Worte im Wandel
Gründliche Leser wissen, dass Wörter mit der Zeit oft ihre Bedeutung verändern. In Luthers Septembertestament ist etwa in Lukas 12,53 von einer „Schnur“ die Rede. Dieses Wort bedeutete 1522 jedoch nicht, was es heute bedeutet, sondern meinte damals die Schwiegertochter. Manchmal hat die ältere Bedeutung eines Wortes in einem begrenzten Bereich weiter Bestand, auch wenn die meisten Menschen das Wort ganz anders verwenden. Beispielsweise ist Gottes Gabe (seine Gnade) für die meisten Leser heute nicht „unaussprechlich“, sondern „unbeschreiblich“ (2Kor 9,15). Manchmal kommt es auch nicht durch den zeitlichen Abstand, sondern einen unterschiedlichen Kontext zu einem Bedeutungsunterschied: Der Begriff der „Buße“ bedeutet etwa in der juristischen Fachsprache oder bei Geschwindigkeitsübertretungen auf der Schweizer Autobahn (vgl. Bußgeld) etwas völlig anderes als im Neuen Testament.
All das wissen die meisten Leute. Diese Beispiele sind harmlos, gerade weil der Bedeutungswandel allgemein bekannt oder offensichtlich ist. Eine viel größere Gefahr für das richtige Verstehen sind jene Ausdrücke, deren veränderte Bedeutungen häufig nicht erkannt werden. Hier sind einige von ihnen:
1. Schuld
Der Begriff „Schuld“ bezieht sich manchmal auf ein tatsächliches Verschulden. Seit vielen Jahrzehnten meint man damit jedoch häufiger das „Schuldgefühl“. Unsere Rechtssysteme versuchen, die Schuld oder Unschuld von Angeklagten festzustellen, unabhängig davon, ob diese sich schuldig fühlen. Psychotherapeuten und Sozialarbeiter richten ihre Aufmerksamkeit hingegen oft auf die Schuldgefühle ihrer Klienten und nehmen relativ wenig Notiz davon, ob sie auf realer Schuld beruhen. Wie ich bereits angedeutet habe, ist all dies schon seit Langem bekannt. Wenn Prediger von „stellvertretender Sühne“ sprechen, meinen sie, dass wirklich Schuld vorliegt: Jemand ist schuldig vor Gott und verdient Strafe. Im Fall der stellvertretenden Sühne wird die Schuld von einem anderen bezahlt. Das bedeutet nicht, dass die Last der Schuldgefühle keine Rolle spielt. Sie können das Ergebnis echter Schuld sein. Manchmal jedoch fühlen sich Menschen furchtbar schuldig wegen Dingen, die nichts mit realer Schuld zu tun haben – z.B. wenn eine Frau auf dem Nachhauseweg von der Arbeit sexuell genötigt wird und jahrelang unter Schuldgefühlen (oder Scham – siehe weiter unten) leidet. Betrachten wir biblische Abschnitte über das Kreuz Christi sorgfältig, so erkennen wir, dass sie zu Recht sowohl unsere Schuld als auch unsere Schuldgefühle ansprechen. Die Bemühungen, Schuldgefühle auszulöschen, ohne sich mit der zugrundeliegenden Schuld zu befassen, können dazu führen, dass sich ein Sünder zwar besser fühlt, aber immer noch nicht mit Gott versöhnt ist. Andererseits kann auch das ständige und alleinige Auseinandersetzen mit der Schuld vor Gott dazu führen, dass man die Stellvertretung Christi zwar mit dem Verstand erfasst, aber keinen Trost erlebt.
„Das Evangelium bietet mehr als nur psychologischen Trost.“
All dies ist in evangelikalen und reformierten Kreisen und auch darüber hinaus allgemein bekannt. Ich greife das Thema aber erneut auf, weil ich beobachte, dass der gegenwärtige kulturelle Druck die möglichen Missverständnisse noch verschlimmert und es schwieriger macht, sie auszuräumen. Um sich schuldig zu machen, muss man ein Vergehen begehen – sei es gegen eine andere Person, gegen den Staat (das Gesetz, die Krone oder ähnliches) oder gegen Gott. Einige Vergehen gegen Einzelpersonen (z.B. Diebstahl) können durch Wiedergutmachung (vielleicht mit einem zusätzlichen Prozentsatz, wie im Alten Testament) ausgeglichen werden, andere nicht (z.B. Vergewaltigung). Um einen Sumpf aus subjektivem Recht oder – schlimmer noch – einen Rachefeldzug zu vermeiden, haben die meisten Kulturen traditionell einen Kodex oder eine Gesetzgebung mit den Vergehen und den entsprechenden Strafen für die Schuldigen eingeführt: „Wenn du jemandem die Kuh stiehlst, wird XY mit dir geschehen.“ Auch wenn viele dieser Regeln heute noch gelten, wird in der westlichen Kultur so viel Wert auf das Individuum und seine „Rechte“ gelegt, dass jeden Tag neue Vergehen gegen das Individuum entdeckt (oder erfunden) werden. Woher weiß man, wann tatsächlich ein Vergehen gegen den Einzelnen vorliegt? Wenn er sich beleidigt fühlt? Dadurch besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Schuldigsein nach einer bestimmten Rechtsvorschrift und dem Gefühl, dass die andere Partei schuldig ist, obwohl keine Rechtsvorschrift verletzt wurde.
Ein weiterer Einfluss ist das zunehmende Misstrauen der Gesellschaft gegenüber äußeren Autoritäten, sei es gegenüber Gott, dem Staat oder traditionellen Werten. Das traditionelle Verständnis von Schuld – nämlich tatsächliches Verschulden – setzt im Gegensatz zu Schuldgefühlen, die Autorität eines Gottes oder eines Staates oder eines verabschiedeten Gesetzes voraus, das übertreten werden kann. Wenn ich selbst zur Autorität werde, die über Recht und Unrecht entscheidet, ist es schwer einzusehen, wie es eine Form von Schuld geben kann, die über Schuldgefühle hinausgeht. In diesem Fall bedarf es auch keiner Strafe, um mit dieser Schuld fertig zu werden.
Wir müssen also in unserer Evangelisation Raum dafür lassen, über den zornigen Gott zu sprechen, gegen den gesündigt wurde, und somit über die Natur der Schuld und über Gottes Lösung für diese Schuld. Das Evangelium bietet mehr als nur psychologischen Trost.
2. Scham
Seit mehreren Jahrzehnten weisen Missionare und andere Fachleute darauf hin, dass die westliche Welt ihre Aufmerksamkeit auf die Schuld richtet, während die östliche Welt ihre Aufmerksamkeit auf die Scham richtet. Wenn man in einem östlichen Kontext Christus als denjenigen vorstellt, der sich mit unserer Schuld befasst, wird das Argument nicht so viel Anklang finden, wie das Argument, dass Jesus sich mit unserer Scham befasse.
Jeder, der einige Zeit in Südostasien verbracht hat, weiß, dass an dieser Analyse etwas dran ist. Man könnte noch weiter gehen und sagen, dass unser zunehmendes interkulturelles Bewusstsein in dieser globalen Welt den Christen die Möglichkeit bietet, die Bibel mit neuem Blick zu studieren und zu erkennen, welchen Platz Schuld und Scham jeweils in ihr einnehmen. Schon beim Sündenfall (1Mose 3) tauchen sowohl Schuld als auch Scham auf. Tatsächlich sind sie so miteinander verwoben, dass es manchmal schwierig ist, sie in praktischer Hinsicht zu trennen.
„Wenn sich eine Schamkultur fast ausschließlich auf zwischenmenschliche Beziehungen konzentriert, muss sie erst lernen, wie das Evangelium sich mit unserer Scham befasst.“
Doch so wie es „Schuld“ und „Schuld“ gibt und sich die Bibel dabei auf die Schuld vor Gott konzentriert, wir aber tendenziell eher auf Schuldgefühle, so gibt es auch „Scham“ und „Scham“. Soweit ich sehen kann, sorgen sich die meisten Schamkulturen um den Gesichtsverlust vor Familie und Freunden. Man macht sich Sorgen, etwas zu tun, das Schande über die Familie bringt, den Ruf ruiniert, oder es schwierig macht, den Nachbarn gegenüberzutreten. Die Angst, Schande über sich selbst oder die Familie zu bringen, wird zu einer starken Motivation, sich den akzeptierten Normen anzupassen. Natürlich gibt es sowohl im Osten als auch im Westen Schuld- und Schamgefühle, aber im Osten überwiegt die Bedeutung der Scham.
In der Bibel wird hingegen nicht zuerst die Scham gegenüber Freunden und der Familie betont, sondern gegenüber Gott. Adam verliert sein Gesicht vor Gott und versteckt sich vor ihm im Garten. Unsere tiefste Scham ist also der Gesichtsverlust, den wir vor Gott erleiden, nicht vor unseren Eltern. Da Gott selbst uns sagt, dass wir unsere Eltern ehren sollen, kann die Beschämung unserer Eltern nicht völlig davon getrennt werden, dass wir Gott beschämen. Doch wenn sich eine Schamkultur fast ausschließlich auf zwischenmenschliche Beziehungen konzentriert, muss sie erst lernen, wie das Evangelium sich mit unserer Scham befasst. Anstatt Gott zu verherrlichen, haben wir seinem Namen Schande bereitet. Wir müssen also aufzeigen, dass unsere tiefste Scham uns im Lichte dessen, was die Bibel über Gott sagt, vor dem lebendigen Gott demütigt. Er allein ist es auch, der uns wieder aufrichten kann.
3. Gewissen
Die beste aktuelle Abhandlung über das Gewissen ist zweifellos die von Andy Naselli und J.D. Crowley[1]. Mein Interesse gilt hier jedoch eher einer historischen Betrachtung: Wie verändert sich das Verständnis vom Gewissen mit dem Wandel der Weltanschauung, in die es eingebettet ist?
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts suchte der Brite Richard Hooker (1554–1600) einen Weg zwischen der katholischen Kirchenlehre der Vergangenheit und der von Genf beeinflussten calvinistischen Kirchenlehre. Nach 1588 und der Niederlage der spanischen Armada waren die Gefahren für England von katholischer Seite weitgehend gebannt. Hooker war in großen Teilen nicht mit der Lehre von Trient einverstanden, stand aber den spätmittelalterlichen Theologen offener gegenüber als einige seiner calvinistischen Kollegen. Dies führte zu komplexen Diskussionen über den Nutzen (oder eben die Gefahr) der Gewissensfreiheit. In dieser Zeit legten Kirche und Staat gemeinsam die Normen von Kirchenführung und Gottesdienst fest, welche die herrschenden Mächte des Landes für akzeptabel hielten. Es war also sehr innovativ, zu argumentieren, dass es für die Nation gut sein könnte, eine gewisse Flexibilität zuzulassen, die auf dem Gewissen des einzelnen Gläubigen beruht. Man sollte jedoch bedenken, dass es sich dabei nicht um die Freiheit handelte, wahllos zwischen Gut und Schlecht zu entscheiden. Das individuelle Gewissen war durch die gegebene Offenbarung und damit durch die Autorität Gottes gebunden. Die Frage war nur, wie man diese Offenbarung auslegt. Selbst ein Jahrhundert später, als John Locke (1632–1704) für eine viel weiter gehende Gewissensfreiheit eintrat, war diese in gewisser Weise durch den Bezug auf Gott eingeschränkt.
Im Gegensatz dazu ist die Gewissensfreiheit heute nicht weit von einem Appell entfernt, jeden das tun zu lassen, was in seinen Augen richtig ist. Es gibt keinen ewigen Bezugspunkt, auf den man sich für eine andere Auslegung berufen könnte. Das Gewissen ist individualistisch und selbstbezogen.
4. Toleranz
Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass in der Vergangenheit jede Kultur sowohl Toleranz als auch Intoleranz aufwies. Es mag weniger Toleranz geben, wenn ein Regime eher diktatorisch ist oder wenn die Plausibilitätsstrukturen umfangreich und verschachtelt sind[2]. Jedes Regime lässt jedoch ein gewisses Maß an Dissens zu – vielleicht weil es unmöglich ist, alles zu kontrollieren, vielleicht aus der Überzeugung heraus, dass es für die Gesellschaft gut ist, Meinungsverschiedenheiten zuzulassen oder sogar zu fördern.
„Dieses Emporheben der Toleranz zu einer eigenständigen Tugend ist nicht nur intellektuell verwirrend, sondern auch moralisch verwerflich.“
All dies ist nur eine Umschreibung dafür, dass Toleranz in der Vergangenheit – sei es zur Zeit Tiglath-Pilesers III., zur Zeit Ludwigs XIV., zur Zeit Königin Victorias oder zur Zeit Teddy Roosevelts – eine „parasitäre“ Tugend war. Damit meine ich, dass es sich um eine Tugend handelte, die sich notwendigerweise aus größeren kulturellen Werten und Tugenden speist: Toleranz war immer eine Frage davon, wie viel Abweichung von den kulturellen Normen als gut für die Kultur angesehen werden konnte. Toleranz war weder eine eigenständige Tugend noch ein eigenständiges Laster. Sie wurde immer entweder als eine gute oder zumindest nützliche Abweichung von größeren Normen, oder als eine böse und gefährliche Abweichung von diesen Normen wahrgenommen, aber in jedem Fall hatte sie keine höhere Bedeutung als die Normen, die ihr Gestalt gaben.
Mit dem Ruf nach Toleranz wird heute aber versucht, sie als eigenständige Tugend – vielleicht als die wichtigste Tugend – darzustellen. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass sich dies als intellektuell verwirrend und moralisch verdreht erweist. Es ergibt wenig Sinn, davon zu sprechen, dass man etwas toleriert, solange man nicht die Gegenposition des Tolerierten vertritt. Man kann nicht behaupten, dass ein Christ einen Atheisten toleriert oder umgekehrt, wenn man nicht darlegt, dass die beiden Meinungen nicht Hand in Hand gehen können. Es ist keine Toleranz, wenn man nicht zuerst anderer Meinung ist. Wenn es keine Meinungsverschiedenheit gibt, kann man nicht von Toleranz sprechen – vielleicht von moralischer Gleichgültigkeit oder Unwissenheit über die Position des anderen. Dieses Emporheben der Toleranz zu einer eigenständigen Tugend ist jedoch nicht nur intellektuell verwirrend, sondern auch moralisch verwerflich. Sie erweist sich als in verdrehter Weise intolerant gegenüber denjenigen, die behaupten, bestimmte andere Positionen seien falsch. Im Namen der Toleranz wird diese neue sogenannte Toleranz zur Intoleranz.
Fazit
Aus den vier Beispielen sollte klar geworden sein, dass die dramatischen Bedeutungsunterschiede darauf zurückzuführen sind, dass Gott – oder zumindest ein äußerer Maßstab – aus dem Denken verschwunden ist: Schuld wird besonders leicht zu Schuldgefühlen, wenn es keinen Gott oder kein Gesetz gibt, vor dem wir objektiv schuldig sind. Scham wird zum Gesichtsverlust vor Gleichgesinnten, wenn es keinen Gott gibt, vor dem man sich schämen muss. Gewissensfreiheit verwandelt sich von der Freiheit, Gottes Gebote zu interpretieren in die Erlaubnis, zu tun, was immer ich tun will. Und Toleranz wird entweder zu einem widersprüchlichen Durcheinander oder bestenfalls zu einem schlecht begründeten Appell, nett zu sein.
Gemäß der vorherrschenden Weltanschauung zu denken und zu sprechen, drängt sich uns immer stärker auf.
[1] A. D. Naselli und J.D. Crowley, Conscience: What It Is, How to Train It, and Loving Those Who Different, Wheaton: Crossway, 2016.
[2] Vgl. die Diskussion in meinem Buch The Intolerance of Tolerance, Grand Rapids: Eerdmans, 2012.