anderes gibt; nur sind etliche da, die euch verwirren und das Evangelium von Christus verdrehen wollen.“ (Gal 1,6–7)
Paulus schreibt den Galaterbrief, um das „andere“ Evangelium, das in Wahrheit gar kein Evangelium ist, zu entlarven und den Christen in Galatien das wahre Evangelium vor Augen zu führen. Somit ist sein Brief von größter Relevanz für uns. Hier entfaltet der Apostel, was es bedeutet, in Bezug auf das Evangelium nicht in die Irre zu gehen.
Doch was sagt Paulus im Galaterbrief eigentlich darüber, was das Evangelium ist? In seinem kurzen Kommentar zum Galaterbrief entfaltet Timothy Keller die Botschaft des Briefes in Anwendung auf das christliche Leben. Zentral ist dabei die heutige Relevanz der antiken Warnung des Paulus, die frohe Botschaft von Jesus Christus weder durch Werksgerechtigkeit noch durch Freizügigkeit zu verlieren. Keller schreibt programmatisch: „Paulus will, dass die Galater begreifen, dass man zu Christus nichts hinzufügen kann, ohne dabei Christus selbst zu verlieren“ (S. 142; Hervorhebung im Original). Wer das Evangelium ändert – egal in welcher Weise – erschafft ein anderes Evangelium, das in Wahrheit keines ist.
Ausgehend von Galater 1,3–4 beginnt Keller seinen Kommentar daher damit, das paulinische Evangelium zu definieren:
„Gnade sei mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausrette aus dem gegenwärtigen bösen Weltlauf, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters ...”
Keller basiert seine Erklärung auf den hier genannten Personen (vgl. S. 16–18): Wir Menschen haben Jesus Christus als unseren Erretter nötig; Jesus hat uns daher gerettet, indem er sich für unsre Sünden dahingegeben hat, um die Strafe zu bezahlen, die wir hätten tragen müssen; und der Vater nimmt dieses Opfer an zu unserer Begnadigung. Dies alles geschieht nicht durch unser Verdienst, sondern allein auf Grundlage des Willens Gottes, des Vaters.
Mit Bezug auf Galater 1,4 wäre sicherlich noch eine Anmerkung zum Ziel der hier dargestellten Erlösung hilfreich gewesen. Jesus wird hier als der beschrieben, der uns von dieser gegenwärtigen, bösen Welt errettet. Keller notiert später in seinem Kommentar zu Galater 5,1–15, dass Paulus mit den Mächten der Welt die selbsterwählte, geistliche Knechtschaft meint, die der Mensch unter dem Gesetz erfährt (vgl. S. 141). Hier wird die Botschaft des gesamten Briefes daher pointiert vorweggenommen: Christus erlöst uns durch seinen Tod von all dem, was die falschen Lehrer meinen uns auferlegen zu müssen, um zu Gott kommen zu können.
Kellers darauffolgende Auslegung zu Galater 1,6–9 bestimmt den gesamten Kommentar in ihrer Dringlichkeit, auf einem einzigen, wahren Evangelium zu beharren:
„Mich wundert, dass ihr euch so schnell abwenden lasst von dem, der euch durch die Gnade des Christus berufen hat, zu einem anderen Evangelium, während es doch kein anderes gibt; nur sind etliche da, die euch verwirren und das Evangelium von Christus verdrehen wollen. Aber selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch etwas anderes als Evangelium verkündigen würden als das, was wir euch verkündigt haben, der sei verflucht! Wie wir es zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wiederum: Wenn jemand euch etwas anderes als Evangelium verkündigt als das, welches ihr empfangen habt, der sei verflucht!”
Im Hintergrund dieser Verse liegt, wie Keller im Rest seiner Auslegung darstellt, der Versuch der falschen Lehrer, die heidenchristlichen Galater davon zu überzeugen, das mosaische Gesetz der Torah einzuhalten, das Speisegebote und z.B. die Beschneidung vorschreibt, um Gott gefallen zu können. Diese Lehre pervertiert jedoch das Evangelium der unverdienten Gnade Gottes in Jesus Christus, da sie fordert, dass man dieser Gnade etwas hinzufügen muss – das Halten der Gebote –, um vor Gott besser dazustehen. Keller findet deutliche Worte: „Wer das Evangelium auch nur ein kleines bisschen verändert, verliert es so vollständig, dass die neue Lehre kein Recht auf die Bezeichnung ‚Evangelium‘ hat.“ Es gibt kein „Mittelding zwischen der Gerechtigkeit durch Christus und der Gerechtigkeit aufgrund unserer Werke“ (S. 19–20).
Doch wie kann dieses „Gnade Christi plus das und das“ heute aussehen? Keller macht drei wichtige Beobachtungen:
- Gemeinden können lehren, dass nur Christen mit einem besonders starken Glauben vor Gott bestehen können, obwohl es doch auf das Objekt unseres Glaubens ankommt.
- Gemeinden können lehren, dass Menschen, die ein vorbildliches Leben führen, von Gott gerettet werden – egal was sie glauben.
- Gemeinden können lehren, dass echte Christen bestimmte Regeln in Bezug auf Kleidung oder Essen einhalten müssen, um wahre Christen zu sein.
Der Rest von Kellers Kommentar entfaltet, wie diese Vorstellung der Unabdingbarkeit des Widerstands gegen die Veränderung des Evangeliums von der Gnade Christi den gesamten Brief des Paulus an die Galater durchzieht. Die frohe Botschaft von Christus erlöst Menschen wie Paulus und uns (vgl. Gal 1,10–24), sie stiftet Einheit unter den Christen (vgl. Gal 2,1–10), sie ist die Grundlage für das christliche Verhalten (vgl. Gal 2,11–21), sie schafft geistliches Wachstum (vgl. Gal 3,1–14), sie ist die logische Folge des Gesetzes Gottes, das uns unsere Erlösungsbedürftigkeit aufzeigt (vgl. Gal 3,15–25), und sie macht uns zu Kindern und Erben Gottes (vgl. Gal 3,26–4,7), sie ist unvereinbar mit dem Versuch sich selbst zu erlösen (vgl. Gal 4,8–5,15), sie schafft in uns das Verlangen, Gott zu gefallen (vgl. Gal 5,16–25), und sie erlöst unsere Beziehungen (vgl. Gal 6,1–18).
„Auch unsere Generation darf das Evangelium nicht durch Hinzufügungen verlieren.“
Kurzum: Das Evangelium ist nicht bloß der Anfang des christlichen Lebens, sondern bestimmt jeden Aspekt davon. Gerade deshalb ist es so wichtig, das Evangelium nicht durch Veränderungen zu verlieren. Es ist genau dieser Punkt, der Kellers Galater-Auslegung so hilfreich macht. Protestanten betrachten das Evangelium zu oft als Aspekt ihrer Vergangenheit: Jesu Erlösungswerk hat uns einmal von unseren Sünden befreit, doch nun müssen wir aus eigener Kraft vor Gott bestehen. Eine solche Art zu denken ist in doppelter Hinsicht problematisch. Sie beraubt uns nicht bloß der Erkenntnis, dass Christus uns fortwährend von dieser gegenwärtigen, bösen Welt errettet, sie fügt auch etwas zum Evangelium der Gnade Gottes in Christus hinzu. Es ist genau diese menschliche Tendenz zur Selbsterlösung, die Keller durch seinen gesamten Kommentar hinweg präzise benennt und mit der paulinischen frohen Botschaft von Jesus Christus konfrontiert.
Das Buch ist daher für jeden zu empfehlen, der zwischen den verschiedenen christlichen Ansprüchen, das Evangelium definieren zu können, eine Stimme sucht, die das Evangelium aus einem zentralen Text der Bibel selbst entfaltet. Keller versteht wohl, dass die antike Debatte über die frohe Botschaft in Galatien auch heute noch von größter Relevanz ist. Auch unsere Generation darf das Evangelium nicht durch Hinzufügungen verlieren.
Buch
Timothy Keller, Die Bibel erklärt: Galater (Kommentar), Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, 208 Seiten, ca. 16,90 Euro.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.