Die wichtigste Frage überhaupt
In der Geschichte des Christentums ist die Rechtfertigungslehre das umstrittenste Thema. Sie war der wesentliche Grund für die protestantische Reformation und damit jener Streitpunkt, der zur folgenreichsten Zersplitterung in der Geschichte der christlichen Kirche führte. Die Diskussionen, die die Rechtfertigungslehre im 16. Jahrhundert auslöste, drehten sich nicht um nebensächliche theologische Feinheiten. Sowohl die römisch-katholische Kirche als auch die protestantischen Reformatoren erkannten, dass in diesem Streit nichts weniger als das Evangelium selbst auf dem Spiel stand. Als die Vertreter der römisch-katholischen Kirche beim Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts die reformatorische Rechtfertigungslehre durch Glauben allein verurteilten und mit dem Kirchenbann belegten, taten sie dies nicht mit der Absicht, das Evangelium mit dem Bann zu belegen. Wenn die Reformatoren aber recht hatten, dann hat die römisch-katholische Kirche jedoch genau das getan und sich damit selbst mit einem Bann belegt.
Eine lange Geschichte
Luther legte im 16. Jahrhundert dar, dass die Lehre der Rechtfertigung allein durch Glauben die entscheidende Frage ist, mit der die Kirche steht und fällt. Calvin drückte dasselbe mit anderen Worten aus, als er sie als „Dreh- und Angelpunkt von allem“ bezeichnete. Als Luther einmal mit Erasmus von Rotterdam in eine Diskussion verwickelt war, widersprach dieser und stellte Luthers Position infrage. Luther dankte Erasmus dafür, dass er ihn nicht wegen Nebensächlichkeiten angriff. Er drückte seine Anerkennung dafür aus, dass ihre Diskussion das Herzstück der Kirche selbst betraf. Wenn Luthers Einschätzung richtig und Rechtfertigung die Angelegenheit ist, mit der die Kirche steht oder fällt, dann folgt daraus, dass Rechtfertigung auch die Angelegenheit ist, mit der wir als Individuen stehen oder fallen.
„Wenn Luthers Einschätzung richtig und Rechtfertigung die Angelegenheit ist, mit der die Kirche steht oder fällt, dann folgt daraus, dass Rechtfertigung auch die Angelegenheit ist, mit der wir als Individuen stehen oder fallen.“
Rechtfertigung hat mit Gottes Rechtschaffenheit (im Sinne von moralischer Lauterkeit und Aufrichtigkeit, Anm. d. Red.) und Gerechtigkeit (im Sinne der fairen Rechtsprechung, Anm. d. Red.) zu tun. In der Bibel wird Gerechtigkeit immer in Verbindung mit Rechtschaffenheit definiert. Wann immer jemand als gerecht bezeichnet wird, bedeutet das zugleich auch, dass jemand rechtschaffen ist. Gott ist der absolute Maßstab der Rechtschaffenheit. Als unser Schöpfer ist er auch der höchste, souveräne Richter über Himmel und Erde. Die Bibel gibt eindeutig zu verstehen, dass der Eine, der Richter über alle ist, vollkommen gerecht und rechtschaffen ist.
Dies ist in gewissem Sinn eine sehr gute Nachricht für uns. In einer Welt zu leben, die von einem ungerechten Wesen regiert wird, wäre eine furchtbare Vorstellung. In einer solchen Welt hätten wir keine Hoffnung darauf, dass Gerechtigkeit letztlich triumphieren würde. Darum ist es gut, dass der Herrscher und Richter über alle Dinge gut und rechtschaffen ist.
Andererseits ist es auch eine schlechte Nachricht für uns, denn wir sind weder gerecht noch rechtschaffen. Die Schrift macht klar, dass der gerechte und rechtschaffene Gott einen Tag bestimmt hat, an dem er die Welt richten wird – einschließlich aller unter uns, die nicht gerecht und rechtschaffen sind.
Eine teure Lehre
Heute lehrt, predigt oder spricht man kaum noch über diese Lehre, für die unsere Vorfahren bereit waren zu sterben – und tatsächlich starben viele von ihnen für die Rechtfertigungslehre! Im englischen Oxford wurden Nicholas Ridley und Hugh Latimer im 16. Jahrhundert verbrannt, weil sie ihren Glauben an die reformatorischen Lehren bekannten, einschließlich der Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein. In einer bestimmten Straße in Oxford weist ein kleines Schild auf die Stelle hin, an der sie hingerichtet wurden. Ich beobachtete einmal, wie Leute die Straße überquerten und weder dem Denkmal noch der Gedenktafel Beachtung schenkten. Auch wenn die Menschen sich heute kaum für die Rechtfertigungslehre interessieren, war es diese Lehre, die im 16. Jahrhundert Veränderungen in der ganzen westlichen Welt auslöste.
Das heutige Desinteresse kann teilweise mit unserer Auffassung vom letzten Gericht begründet werden. Die Vorstellung von einem Endgericht, dem alle Menschen unterworfen sind, ist aus unserem Denken und sogar aus den meisten Predigten nahezu verschwunden – trotz der wiederholten Warnungen von Jesus, dass wir alle vor Gott stehen werden und jedes unnütze Wort, das wir aussprechen, gerichtet werden wird.
Ein großes Problem
Das ist unser Dilemma. Wenn Gott alle Menschen nach seinem vollkommenen Maßstab der Rechtschaffenheit richten wird, dann sind diejenigen, die nicht rechtschaffen sind, in ernsten Schwierigkeiten. Der Psalmist fragt: „Wenn du, oh Herr, Sünden anrechnest, Herr, wer kann bestehen?“ (Ps 130,3). Die eindeutige Antwort darauf ist, dass niemand bestehen kann. Wir sind alle schuldig, den Geboten unseres Schöpfers nicht gehorcht zu haben, und eines Tages wird er uns vor seinen Richterstuhl rufen.
„Wir sind alle schuldig, den Geboten unseres Schöpfers nicht gehorcht zu haben, und eines Tages wird er uns vor seinen Richterstuhl rufen.“
Selbst Menschen, die daran glauben, dass es ein Gericht geben wird, denken häufig, dass Gott schon so gütig und barmherzig sein wird, dass er uns unsere Sünden nachsehen und einfach Gnade und Vergebung gewähren wird. Diese Vorstellung ist dem Neuen Testament fremd. Christus und die Apostel warnen ernsthaft davor, dass Gott in seinem irrtumslosen Gericht alle Menschen gemäß ihren Werken richten, die Tadellosen belohnen und die Unredlichen bestrafen wird. Wir können also damit rechnen, eine Belohnung entsprechend unserer Verdienste – oder aber Strafe für unsere Fehler – zu erhalten. Das scheint schön und gut zu sein, allerdings nur so lange, bis wir erkennen, dass alles, was wir Gott am Tag des Gerichts zu bieten haben, unsere Fehler sind.
Der Psalmist stellt fest: „Wo sollte ich hingehen vor deinem Geist, und wo sollte ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf zum Himmel, so bist du da; machte ich das Totenreich zu meinem Lager, siehe, so bist du auch da!“ (Ps 139,7–8), und: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne … ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht völlig wüsstest“ (Vers 2 und 4). Die Bibel offenbart einen allwissenden Gott, der es nicht nötig hat, dass ihm jemand eine Liste von all den Dingen gibt, die wir getan haben. Er weiß bereits alles über unser Leben.
Kein vergesslicher Gott
Wir dürfen uns nicht in die beliebte Auffassung flüchten, dass Gott, wenn er uns unsere Sünden vergibt, diese sozusagen vergisst. Wenn die Bibel sagt, dass Gott unserer Sünden nie mehr gedenken wird, wenn er sie vergibt, bedeutet das nicht, dass sein göttliches Gedächtnis einen Aussetzer hat. Es bedeutet vielmehr, dass er uns das, was wir getan haben, nie mehr vorhalten wird.
„Wenn eine Person vor dem rechtschaffenen Gott schuldig wird, gibt es nichts Wichtigeres, als zu verstehen, wie diese Schuld beseitigt und Gottes Vergebung erlangt werden kann.“
Gottes Vergebung passiert nicht automatisch und allgemein, sondern ist Teil der Rechtfertigung. Wenn eine Person vor dem rechtschaffenen Gott schuldig wird, gibt es nichts Wichtigeres, als zu verstehen, wie diese Schuld beseitigt und Gottes Vergebung erlangt werden kann. Wie kann mir vergeben werden? Wie kann ein ungerechter Mensch in Gottes Augen gerecht gesprochen werden? Es gibt nicht viele Themen in der Theologie, die ernster sind als diese. Die Auseinandersetzung des 16. Jahrhunderts kann mit der Frage zusammengefasst werden: Wie können wir gerettet werden? Wie können wir schuldbefleckten Menschen mit einem heiligen und vollkommenen Gott versöhnt werden? Das ist die wichtigste Frage in unserem ganzen Leben – die Frage nach unserer persönlichen Erlösung.