Lilias Trotter
Ein faszinierendes Leben der Nachfolge
Es ist stickig und heiß in den engen Gassen von Algier. Die Luft ist erfüllt von süßlichem Geruch. Überall liegt Müll. Streunende Hunde wühlen darin. Kinder spielen Fangen und Frauen tuscheln verschleiert in manchen Ecken der großen Hauptstadt Algeriens im Jahr 1888.
In einem kleinen Hinterhof sitzt eine Gruppe Frauen und Kinder um eine einzelne Frau, die so gar nicht hierhin zu passen scheint. Sie ist groß und schlank und hat einen amüsanten englischen Akzent in ihrem noch holprigen Arabisch. Sie versorgt kleinere Wunden der Kinder, verteilt Medizin und spricht von einem Gott, der sie alle liebt. Dabei leuchten ihre Augen vor lauter Zuneigung. Und währenddessen flüstern die zuhörenden Frauen einander zu: „Noch nie hat uns jemand so sehr geliebt.“
125 Jahre später, kurz vor meiner eigenen Ausreise in die Mission, machte Gott mir das Geschenk der Bekanntschaft mit dieser Frau. Seitdem hat sie einen prägenden Einfluss auf mein Leben. Sie zu entdecken war, wie einen kostbaren Schatz zu heben, von dem kaum einer weiß. Um dies zu ändern, möchte ich heute von ihr erzählen, in der Hoffnung, dass sie für euch ebenso zu einer Fundgrube der Ermutigung und Inspiration wird.
„Gott ruft mich!“
Ihr Name war Isabella Lilias Trotter. Sie wurde 1853 als siebtes Kind eines wohlhabenden Geschäftsmannes in London geboren. Sie war ein anmutiges, schlankes Mädchen mit braunen Augen, besaß einen scharfen Verstand und eine ausgeprägte künstlerische Gabe. Es wird auch berichtet, dass sie bereits als Kind ihr Leben dem Herrn Jesus gab.
Mit 23 Jahren traf sie in Venedig auf den bekannten Kunstkritiker und Philosophen John Ruskin, der ihre künstlerische Begabung erkannte und ihr Malstunden gab. „Sie schien alles in einem einzigen Augenblick zu erfassen, sobald man es ihr zeigte. Und jedes Mal verstand sie noch viel mehr, als man sie eigentlich gelehrt hatte“, schrieb Ruskin. Er sagte ihr eine große künstlerische Karriere voraus. Sie könnte eine der größten Malerinnen ihrer Zeit werden.
Aber Lilias’ Herz war nicht bei der Malerei; sie hatte sich selbst, ihre Begabungen und ihr ganzes Leben Gott zur Verfügung gestellt. Sie merkte schnell, dass nur eine Sache den ersten Platz in ihrem Leben einnehmen konnte: entweder Gottes Reich oder die Kunst. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie entschied sich entschlossen für das Erstere.
„Sie merkte schnell, dass nur eine Sache den ersten Platz in ihrem Leben einnehmen konnte: entweder Gottes Reich oder die Kunst.“
Während einer Missionskonferenz, an der sie teilnahm, rief der Redner: „Ist irgendjemand in diesem Raum, den Gott nach Algerien ruft?“ Lilias stand auf und sagte: „Gott ruft mich!“ Sie bewarb sich bei zwei Missionsgesellschaften, doch wurde jedes Mal abgelehnt. Der Grund dafür war ihr schwaches Herz, das wohl für das extreme Klima in Nordafrika nicht geeignet war. Allerdings war sich Lilias ihrer Berufung so sicher, dass sie sich nicht davon abbringen ließ. So betrat sie 1888 das Schiff, welches sie und zwei weitere ledige Frauen nach Algerien brachte. Im festen Vertrauen auf Gottes Auftrag war sie unabhängig von einer Organisation losgezogen.
Was sie in den folgenden 40 Jahren ihres Dienstes in Algerien erlebte, hielt sie in ihren Tagebüchern fest. Diese sind kunstvoll geschmückt mit vielen Aquarellen, die Landschaft und Menschen in einer unwahrscheinlichen Lebendigkeit darstellen und Lilias’ Liebe zu ihnen offenbaren.
Gott ruft in den Kampf
Obwohl Lilias zu Beginn ihres Dienstes kaum Arabisch sprach, brachte die Liebe zu den Menschen sie dazu, die schmutzigen, engen Gassen Algiers zu besuchen – Gegenden, in denen vermutlich kein Ausländer je gewesen war. Hier und da wurde sie eingeladen und von den Frauen und Kindern bestaunt – vor allem wegen ihrer Liebe und Wertschätzung, die sie jedem erwies. Dies war ein viel größeres Geschenk an die Menschen als all die Medizin, die sie ihnen mitbrachte.
Lilias und ihre Missionskollegin, mit der sie in das arabische Viertel gezogen war, hatten stets ein offenes Haus für die Menschen. Immer wieder nahmen sie Kinder auf und erzählten ihnen von Jesus. Doch es war ein mühsamer Dienst, der nach menschlichem Ermessen kaum Erfolg zeigte. Bei vielen Kindern konnten sie nur im Vorübergehen einen Samen aussäen. Sie mussten lernen, es völlig Gott zu überlassen, was dabei herauskam. Manche geistlich offenen Kinder, die sie geliebt und für die sie viel gebetet hatten, waren plötzlich verschwunden und tauchten nicht wieder auf.
Es war mehr als offensichtlich, dass sie sich in geistlichem Feindesland befanden. Über Lilias’ Bett hing eine Karte Algeriens, vor der sie stundenlang für die vielen Städte und Dörfer dieses weiten Landes betete.
Ein Bericht aus Lilias’ Tagebuch hat mich in unserem Missionsdienst in Albanien immer wieder ermutigt:
„Eine Biene tröstete mich heute Morgen sehr, betreffend der Unbeständigkeit (Flüchtigkeit, Schwachheit, Planlosigkeit), die mir in unserer Arbeit zu schaffen macht. Es scheint so unendlich viel zu tun, dass nichts davon gründlich getan wird. Wenn unsere medizinische oder bildende Arbeit nur konzentrierter geschähe, gäbe es weniger davon. Aber wir scheinen die Seelen nur zu berühren, um sie dann wieder gehen zu lassen.
Doch genau das ist, was auch die Biene tat – bildlich gesprochen. Sie schwebte zwischen einigen Brombeerbüschen, berührte die Blüten nur hier und da in einer sehr unkoordinierten Weise, und doch hinterließ sie dabei Leben! – völlig unbewusst und bei jeder ihrer Berührungen. … Wir müssen nur darauf achten, dass wir, ähnlich wie die Biene, mit möglichem Leben beladen sind. Denn Gott ist es, der unserer Arbeit Ewigkeitswert gibt. Und doch gebraucht er dazu wandernde, ziellose Bienen.“
Bereit, sich völlig hinzugeben
Eines ihrer vielen Bilder zeigt eine Pusteblume, bei der einige Samen dabei sind, fortzusegeln. Das Bild trägt die Aufschrift: „Ich bin jetzt bereit, mich hinzugeben.“ Und daneben stehen diese Worte:
„Miss dein Leben nach dem Verlust, nicht nach dem Gewinn. Nicht nach dem getrunkenen, sondern dem ausgeschenkten Wein. Denn die Stärke der Liebe liegt im Opfer der Liebe, und wer am meisten leidet, hat am meisten zu geben.“
„Durch ihre einfühlsame und liebevolle Art fand sie Zugang und konnte Gottes Wort aussäen. So kam sie mit vielen Menschen zusammen, und Gott allein weiß, welchen Einfluss sie auf die Herzen der Einzelnen hatte.“
Lilias’ Beständigkeit, ihre Beharrlichkeit und ihre große Hingabe ließen ihren Dienst wachsen, sodass immer mehr Mitarbeiter hinzukamen. Sie selbst zog es immer weiter ins Landesinnere. Sie nahm beschwerliche Reisen auf sich, um auch diejenigen zu erreichen, die hinter dem Horizont in der glühenden Hitze lebten. Besondere Liebe empfand sie zu den Sufis – einer mystischen Strömung unter den Muslimen. In ihnen erkannte sie Menschen, die wahrhaftig nach Gott suchten. Durch ihre einfühlsame und liebevolle Art fand sie Zugang und konnte Gottes Wort aussäen. So kam sie mit vielen Menschen zusammen, und Gott allein weiß, welchen Einfluss sie auf die Herzen der Einzelnen hatte. Auch ihre künstlerische Gabe half ihr dabei, indem sie viele kleine Broschüren verfasste, die biblische Geschichten in ansprechender Weise verpackten und Wahrheiten veranschaulichten.
Aus Lilias’ Arbeit entstand die Missionsgesellschaft Algiers Mission Band, die sich später mit den Arab World Ministries verband und bis heute existiert. Lilias Trotter starb nach einem erfüllten Leben im Jahr 1928.
Was mich an Lilias Trotter am meisten fasziniert
1. Absolute Hingabe an Jesus
Lilias hätte ein anderes, angenehmeres Leben führen können, als Teil der Elite ihres Landes unter begnadeten Malern und Denkern. (Es wird behauptet, dass John Ruskin, einer der größten Künstler ihrer Zeit, sogar um ihre Hand angehalten habe.) Doch stattdessen wählte sie ein anderes Leben. Sie entschied sich gegen den Luxus klimatisierter Räume und schicker Kleidung und wählte ein Leben in unerträglicher Hitze, mit Räumen ohne Strom und Licht und mit ständig staubiger Kleidung. Ihr Leben war ein Leben voller Entbehrungen, vieler Schwierigkeiten und Dreck. Sie zog dem adretten London das staubige Algier in der Wüste vor.
„Sie entschied sich gegen den Luxus klimatisierter Räume und schicker Kleidung und wählte ein Leben in unerträglicher Hitze, mit Räumen ohne Strom und Licht und mit ständig staubiger Kleidung.“
Aber warum? Warum gab sie ihre Karriere auf, bevor sie überhaupt begann? Warum widmete sie ihr Leben nicht der Begabung, die sie von Gott erhalten hatte, zu einem Leben als Künstlerin? Sie tat es aus Liebe und Hingabe zu Jesus! Sie folgte seinem persönlichen Ruf. Nichts und niemand konnte sie davon abhalten, das zu tun, was sie als den Auftrag Jesu für sich sah. Kein noch so bekannter Maler, keine Missionsgesellschaft, nichts. Das beeindruckt mich zutiefst.
Und das Schöne ist, dass Gott selbst ihre künstlerische Begabung auf wundervolle Weise zu seiner Verherrlichung benutzt hat und damit auch heute noch viele Menschen segnet.
2. Liebe zu den Benachteiligten und Verlorenen
Noch während ihrer Zeit in London kümmerte Lilias sich intensiv um Obdachlose und Prostituierte. Sie verbrachte viel Zeit mit ihnen und scheute sich nicht, mit diesen „Ausgestoßenen“ der damaligen Gesellschaft in Berührung zu kommen. All das als Dame aus „gutem Hause“.
In Algier angekommen, zog dieselbe Liebe sie hinaus aus dem sicheren französischen Viertel und hin zu den „Einheimischen“, um mitten unter ihnen zu wohnen. Die Lebensbedingungen waren dort schwerer, aber ihr Herz war glücklich. Es kam oft vor, dass ihr Haus überschwemmt war, von Ratten befallen oder in einem solchen Zustand, dass sie keinem westlichen Besucher zumuten konnte, dort zu übernachten. Doch die vielen Frauen und Kinder, die bei ihr ein und aus gingen, stellten immer wieder fest: „Niemand hat uns jemals so sehr geliebt!“
Ich wünsche mir eine ebenso große Liebe zu den Menschen um mich her, die Gott geschaffen hat. Eine Liebe, die mich antreibt hinauszugehen, Grenzen zu überwinden und neues Land für Gott einzunehmen. Ich wünsche mir, dass Menschen nach der Begegnung mit mir vor allem von einem berührt sind: von der Liebe, die ich zu ihnen habe. Denn kann es ein besseres Zeugnis für unseren liebevollen Herrn Jesus geben, der alles – sogar sein Leben – gegeben hat, damit wir durch seine Armut reich werden?
3. Durchhaltevermögen trotz Schwierigkeiten
Lilias’ Leben und ihr Dienst waren von vielen Rückschlägen und Herausforderungen geprägt. Ihre physischen Einschränkungen zwangen sie fast jährlich dazu, nach England zu reisen, um sich auszuruhen und zu stärken. Doch sie kehrte immer wieder nach Algerien zurück. Ihre angeborene Herzschwäche wurde durch die Kraft ihres liebenden, geistlichen Herzens überwunden. Sie investierte unermüdlich in Menschen, auch wenn viele von ihnen nur für kurze Augenblicke in ihr Leben traten. Vor allem hielt sie an Gottes Verheißung fest, dass er sein Reich baut und das gute Werk vollendet – auch dann, wenn sie erleben musste, dass selbst die hilfreichsten Mitarbeiter der Mission völlig unerwartet in ihr altes Leben zurückkehrten. Sie hielt stets Ausschau nach dem Licht in der Finsternis. Und sie lernte, im Gebet zu ringen und betend darauf zu warten, dass Gott eingreift. Bei allen Entmutigungen, die ihr begegneten, behielt Lilias den Blick immer auf Gott gerichtet. So entstand auch der bekannte, von ihr verfasste Liedtext „Turn your eyes upon Jesus“.
4. Das Kleine, Unscheinbare und Schöne sehen
Im Buch Prediger steht, dass es eine Gabe Gottes ist, das Schöne sehen zu können. Diese Gabe war Lilias auf außerordentliche Weise gegeben. Sie sah die Welt um sich herum tatsächlich. Ihre Augen schienen stets auf der Suche zu sein nach den kleinen und schönen Dingen im Leben; Blumen, die alle übersahen oder als alltäglich empfanden, wurden von Lilias detailgetreu gemalt und wertgeschätzt. Oft sprach Gott auf diese Weise zu ihrem offenen Herzen. Häufig waren es Gleichnisse aus der Natur, die sie ermutigten und ihr geistliche Wahrheiten offenbarten.
Sie war sehr dankbar, dass Gott sie in ein so schönes Land wie Algerien geschickt hatte. Ihr Skizzenbuch muss ihr ständiger Begleiter gewesen sein. Bei all den Schwierigkeiten half ihr positiver Blick auf Gottes Welt ihr, erfrischte ihre Seele und richtete sie immer wieder auf den Schöpfer dieser Schönheit aus. Auch ich wünsche mir einen stärkeren Blick für Unscheinbares – Augen, die wirklich noch Gottes Güte im Kleinen sehen: in der Welt um mich her, in meinen Nächsten. Augen, die hinter den Dingen das große Ganze sehen und mich auf meinem Weg mit Jesus ermutigen.
Lilias sah die Welt nicht nur mit ihren Augen, sondern vor allem mit ihrem Herzen.
5. Ihre wunderschönen Bilder und tiefsinnigen Gedanken
Lilias’ Malbegabung war außergewöhnlich! Ihre Aquarelle mit Landschaften, Bäumen, Blumen, Sonnenauf- und Sonnenuntergängen sind wunderschön. Die Tiere und Menschen in Farben, die ineinanderfließen und doch so tragend und schön und klar leuchten. Doch auch ihre Gabe, Wahrheiten auf poetische Art auszudrücken, ist einzigartig. In wenigen Worten und auf einfache Weise bringt sie es fertig, große Geheimnisse und Wahrheiten zu beschreiben. Wie ihre Bilder, so besitzen auch ihre Texte eine Tiefe und Weisheit, die mich fasziniert. Hier zwei schöne Beispiele:
„Schauen wir uns die Butterblume in der Reifezeit an. Die Kelchblätter haben sich bis zum Äußersten geöffnet. Sie haben sich ganz und gar zurückgefaltet, alle Kraft verloren, sich jemals wieder um die inneren Blütenblätter schließen zu können. Sie lassen den goldenen Kronen völlige Freiheit als Samen davon zu schweben, wenn Gottes Zeit und sein Wind gekommen sind.“
„Die erste Lektion des heutigen Tages war dieser kleine Bergpfad. Ich bin meinem heute Morgen nur ein paar Meter weiter gefolgt und es gab einen solchen Ausbruch von Schönheit. Man kann nie wissen, zu welch unermesslicher Herrlichkeit ein kleiner, bescheidener Pfad führen kann, wenn man ihm nur weit genug folgt.“
Lilias Trotter ist ihrem Pfad treu gefolgt und hat die Herrlichkeit Jesu gesehen – in dieser Welt inmitten von Schwierigkeiten und dort, wo sie jetzt sein darf, in ungetrübter, ewiger Freude.